Die Mauer muss weg? - Betrachtungen zur Berliner Volksabstimmung

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In der Frankfurter Rundschau vom Dienstag danach konnte man diese Überschrift ohne Fragezeichen lesen. Im Untertitel hieß es weiter: „Nach harter Wahlschlacht um die gescheiterte Initiative „Pro Reli“ bemüht sich ganz Berlin um Versöhnung.“ Dass journalistische Schnellschüsse vor Übertreibungen nicht gefeit sind, konnte man schon am Ende des Artikels feststellen: „Wenn überhaupt, dann lässt sich von einer Spaltung der beiden großen Kirchen sprechen: Protestanten und Katholiken haben in Berlin rund 981.000 Mitglieder – weit mehr, als am Sonntag mit Ja stimmten.“ Also: Warum sollte sich ganz Berlin um Versöhnung in einer Angelegenheit bemühen, die doch nur knapp 29 % der Bevölkerung betrifft?

Es lohnt sich trotzdem, die Abstimmungsergebnisse genauer unter die Lupe zu nehmen um herauszufinden, wo eventuell Mauern verlaufen. Dazu müssen wir etwas klarstellen. Bei einer Volksabstimmung sind nur die Ja-Stimmen wirklich aussagekräftig. Denn im Unterschied zu Wahlen für politische Gremien machen nicht nur die Wahlwilligen die Sache unter sich aus, sondern jeder Wahlberechtigte zählt: Sind mindestens 25 % der Wahlberechtigten für das Anliegen der Volksabstimmung oder nicht? Eine Ablehnung kann man auf drei Wegen zum Ausdruck bringen. 1. Man geht zum Abstimmungslokal und macht auf dem Zettel ein Kreuz bei „Nein“ – demonstrativer Demokrat. 2. Man geht ebenfalls hin, aber stellt mit dem Zettel irgendetwas Fantasievolles an, das bei der Auszählung zum Urteil „ungültig“ führt – subversiver Demokrat. 3. Man ignoriert die ganze Prozedur und übt das, was man bei einer „richtigen“ Wahl als Stimmenthaltung bezeichnet, d.h. man schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Freizeit und politische Meinungsäußerung – ökonomischer Demokrat. Im Ergebnis bleiben sich diese drei Verhaltensweisen gleich.

Konzentrieren wir uns also auf die Ja-Stimmen. Wenn von der Mauer die Rede ist, dann will man auf den Ost-West-Unterschied hinaus. Nur ist das seit der Reform der Berliner Stadtbezirke im Jahre 2001 nicht mehr so eindeutig möglich. Denn außer den „reinen“ Ost- bzw. Westbezirken gibt es seitdem die gemischte Stadtbezirke des Stadtzentrums, Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte.

Schauen wir uns unter diesem Gesichtspunkt das Abstimmungsergebnis an, dann ergibt die Dreiteilungshypothese: Ost – 6,5 %, Zentrum – 9,1 %, West 21,3 %. Ganz klar: Hier manifestiert sich die Mauer auch noch 20 Jahre nach ihrem Fall. Im Osten spielt das Problem Religionsunterricht schon lange nur eine marginale Rolle. Die Ja-Stimmen erreichen knapp ein Drittel der Westwerte. Allerdings spricht diese Frage insgesamt nur eine Minderheit an. Selbst im Spitzenreiterbezirk Steglitz-Zehlen­dorf stimmen nur etwas mehr als ein Viertel der Wahlberechtigten für den Änderungsantrag.

„Bei Geld hört die Freundschaft auf“, lautet eine Redensart. Ob das tatsächlich in jedem Fall stimmt, sei dahin gestellt. Aber dass das liebe Geld eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, wird wohl keiner abstreiten. Dann machen wir doch einmal ernst damit und sehen uns die Ergebnisse im Licht des Euro an. In der „Kleinen Berlinstatistik“, die vom Berliner Senat alljährlich veröffentlicht wird, findet man Angaben darüber, wie viel Geld den Mitgliedern eines Haushalts pro Monat, nach Stadtbezirken aufgeschlüsselt, zur Verfügung steht. Wenn man die Ja-Stimmen der Volksabstimmung vom 26. April gegenüber dem mittleren Haushaltseinkommen aufträgt ergibt sich die folgende Grafik.

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Osten – auf Seite stehende Quadrate, Zentrum – auf der Spitze stehende Quadrate und Westen – Dreiecke.

Ermittelt man für die drei Gruppen jeweils den entsprechenden Trend, dann zeigt sich ein neuer Aspekt: Das Einkommen spielte anscheinend bei der Entscheidung Ja oder Nein eine Rolle. „Not lehrt beten“, heißt es gemeinhin. Verblüfft stellen wir nun fest, dass im Gegensatz dazu die Frömmigkeit mit dem Reichtum wächst, jedenfalls im Westen?![1]

Bevor wir Schlussfolgerungen ziehen, erinnern wir uns an den Gegenstand der Volksabstimmung. Die Initiatoren wollten den bestehenden Zustand ändern. Aus ‚Ethikunterricht verpflichtend für alle und Religionsunterricht zusätzlich auf freiwilliger Basis’ sollte ‚entweder Ethik oder Religionsunterricht’ werden. Die neue Regelung hätte eine Trennung der Schülerinnen und Schüler in zwei Gruppen bedeutet.

An dieser Stelle möchte ich ein privates Erlebnis einschieben. Ein entfernter Freund zog aus Süddeutschland nach Hamburg. Er erwarb für sich und seine Familie ein Haus in Blankenese, woraus man erahnen kann, dass es ihm finanziell gut gehen musste. In seiner Nachbarschaft gab es drei Gymnasien zur Auswahl für seine Kinder: ein altsprachliches, ein wirtschaftlich ausgerichtetes und ein naturwissenschaftliches. Welches wählte er aus? Das altsprachliche. Auf Nachfrage begründete er das so: Latein und Griechisch interessieren mich nicht. Aber dieses Schulprofil wird im Allgemeinen von einer ganz bestimmten Schicht gewählt. Wer auf diese Schule geht, bleibt unter seinesgleichen. Schlussfolgerung: Die fachliche Spezialisierung dient als Mittel der sozialen Separation!

Jetzt ahnt man schon eine mögliche Erklärung für die Einkommensabhängigkeit des Votums beim Volksentscheid. Könnte es sein, dass das Interesse an einer Trennung im ethisch-moralischen Unterricht der Hauptantrieb dafür war, sich trotz Sonntagsruhe und Sonnenschein aufzuraffen, zum Abstimmungslokal zugehen und sein Kreuz in den Ja-Kreis zu setzen? Im Erfolgsfall wären die entsprechenden Schüler bei der sogenannten Wertevermittlung im Religionsunterricht, katholisch bzw. evangelisch, unter sich. Dem Ethikunterricht würde die Rolle eines Lumpensammlers zugeschoben werden. Es wäre die Ausweitung des gymnasialen Ausleseprinzips auf die Vermittlung von Werten.

Natürlich muss dieser Gesichtspunkt nicht einzige sein. Sicher spiegelt sich in dem gehaltsabhängigen Abstimmverhalten auch ein Stück dessen wieder, was allgemein als Politikverdrossenheit beklagt wird. Je schlechter es mir geht, desto weniger interessiere ich mich für meine Umgebung und deren Probleme. Wenn ich wenig von meiner Umwelt erwarten kann, dann ist sie mir im Wesentlichen egal.

Fazit: Religionsunterricht interessiert die Mehrheit der Berliner nicht (mehr) und wenn doch, dann nur die Besserverdienenden. – Welche Mauer muss weg?

Das Abstimmungsverhalten vom 26. April ist nicht neu. Insofern musste die aktuelle Entscheidung nicht überraschen. Erinnern wir uns an die Volksabstimmung vor einem Jahr. Es ging um das Schicksal des Flughafens Tempelhof.

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Qualitativ offenbart das Abstimmungsergebnis das gleiche Verhalten. Nur eine Minderheit stimmte mit Ja, im Westen gut 30 %, im Osten wieder knapp ein Drittel davon. Schon damals hing der Grad der Zustimmung vom Einkommen ab, wenn auch mit größeren Schwankungen.

Natürlich lassen sich beide Befragungen nur bedingt vergleichen. Hier war ein Jahrzehnte bestehender Zustand erst kürzlich geändert worden. Das trieb deutlich mehr Menschen um und ins Abstimmungslokal, in ganz Berlin. Und die Entscheidung über einen Flughafenstandort hat eine explizit geografische Komponente. Z.B. stimmten die Anwohner des Flughafens Tempelhof gegen seinen Erhalt – trotz Westsozialisation. Über die Gründe muss man nicht weiter rätseln.

Wie lässt sich aber hier die Einkommenskomponente erklären? Nun, die Terminals der kleinen Leute stehen in Tegel (Air Berlin) bzw. in Schönefeld (Easyjet). Was kümmert Anna und Otto Geringverdiener ein Flughafen für die Privatflugzeuge der Mächtigen und Reichen! – Welche Mauer trennt die verschiedenen Bevölkerungsgruppen?

Nehmen wir noch einmal die Ergebnisse in den Blick. In beiden Fällen sollte eine bestehende und, nicht zu vergessen, demokratisch legitimierte Situation geändert werden. Eine Minderheit von Westberlinern wollte alte Zustände bewahren oder wiederherstellen. (Der Hinweis darauf, dass Religionsunterricht in den meisten anderen östlichen Bundesländern ordentliches Wahlpflichtfach ist, hilft nicht weiter, denn diese Regelung stammt aus den Zeiten der Wendewirren, als sowieso alles von den großen Brüdern und Schwestern im Westen übernommen wurde. Es käme auf einen Versuch an, heute eine Volksabstimmung mit umgekehrter Richtung in Meck-Pom & Co. durchzuführen.) Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Ostberliner dazu keine Lust haben, unabhängig vom Einkommen.

Hauptakteure waren nicht die Westberliner, sondern – je nach Größe des Geldbeutels – die wohlhabenden Westberliner. Deren Interessen standen in beiden Fällen zur Abstimmung. Wenn die Existenz einer Mauer in Berlin beklagt wird, dann kann nur die Umfassungsmauer der Gated Community der „Wilmersdorfer Witwen“ und deren Erben gemeint sein. Aber ob die sich so „einfach“ beiseite schieben lässt, wie die Sperren an der Bornholmer Straße vor zwanzig Jahren, wage ich zu bezweifeln.

[1] Hier fällt nur der Trend für die Westbezirke ins Gewicht, denn statistisch sind die Trends der beiden anderen Gruppen eher formale Rechengrößen als realistische Abbilder.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

HVGR

Rentner (ehm. Lehrer), Berlin

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