Kein "Totalitärer" aus dem Bilderbuch

Doppelexistenz eines Rebellen In Bolivien wird Evo Morales am 22. Januar als erster Indio sozialistischer Präsident der Republik

An politischer Schlagkraft alles übertreffend, was es bis dahin an Wahlerfolgen gab, hat die bolivianische Linke am 18. Dezember 2005 einen auch für ganz Lateinamerika einmaligen Sieg errungen. Der indianische Führer Evo Morales von der Bewegung zum Sozialismus (MAS) hat wider Erwarten 54 Prozent der Stimmen, die absolute Mehrheit, erreicht. "Ein wahrhaft tellurisches Ereignis" - kommentierte am nächsten Tag in Cochabamba die Zeitung Los Tiempos - "dem ein Nachbeben in Lateinamerika folgen wird."

Nicht nur aus den Anden-Höhen, wo die indianische Bevölkerung zahlenmäßig und kulturell vorherrscht, schöpfte Morales seine Mehrheit, auch aus den subtropischen Tälern, wo - wie in Santa Cruz de la Sierra - die spanischstämmige Bevölkerung überwiegt. Solch ein überwältigender Sieg war kaum vorherzusehen, auch nicht von den MAS-Anhängern. Morales selbst rechnete mit höchstens 40 Prozent. Inzwischen weiß man, dass sich die Ärmsten des Landes auch der Unterstützung jener Mittelschichten sicher sein konnten, die Korruption, Misswirtschaft und Ausverkauf der nationalen Ressourcen satt haben.

Hatte Gonzalo Sánchez de Lozada 1993 in rechtspopulistischer Manier mit Víctor Hugo Cárdenas einen Indio zum Vizepräsidenten auserkoren, so siegte Morales mit einem weißen Mathematiker und Soziologen, dem in der MAS geschätzten Intellektuellen Alvaro García Linera, der nach eigenem Bekunden vor seinem politischen Aufstieg "auf dem 4.000 Metern hoch gelegenen Altiplano bei kilometerlangen Läufen seine Lunge auf die Probe stellen musste, um der indigenen condition humaine gerecht zu werden."

In einem bunten Pullover

Mehr als 35 Jahre nach dem knappen Sieg von Salvador Allendes Unidad Popular in Chile, die 1970 mit 36,6 Prozent der Stimmen im Nationalkongress kaum regieren konnte, setzt in Bolivien eine Neuauflage von "Sozialismus in Demokratie" ein, von der Allende nur träumen konnte. Der 46-jährige Evo Morales gesellt sich zu Fidel Castro und Hugo Chávez. Diese drei, die zugleich drei Generationen im Kampf um Gerechtigkeit, Selbstständigkeit und Sozialismus in Lateinamerika verkörpern, bilden eine Achse der Auflehnung gegen das ins Wanken geratene Imperium der Nordamerikaner. Dazu kommen zwar moderatere, aber wichtige Bündnispartner wie der regierende Linksperonist Nestor Kirchner in Argentinien und der sozialistische Präsident Tabaré Vasquez in Uruguay, "Lula" da Silva in Brasilien und - voraussichtlich - die gemäßigte Sozialistin Michelle Bachelet in Chile. Auch Mexikos Subcomandante Marcos aus dem Lakandonischen Urwald in Chiapas hat von Morales´ Sieg profitiert, zeigt doch Bolivien exemplarisch, dass die indigene Bevölkerung mit einem linken Programm die politische Macht erringen kann.

So abstrakt scheint die Utopie nicht zu sein, dem "Empire" seine Überwindung politisch vorzuspiegeln. Was sich spätestens nach der Revolte auf der WTO-Konferenz 1999 in Seattle und beim G 8-Gipfel 2001 in Genua zeigte, hat auch Evo Morales zum Sieg verholfen: Es gibt weltweit eine neue "Ethik gegen die Macht" (Antonio Negri), wie sie der Sieger von La Paz als designierter Staatschef exerzieren kann.

Die "Würde des Indios erobert die Welt", titeln lateinamerikanische Zeitungen, wenn sie über Morales´ erste diplomatische Erfolge schreiben, die sich auch in der Streichung von rund 120 Millionen Euro Schulden niederschlagen, die Spanien den Bolivianern erlässt. "Siegern begegnet man mit Gaben", sagt man in Madrid und denkt an das Sinnbild des säkularen Tausches von Spiegeln gegen Gold, das die Kolonialzeit charakterisierte. Doch Morales will keine Generalabrechnung mit 500 Jahren Niedertracht, die der "weiße Mann" den Indios auferlegte. "Wann hat je ein Indio in Europa Schulden gemacht?" - fragt er in einem Interview mit der BBC. Zunächst soll es in Bolivien nur eine "mäßige", eine pragmatische, eine durchsetzbare Gerechtigkeit geben, auch wenn nichts dagegen einzuwenden wäre, die Rechtmäßigkeit internationaler Geschäfte auf Boliviens Rücken zu prüfen. Repsol, dem spanischen Ölkonzern, drohe keine Enteignung, sagt Morales. Unter seiner Regierung würden nur gegenseitiger Vorteil und Fairness gelten. Diese Konzilianz mögen gemäßigte Sozialisten wie Spaniens Premier José Rodríguez Zapatero, deshalb der "großzügige" Erlass von ohnehin nicht bezahlbaren bolivianischen Schulden.

"Der Indio zeigt eine Würde, die sonst in Spanien nur selten ist", meint Fermín Bocos in El Diario Crítico und verwahrt sich gegen alle Versuche einer offiziellen bis offiziösen Presse, Morales mit postkolonialer Arroganz ins Lächerliche zu ziehen. In einem bunten Pullover, nicht etwa mit Krawatte, traf er sich Anfang Januar mit Fidel Castro auf Kuba, flog anschließend nach Caracas und wird Südafrika, China und Brasilien besucht haben, bevor er am 22. Januar in La Paz für fünf Jahre die Regierungsgeschäfte übernimmt.

Die Rechte holt weit aus

Noch nie in Boliviens Geschichte erregte ein Politiker ein solches internationales Aufsehen. Es sind gerade diese Erfolge des einstigen Trompetenspielers, des Lama-Treibers, des Kleinhändlers, des Fußballers aus Orinoco, einem verschlafenen Dorf an der Peripherie der Minenprovinz Oruro, die seine Ausstrahlungskraft weit über den Tag des Wahlsiegs hinaus verstärken. Morales begann seine politische Karriere im subtropisch verborgenen Chapare-Gebiet von Cochabamba, wohin es ihn während der sechziger Jahre verschlug. Nach 1989, als die Mineros so massenhaft entlassen wurden wie nie zuvor und sich zum Überleben im vorsichtig prosperierenden Chapare ansiedelten, wurde Morales ihr Sprecher, bald ihr Führer, der "Führer der Koka-Parias", wie man ihn gern abfällig nannte, jener "Parias", die jetzt Boliviens Geschicke in die eigene Hände nehmen können.

Morales, der kleine Mann von unten, ist sich der Durchschlagskraft seines Beispiels, seiner Inszenierungen durchaus bewusst. Die "Poncho-Attitüde" setze "gängige diplomatische Regeln" außer Kraft, beschwert sich ein Spanier, der Morales´ Begegnung mit König Juan Carlos in der Televisión Española kommentiert. Ähnlich empört gibt sich die dem konservativen Ex-Premier José María Aznar nahe stehende Stiftung Fundación para el análisis y los estudios sociales, die einer "groben, populistischen und antiliberalen Unkultur" vehement den Kampf ansagt.

"Widerstand gegen die Moderne" habe nach der Niederlage des Kommunismus keinen Sinn, stellt man Castro, Chávez und nunmehr Morales in Frage. Weil ihr Drängen nach Gleichheit einer ausgedienten kommunistischen Utopie unterworfen sei, werden sie kräftig bekämpft. Die Rechte holt weit aus. Auch in Bolivien. Dennoch verfehlen selbst die scheinbar sachlich vorgetragenen Argumente der Gegner ihr Ziel. Evo Morales ist kein "Totalitärer" aus dem Bilderbuch der Liberalen. Wie verkürzt diese Kritik ist, zeigt schon der Zwiespalt, wie er zwischen der kulturellen Herkunft und dem politischen Selbstverständnis des künftigen Präsidenten besteht.

Evo Morales gilt in Bolivien, besonders bei indigenen Kreisen, als Wiedererweckung des indianischen Häuptlings Pablo Zárate (alias Willka*), der sich 1898 während des föderalen Bürgerkriegs gegen die Feudalaristokratie auflehnte und bis heute als Vorbild des Widerstands gegen die weißen Herren verehrt wird. Zárate wurde hingerichtet, als er enteignete Länder zurückforderte, die indianisches Gemeineigentum waren. Evo Morales fordert nicht Gemeineigentum an enteignetem Boden, sondern demokratisch legitimierten Sozialismus mit einem starken Staat. Er beerbt den bolivianischen Nationalismus der Revolution von 1952 unter den Umständen von heute, um die "Nation" gegen die "Kolonie", zu der die globalen Märkte Bolivien degradiert haben, in Position zu bringen. Dies mag ein schlechtes Programm sein und den "(post)modernen Linken" nicht schmecken, aber "totalitär" ist es nicht, sondern die Neuauflage einer verschleppten national-demokratischen Revolution.

Während "Morales" für die säkularisierte politische Aufklärung steht, repräsentiert er als "Willka" die Allegorie unausrottbarer Widerständigkeit. Wie er sich der Gemeinschaft verbunden fühlt, ist Morales der legendäre "Willka", wie er sich einem demokratischen Sozialismus europäischen Zuschnitts verschreibt, mutiert er wieder zu "Morales". Das ist keine theatralische Entzweiung. Morales glänzt im Nationalkongress, er ist als öffentliche Person unter Fremden und Ungleichen eine rhetorische Furie. Willka hingegen schweigt. Auf ihm lasten die Jahrhunderte von Ausbeutung und Plünderung. Und wenn er sprechen soll, stößt er ein Geschrei der Empörung aus. Es sind zwei Sprachen, die Morales und Willka sprechen - es sind Masken, es sind die Metaphern zweier Bezüge.

Morales erprobt seine Souveränität in den Medien, Willka hingegen offenbart den Bezug, der ihm als kommunistischer Leib vorgegeben ist. Während Morales in der katholischen Kirche monotheistisch betet, lässt sich Willka die Zukunft aus den vom "Kallahuaya", dem Zauberer, geworfenen Koka-Blättern entziffern. Willka folgt als Leib dem Gemeinschaftspathos, dem Blut und der Erde, der "Pacha Mama" - Morales folgt den Verkörperungen von Gesellschaft, der Logik des Indirekten, dem Takt, der Diplomatie, dem "Kältestrom des Lebens", dem auch die "sozialistische Demokratie" folgt - während Willka das Ethos einer "Rasse aus Bronze" pflegt.

Es war der bolivianische Schriftsteller Alcides Arguedas (1879-1946), der mit seinen Büchern Krankes Volk (1903) und Rasse aus Bronze (1919) gerade die "Laster" der indianischen Kulturen stigmatisierte. Rassistisch - und durchaus melancholisch - folgte er Graf Gobineaus (1816-1882) Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen. Der bolivianische Nationalcharakter, so Arguedas, könne nur dem spanischen Erbe folgen, wolle man von der Welt beachtet und anerkannt werden. Ansonsten werde man mit dem "Schmerz" leben müssen, als Bolivianer mit den minderwertigen Indios in eins gesetzt zu werden und auf gesellschaftliche Beachtung zu verzichten. Wie viele Verletzungen diese Oligarchie Jahrhunderte lang der indigenen Mehrheit zugefügt hat, ist kaum zu übersehen. Hier steht nicht nur die soziale Frage "an sich", sondern die nach der historischen Gerechtigkeit "für sich" - der Gerechtigkeit gegenüber den indigenen Kulturen.

Che Guevaras Irrtum

Es ist nicht nur Boliviens rebellische Sozialgeschichte, die historisch ausbalanciert werden muss, es sind auch die kulturellen Voraussetzungen der sozialen Umwälzung, die Beachtung verdienen und revolutionäres Potenzial beschreiben. Che Guevara dachte zwar "global", verlor aber in Bolivien den gemeinschaftlich-kulturellen Bezug des sozialen Wandels aus den Augen. Denn in diesem Land ist die soziale Frage noch eng verbunden mit der ethnischen und kulturellen Emanzipation der indigenen Gruppen. Dies macht das Ausmaß der politischen Bewegungen so beachtlich - es war Che Guevaras verhängnisvoller Irrtum, den Gemeinschaftscharakter der Unterdrückten Boliviens zu unterschätzen.

Morales und Willka verkörpern nun in ihrer unauflösbaren politischen und kulturellen Doppelexistenz mögliche, konkrete und zugleich allzu menschliche Umwälzungspotenziale. Gemeinschaftliche und gesellschaftliche Perspektiven stehen im Andenland einstweilen nicht mehr vor ihrem bisherigen, immerwährend verletzenden, unmenschlichen Bruch, auch wenn sie immer wieder als Zwiespalt begriffen werden müssen.

Hugo Velarde, geboren 1958 in La Paz, lebt seit 1977 in Berlin, ist Philosoph und Redakteur der Zeitschrift Gegner.

* "Willka" steht auf Aymara (der nach Ketschua vor allem in den Provinzen La Paz, Oruro und Potosí meist gesprochenen Indio-Sprache) allegorisch für die "Sonnenkraft", den "Wärmestrom des Lebens", der zu einem Wechsel ("Pachakuti") unharmonischer bzw. ungerechter Zyklen zu einem neuen Gleichklang von Mensch und Natur bestimmt sei. Gerecht ist demnach, was - pantheistisch - der Natur folgt: gleiche Behandlung von Erde und Menschen, also keine Ausbeutung. Daher steht Willka ebenso für Naturachtung wie für Gemeinsinn und Gemeineigentum.


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