Wenn ich sterbe, wird es niemand glauben", soll Fidel Castro einmal gesagt haben. Als der Máximo Lider im Juli 2006 schwer krank wird und sein jüngerer Bruder Raúl übergangsweise die Staats- und Parteiführung übernimmt, ahnt man bereits, dass er sie nie wieder antreten wird. Aber während die Exilkubaner in Miami auf den baldigen Tod des verhassten "Diktators" hoffen, will Fidel ihnen den Gefallen nicht tun. Er zeigt sich fortan für das Fernsehen in lockerer Sportkleidung, empfängt weiterhin seine Genossen aus Venezuela oder Bolivien, zieht politische Bilanzen über die Zukunft Lateinamerikas, verfasst ökonomische Diagnosen über den Zustand der kapitalistisch globalisierten Welt, gibt Interviews und schreibt Artikel, die in Kuba, Mexiko, Venezuela oder Argentinien veröffentlicht werden. Inzwischen betätigt er sich als politischer Essayist, führt die Feder wie ein "Profi", geben selbst seine verbitterten Gegner zu.
Am ärgsten muss für sie sein, dass der betagte Castro offenbar weder in die Senilität und Geistlosigkeit noch in die Korruptheit seiner einstigen Kollegen aus Osteuropa verfallen ist. Der "Diktator", dessen Hirn weiterhin "wie ein Uhrwerk" funktioniert, verliert in keinem Augenblick die Aura des Ernstes, eine sakral anmutende Respektsperson, dem niemand auch nur ein kleines Lachen entlocken kann. Er wird entweder geliebt oder gehasst. Im Guten wie im Schlechten, bei Gleichgesinnten oder Feinden erzeugt seine Aura Unbedingtheit. So sollte auch die Revolution verstanden werden, die derweil an diesem Unbedingten scheitern könnte.
Was sich im Juli 2006 angekündigt hatte, ist seit dem 18. Februar 2008 offiziell. Castro will, kann trotz einstweiliger Genesung nicht mehr, steht nicht mehr an vorderster Front als General der Revolution, sondern "als ein Soldat der Ideen", wie er in seiner Rücktrittserklärung schreibt. "Das wird eine Waffe mehr sein, auf die man wird zählen können. Vielleicht wird meine Stimme gehört werden." Während seine Stimme weltweit gehört wird, muss sein Bruder das revolutionäre Werk fortführen. Niemand weiß allerdings, ob der eher blasse Raúl, dem Militär, Polizei und Sicherheitsapparat unterstehen, den Konsens, den der charismatische Fidel permanent herzustellen vermochte, weiter kitten kann. Es kommen schwere Zeiten auf Kuba zu.
Derweil blickt man auf fast ein halbes Jahrhundert zurück, in dem Castros Waffen nie versagten: die militärischen aus der Guerilla-Zeit, die politischen aus der radikaldemokratischen, später sozialistischen, republikanischen Zeit und die symbolischen, die Castros charismatische Persönlichkeit zum Ausdruck bringen.
Es war sein Charisma, das, mit Antonio Gramsci gesprochen, eine sozialistische, "mit Gewalt gepanzerte Hegemonie" zusammenkitten konnte, die wiederum das Ergebnis der einzig erfolgreichen Sozialrevolution auf der westlichen Hemisphäre war. Castro herrschte nicht nur - er führte auch. Darin war er seinen osteuropäischen Kollegen weit überlegen. Er errichtete zwar einen bürokratisch aufgeblähten, mächtigen Partei- und Überwachungsapparat, den er ohne Widerrede und Widersacher anführte, wies aber das militärisch und ökonomisch übermächtige USA-Imperium immer wieder in die Schranken, konnte der permanenten Wirtschaftsblockade, jedem Attentat und Sabotageakt trotzen. Und er vermochte es auch, das egalitärste und erfolgreichste Gesundheitssystem des amerikanischen Kontinents aufzubauen und vor den Augen der verblüfften Welt den Analphabetismus und den Hunger im Land zu besiegen. Selbst nach dem Zusammenbruch des osteuropäischen Staatssozialismus, der Kubas zerbrechliche Wirtschaft Jahrzehnte lange gestützt hatte, blieb der Comandante unbeirrbar auf sozialistischem Kurs. Trotz eines harten "Periodo Especial", pragmatischer Notkorrekturen, der Einführung des US-Dollars als Parallelwährung und jeder Menge touristischer Kosmetik wurden die Errungenschaften der Revolution im Kern aufrechterhalten.
Die weiterhin viel diskutierte Frage bleibt nun, was aus der Revolution ohne den Comandante wird, ob sein missionarisches Charisma ersetzt werden kann, und ob sich die Revolution als kollektives Werk weiterhin gestalten lässt. Es ist wahrscheinlich eine der schwersten Bewährungsproben eines Sozialismus, der auf den Helden verzichten muss, um selbst profan und damit demokratisch zu werden.
Das allerdings bleibt eine schwer zu klärende Frage. Denn Castro ist selbst zum lebenden Mythos geworden, der das eigens initiierte revolutionäre Potential selbst blockieren könnte. Die Revolution müsste sich selbst gefährden, wenn sie von der Aura des Helden nicht befreit werden kann. Fidel Castro haftet diese Tragik an, die jedem Helden eigen ist: "Ohne die Entauratisierung jedes emanzipatorischen Schrittes wird nicht nur der nächste Schritt behindert. Ohne sie bleibt der Kommunismus das ewig vor sich her zu tragende Jenseits, dem kein Individuum gewachsen ist", schreibt Hans-Peter Krüger bereits 1992 in seiner Demission der Helden.
Der Mythos des unbedingten, übermenschlich anmutenden, heroischen Comandante kommt selbst in der linksliberalen argentinischen Tageszeitung Página 12 zum Ausdruck. Seine "unzerbrechliche Ethik" soll zum überhistorischen Sinnbild und Exempel für Generationen werden, ohne den Bruch zu beachten, den die innewohnende Dialektik der Diskontinuität zwischen den Generationen darstellt. In der Ausgabe vom 20. Februar 2008 lässt Néstor Kohan Fidel Castro selbst sprechen: "Das wirkliche menschliche Wesen fragt nicht, auf welcher Seite man besser lebt, sondern auf welcher Seite die Pflicht steht". Es ist ein kategorischer, pflichtethischer Imperativ, der den Protestanten Immanuel Kant mit dem katholischen Fidel Castro verbindet und der nun zur Nachahmung durch die Menschheit "ausgeschrieben" werden soll. Unbedingt zu sein, schlägt in den Heldenmythos um, der ein kritisches, leb- und erlebbares Potential nur innerhalb der Ächtung von Korruption, Zynismus und Haltlosigkeit artikulieren kann. Castro bleibt darin ein Meister, zugleich ein idealistischer Moralapostel, ein Ketzer und Menschheitsbeglücker. "Warum nicht zugeben? Wir sind ein bisschen traurig. Fidel ist krank und tritt zurück", so weiter Kohan. "Eine weise und, wie immer, hellsichtige Entscheidung.
Er flüchtet nicht mit dem Hubschrauber, wie der argentinische Präsident Fernando de la Rúa, nachdem er vom aufständischen Volk im Dezember 2001 gestürzt wurde. ... Er muss nicht, wie die vom Pentagon und der CIA geschützten, blutbefleckten lateinamerikanischen Diktatoren mit den Taschen voller Dollar im Dunkel der Nacht flüchten. Fidel gibt nicht auf. Er fällt nicht auf die Knie. Er fleht nicht nach Gnade".
Natürlich nicht. Könnte er sonst das stärkste Symbol des lateinamerikanischen Kampfes um Emanzipation im 20. Jahrhundert, das radikalisierte, egalitäre Symbol des moralischen Gewissens gegen das kapitalistisch profane Imperium repräsentieren?
Fidel Castro und Che Guevara vertraten einen ethischen und kulturellen, einen moralistischen und idealistisch transformierten Marxismus, der auch in der Theologie der Befreiung zum Ausdruck kam. Es ist ein lateinamerikaweites Phänomen, die Achse einer Oppositionskultur gegen die kapitalistische Welt als "die beste aller möglichen". Der Schlüssel der Geschichte wird nicht in Produktivkräften oder Klassenkämpfen verortet, sondern in invariablen ethischen Werten gesucht, die aus einem häretisch gewordenen Katholizismus entsprungen zu sein scheinen. "Auch ohne Essen, Geld und Öl brach die kubanische Revolution aufgrund der Werte, Ethik und Kultur nicht zusammen", stellt Kohan fest. Was sie zusammenhielt war vor allem der nationale und regionale Bezug, das "Volk", der "national-populare" Hintergrund, die Verteidigung der eigenen "Kultur" gegen die kapitalistische "Zivilisation", die sich dem Ziel verschrieben hatte, eine eigene "Modernisierung" als Programm für die "Entwicklungsländer" durchzusetzen und mit dem Neoliberalismus seit den 1990er Jahren ihren aktuellen Ausdruck fand.
Das Bolivien von Evo Morales oder das Venezuela von Hugo Chávez sind weitere Momente dieses welthistorisch bedeutenden, interessanten und wichtigen Kampfes, der weiterhin von der starken Symbolik Fidel Castros lebt. Und selbst Lulas Brasilien oder das Argentinien der Kirchners stehen noch unter dem Bann des Máximo Lider.
Der brasilianische Historiker Luiz Alberto Moniz Bandeira bemerkte in seinem 1998 erschienen Buch Von Martí zu Fidel. Die kubanische Revolution und Lateinamerika, die Machtübergabe von Fidel Castro an die weitere Generation sei bereits völlig im Stillen erfolgt. "Die Macht ging auf eine neuen Generation über. Der Comandante Raúl Castro zusammen mit Ricardo Alarcón, dem Vorsitzenden der Nationalversammlung, dem Vizepräsidenten Carlos Lage und dem Außenminister Felipe Pérez Roque haben bereits seit längerer Zeit die Macht übernommen." Da ging es in der Tat sehr still zu. Ob die Machtübernahme von dem "Konsens" getragen ist, den Fidel herzustellen oder durchzusetzen vermochte, und in Eintracht verlaufen wird, steht allerdings in den aus unserer Sicht ebenso still erscheinenden Sternen.
Es bleibt zu hoffen, dass der Mythos Fidel doch nur ein Mythos seiner Widersacher bleibt; ein Mythos, der der kubanischen Revolution nur im Wege stehen würde. Sollte sie eine über ihren Máximo Lider hinausreichende Zukunft haben, so muss sie sich von ihren sakralen Elementen befreien, um selbst profan zu werden. Nur so jedenfalls könnte ein fundamental demokratisierter Sozialismus der kapitalistischen Welt ein Dorn im Auge bleiben.
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