Wie ist es möglich, dass eine Stadt unglaublich öffentlich und gleichzeitig so außergewöhnlich privat sein kann? Edinburgh schafft das irgendwie – selbst im August mit seinen vielen Festivals, wenn fast doppelt so viele Leute in der Stadt sind wie gewöhnlich.
Ich habe in meinen Romanen schon häufig versucht, dieser Eigentümlichkeit auf den Grund zu gehen, weil sie für mich viel über das Wesen Edinburghs aussagt und darüber, wie die Stadt zu dem wurde, was sie ist. Die schottische Hauptstadt quillt über vor Geschichten, manchmal muss man sie jedoch hervorkitzeln.
Ihre Historie ist vom ersten Augenblick an allgegenwärtig. Dennoch gibt es Dinge, die man ohne großes Glück nie entdecken wird, wenn man nicht weiß, wo man sie suchen muss. Ich habe hier mehr als mein halbes Leben verbracht, kann aber immer noch nicht behaupten, ich würde auch nur annähernd alles über Edinburgh wissen.
Man protzt nicht
Vielleicht handelt es sich ja lediglich um einen historischen und geologischen Zufall. In vergangenen Zeiten versteckten sich die Bewohner der Stadt bei drohenden Angriffen in Tunneln, die sie unter Castle Rock und der Altstadt gegraben hatten. Man kann sich davon heute noch einen Eindruck verschaffen, wenn man sich die Gewölbebögen unter der Blair Street oder Mary King`s Close ansieht. Wenn die Invasoren eintrafen, fanden sie die Stadt verlassen vor. Zwar war es dann leicht, zu plündern, es wurde aber auch schnell langweilig – und die Eindringlinge kehrten dahin zurück, wo sie hergekommen waren.
Edinburgh schien mir immer eine sehr gerissene Stadt zu sein. Schon immer hat man hier Geld mit unsichtbaren Gewerben wie dem Bankenwesen und Versicherungen gemacht. Und obwohl die Stadt durchaus dafür bekannt ist, ihre Erfolge (zum Beispiel das Scott Monument) zu feiern und zu ihren Eseleien zu stehen (das nicht fertig gestellte Parthenon auf Carlton Hill), so protzt man doch nicht. Ferraris sind nicht viele zu sehen. Der Reichtum sitzt still hinter den dicken georgianischen Mauern der Neustadt.
Jemand nannte Edinburgh einmal eine Stadt der „öffentlichen Redlichkeit und des privaten Lasters“ und auch wenn das Label „Redlichkeit“ etwas an Glanz eingebüßt hat, seitdem mit der Royal Bank of Scotland einer der größten Arbeitgeber der Stadt beinahe Pleite gegangen wäre, ist an dem Satz immer noch etwas Wahres dran.
Wenn man als Besucher lediglich auf den einschlägigen Touristenpfaden unterwegs ist, bekommt man allerdings nur die alleröffentlichste Seite der Stadt zu Gesicht. Wenn Sie diese Wege aber nur ein kleines Stück weit verlassen, erhalten Sie einen wesentlich umfassenderen Eindruck. Aus diesem Grund mache ich mich an einem stürmischen Tag auf zu einem Spaziergang.
Nicht zu überschwänglich
Ausgangspunkt ist die Oxford Bar, und sie ist alles andere als willkürlich gewählt. Ich habe sie schon als junger Schriftsteller entdeckt. Damals hatte ich die Figur des Kriminalinspektors John Rebus erfunden und brauchte einen Ort für ihn. Die Oxford Bar liegt zentral, wenn auch verborgen. Sie ist klein, bietet aber den besten Querschnitt dessen, was das Edinburgher Leben zu bieten hat.
Als ich den Laden betrete, nicken mir ein paar Leute zur Begrüßung zu – nicht zu überschwänglich. Hinter dem Tresen hat Kirsty meinen Getränkewunsch bereits erraten: ein Pint Deuchars India Pale Ale. Edinburgh hatte einmal über 40 Brauereien, heute gibt es nur noch eine. Sie heißt Caledonian Brewery und da kommt auch mein IPA her.
Das Ox gehört Harry Cullen. Er sang einmal in einer Folk-Band (auch wenn er es mir nicht danken wird, dass ich das hier erwähne) und hat ein ganzes Arsenal eigener Geschichten. Eigentlich hat jeder, den ich bisher in der Oxford Bar getroffen habe, eine Geschichte zu erzählen. Ich frage Harry, ob schon Rebus-Fans hier waren – er verdreht die Augen. „Zwei von ihnen haben Fotos gemacht – ohne etwas zu bestellen!“ Er fragt mich, ob ich noch eins nehme. Ich schüttele den Kopf. „Muss noch was erledigen“, sage ich zu meiner Entschuldigung. „Das ruiniert mir den Umsatz“, nuschelt er, während er ein Glas poliert.
Mit einem Achselzucken und einem Wink verlasse ich die Kneipe, gehe über den nahe gelegenen Charlotte Square (der Wohnort des Ministerpräsidenten) und erreiche die regennasse Queensferry Street. Als ich zum Randolph Cliff komme, sind schon bald keine Geschäfte mehr zu sehen. Ich überquere die Straße, gehe Bells Brae hinunter und biege an einem Schild rechts ab, auf dem steht, dass es nach Leith knapp drei Meilen sind. Dieser Weg entlang dem Water of Leith ist bis auf einen gelegentlichen Jogger oder Hundebesitzer völlig menschenleer.
Höhen und Tiefen
Robert Louis Stevenson nannte Edinburgh einmal eine „abschüssige Stadt“, und hatte damit vollkommen recht. Egal, ob man vom Schloss aus die Princess Street hinuntergeht oder sich am Cowgate den Kopf verdreht, um die George IV Bridge über einem zu betrachten – immer hat man das Gefühl, dass Edinburgh extrem viele Höhen und Tiefen hat.
Ich gehe weiter zum Raebun Place und gelange so von einem Dorf (Dean Village) ins nächste (Stockbridge). Von hier aus ist es ein kleiner Spaziergang, dann ist man in der Neustadt angekommen. In den 1770ern begann man damit, sie zu bauen, weil die Altstadt zu voll und unhygienisch wurde.
Jetzt muss ich zugeben, dass ich mich verlaufen habe: Ich will in die Kay’s Bar in der Jamaica Street. Irgendwie muss ich sie verpasst haben, als ich an den Gallerien in der Dundas Street und einem der besten Fish-and-Chips-Läden – das L’Alba D’Oro – vorbeigegangen bin. Ich gehe die Heriot Street hinunter, mache dann kehrt und lande so doch noch im Kay’s – einer der glücklichen Zufälle, die einen Spaziergang durch Edinburgh zu solch einem Genuss machen.
Es gibt Städte, in denen an jeder Ecke geredet wird, aber nicht hier. Edinburgh ist verschwiegen und reserviert – ein Ort zum Denken. Möglicherweise werden die Edinburgher nur lockerer, wenn sie ihre Lieblingskneipe betreten. Nach einem schweigsamen Spaziergang tut es gut, die Stimmbänder zunächst zu schmieren und dann zu trainieren: Im Kay’s unterhält man sich.
Speisen in der Commercial Bank of Scotland
Ausgeruht klettere ich wieder den Berg hinauf, gehe die Queen Street entlang, an der Scotch Malt Whiskey Society vorbei, die sich damit brüstet, dass von ihren Hunderten Malts keine zwei gleich schmecken (selbst recherchieren!). Ein Schwenk nach rechts bringt mich in die George Street, die Grande Dame des Viertels um die Princess Street.
Früher wimmelte es hier einmal vor lauter Banken, heute sind die meisten von ihnen zu Bars und Restaurants umgewandelt. Da, wo sich heute The Dome befindet, war früher zum Beispiel einmal der Hauptsitz der Commercial Bank of Scotland. Hier kann man nun unter der spektakulären Glaskuppel der ehemaligen Haupthalle speisen.
Mittlerweile ist der Himmel aufgeklart und ich kann daher keinen Grund erkennen, warum ich jetzt schon nach Hause gehen sollte. Ich muss ja auch noch einkaufen: Ein Londoner Freund sammelt Langspielplatten und kommt jedes Jahr ein paar Mal nach Edinburgh, weil das Angebot hier so gut ist. Es gibt einen Plattenladen auf dem Cannongate und eine ganze Reihe auf dem Leith Walk. Weitere gute Läden kann man entlang Southbridge finden.
Zu ihnen gehört auch das Backbeat, das Doughie McShane 1981 eröffnete. Damals verkaufte er vor allem Blues-Alben, heute so ziemlich alles und schätzt sein Angebot auf 65.000 Artikel. Ein junger Engländer hat etwas gefunden: Offenbar ist er Blues-Fan. Mein eigener Sohn ist 17 und liebt ebenfalls Vinyl und Blues. Ich frage Dougie, was er davon hält. „Das ist großartig“, sagt er. „Teenager kaufen sich Plattenspieler und entdecken das Vinyl, weil es einfach den besseren Klang hat – nicht so schrill und viel authentischer.“
Unheilige Trinität
Auf dem Weg zum Backbeat bin ich an meinem Lieblingsmuseum vorbeigekommen – Surgeon’s Hall auf der Nicolson Street, wo man sich die Totenmaske des Serienmörders William Burke und ein aus Menschenhaut angefertigtes Portmonnaie ansehen kann, was ich viel interessanter finde als Dinosaurierknochen.
Nachdem ich es geschafft habe, das Backbeat mit nur einem Neuerwerb (einer Sammlung von Boogie-Woogie-Melodien für Piano) zu verlassen, entdecke ich in einem Schaufenster ein paar Romane der amerikanischen Krimiautorin Patricia Highsmith – die muss ich haben.
Jetzt habe ich einen Plan, winke mir deshalb ein Taxi heran und sage dem Fahrer, er solle mich zur Blackford Glen Road bringen. Wir reden über den Streik der Müllarbeiter, das Wetter und die Bauarbeiten an der neuen Tram-Bahn. Er ist der Ansicht, diese unheilige Trinität werde dem Tourismus in der Stadt den Garaus machen. Ich erinnere ihn daran, dass Edinburgh erst vor Kurzem zur besten Stadt Großbritanniens gewählt wurde. „Irgendwo muss es also Leute geben, die uns mögen“, sage ich. Den Fahrer scheint das aber nicht zu überzeugen.
Er lässt mich in einer Sackgasse raus. Ein Gehweg führt in den bewaldeten Park namens Hermitage – ein weiteres von steilen Anstiegen umgebenes Tal. Das hier könnte auch mitten auf dem Land sein. Durch Hermitage fließt ein Bach, aus dem – wie könnte es anders sein – ein Hund steigt, der sich gleich neben mir trocken schüttelt und einen Stock vor meinen Füßen deponiert. Der Besitzer des Tieres entschuldigt sich, aber das ist schon in Ordnung.
Das verborgene Edinburgh
Hier ist es wieder, das verborgene Edinburgh. Es scheint, als kämen nur Einheimische hierher. Ihre Kinder tragen Gummistiefel und spielen mit Ästen oder verschwinden zwischen den Bäumen. Fremde lächeln einen an und nicken einem zu. Wer hier ist, ist überhaupt nie ein Fremder, sondern Teil einer Gemeinschaft.
Als ich wieder auf die Braid Road komme, sind meine Batterien wieder aufgeladen und es ist nur noch ein kurzer Weg bis Morningside, wo meine letzte Station auf dem Nachhauseweg liegt. Das Canny Man’s ist ein weiterer berühmter Edinburgher Pub, voller Krimskrams und versteckten Winkeln, in denen man ungestört in aller Ruhe ein Pint trinken oder einen Malt genießen kann.
Wenn man in Ruhe die Zeitung (oder einen Roman von Patricia Highsmith) lesen will, ist man hier genau richtig, wenn man sich unterhalten will, ebenso. Morningside ist ein weiteres „Dorf“ der Edinburgher Neustadt, an dessen Rand ich in einer WG wohne. Zufällig ist das ganz in der Nähe vom Backbeat. Ich habe auch schon in Tollcross, Oxgangs und Peffermill gewohnt. Jedes Viertel hat seine ganz eigene Atmosphäre und ist für mich mit ganz besonderen Erinnerungen verbunden.
Der heutige Spaziergang hat nicht einmal vier Stunden gedauert. Ich kenne meine Stadt nun wieder ein wenig besser, verspüre aber das Bedürfnis, sie noch besser kennen zu lernen.
Ian Rankin, geb. 1960, zählt zu den populärsten Krimiautoren. Sein Inspector John Rebus ermittelt seit 1987 in der schottischen Stadt Edinburgh.
Die ungekürzte Version dieses Textes finden Sie (in englischer Sprache) in der November-Ausgabe des Lonely Planet Magzins.
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