Auf dem Weg zu einer kritischen Theorie des Kapitalismus im "postfordistischen" Zeitalter sind nicht nur Antonio Negris und Michaels Hardts Welterfolge Empire und Multitude exemplarisch, sondern auch inzwischen die Studien des italienischen Philosophen Paolo Virno. Er arbeitete nicht nur mit Negri und Lazzarato an einer Theorie "umherschweifender Produzenten" über immaterielle Arbeit und Subversion, sondern auch an der nun vorliegenden Grammatik der Multitude, die die Bandbreite von politischer Philosophie, Sprachphilosophie, philosophischer Anthropologie, Ethik und Epistemologie umfasst. Gewiss, ein hoher Anspruch im Kontext der Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus im Unterschied zur "fordistischen Phase" der Fabrik: "Man wird den Postfordismus nicht verstehen, ohne auf ein et
rstehen, ohne auf ein ethisch-linguistisches konzeptionelles Gerüst zurückzugreifen. So wie, ganz offensichtlich, das progressive Ineinsfallen von Poiesis und Sprache, von Produktion und Kommunikation als ein matter of fact anzusehen ist".Dabei wagt Virno, im Unterschied zu Negri und Hardt, eine anthropologische Perspektive, um die analytischen Potenzen des "general intellects" (Karl Marx aus den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie) für die postfordistische Produktion, die immer mehr zur Kooperation tendiert und das bleierne Mehrwertgesetz des Fordismus tendenziell aufhebt, neu zu konzipieren und zu verallgemeinern. Dieser Unterschied und die außerordentliche interdisziplinäre Vielfalt, die Virno anreißt, verspricht eine Vertiefung des Multitude-Begriffs als Klassenbegriff im gegenwärtigen Kapitalismus. Dabei geht es ihm um die Aufdeckung der Taktik der "List der subversiven Vernunft" (Negri) als Bezug zu einer praktischen Vernunft.Der Begriff Multitude geht auf Spinozas Ethik zurück, der im Unterschied zu Hobbes´ Einheit von "Volk-Staat" die Vielheit, eine Seinslehre des Viel-Seins als Subversion gegen die politische Mechanik des 17. Jahrhunderts - nach dem Dreißigjährigen Krieg - hervorhob. Diese Ethik fand auch im 19. Jahrhundert bei Marx (vor allem in seinen Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten von 1844) ihre genuine Fortsetzung, sofern der Begründer des historischen Materialismus auch "spinozistisch", der Ware Arbeitskraft (dem Industrieproletariat) die historischen Möglichkeiten als Entwicklung des menschlichen Gattungswesens zuschrieb, um den Ausgang aus der "selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Kant) der bürgerlichen Gesellschaft einzuleiten.Virnos zumeist stringente und aufschlussreiche Argumentation erstreckt sich aber auch auf philosophische Felder, die sonst bei Negri und Hardt vernachlässigt sind. Seine Begründung der Multitude referiert zum Beispiel Kants "Analytik des Erhabenen" aus der Kritik der Urteilskraft, die Dialektik von "Furcht und Sicherheit", die zu Martin Heideggers Thematisierung von "Furcht und Angst" in Sein und Zeit (1927) hinführte. Was ist dieses geheimnisvolle Heideggersche "man", fragt sich Virno zu Recht, wenn nicht eine existenzphilosophische Sublimierung des Potentiellen, einer subversiven Öffentlichkeit, die mit der Multitude ihre historische Umgestaltung findet?Virnos Exkurse sind an dieser Stelle philosophisch plausibel, zeitdiagnostisch brillant, argumentationstheoretisch exakt. Er zeigt, wie die - nihilistische - "Destruktion der europäischen Metaphysik" Heideggerscher Prägung transformiert und zu einer Theorie der Öffentlichkeit (im Gegensatz zur bloßen "Publizität") umgeleitet werden kann. Er greift dabei immer wieder auf Marxens "general intellect" und Hannah Arendts Theorie des Handelns beziehungsweise der Tätigkeit als Einheit von "Poiesis und Kommunikation" zurück, versucht Walter Benjamins Medientheorie für die Gegenwart fruchtbar zu machen, diskutiert Gastons Bachelards Epistemologie (als Erkenntnis- und Wissenschafstheorie) sowie Maurice Merlau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung im Kontext der Begründung der Multitude als Subjekt der Subversion im Zeitalter der globalen Umgestaltung von Produktion, Wahrnehmung und Emotionalität.Leider bleibt jedoch Virnos Ansinnen, die klassentheoretische Perspektive anthropologisch zu verklammern - als Theorie der Öffentlichkeit im Zeitalter des Weltbürgerkriegs und der Einforderung eines Weltbürgerrechts - nicht nur aufgrund ihres "seminaristischen" Charakters lückenhaft. Helmuth Plessner zum Beispiel, der eine philosophische Anthropologie sondergleichen entwarf, an der auch - genau gesehen - eine Theorie der Multitude nicht vorbeigehen kann, kommt nicht einmal als Fußnote vor. Aus Unkenntnis bestimmt nicht, sondern eher einem bewusstseins- und sprachphilosophischen Bedenken gegen den hellsichtigen, liberalen Kritiker Heideggers verschuldet, der aber die welthistorischen Transformationen, die Virno und auch Negri im Auge haben, bereits formuliert hatte. Historische Transformationen enthalten nach Plessner immer das Menschlich-Mögliche, die anthropologische Potenz, das Allzumenschliche im Gegensatz zum Unmenschlichen. Vom Unmenschlichen privater Aneignung und gesellschaftlicher Produktion bestimmt, stellt der Kapitalismus eine im Kern abgeschlossene Phase des Menschlichen dar - im Gegensatz zum Allzumenschlichen (Kooperation und Solidarität), das die Multitude und ihre subversive Vernunft verkörpern. Transformation heißt in diesem Sinne für Plessner, Virno und Negri bereits das Transformierte, das aber noch nicht abgeschlossen ist:"Zu dieser unabgeschlossenen Transformation in eine Gesellschaft ohne vorgegebene Autorität, das heißt, der vollendeten Aufklärung, passt die Scheu vor einer Fixierung menschlichen Wesens und seiner Bestimmung in einem nicht mehr revidierbaren Sinne", so Plessner bereits 1956 in seinem Aufsatz Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie. Was als condition humaine begriffen wird, zeigt sich eben immer mehr als eine nicht revidierbare Form, sofern sie gattungsgeschichtlichen Tendenzen folgt, die die historische Konstitution einer neuen Epoche ermöglicht. Die politische und philosophische Thematisierung des "Empire" und der "Multitude" wird insofern künftig auch auf eine solch historische, philosophische Anthropologie zurückgreifen müssen.Paolo Virno: Grammatik der Multitude. Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen. Aus dem Italienischen von Thomas Atzert, mit einem Nachwort von Jost Müller, ID-Verlag, Berlin 2005, 141 S., 16 EUR
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