Von den Feinden der offenen Gesellschaft

Die Geister des Marxismus Das Erbe Marx' ist im Rahmen des 200. Geburtstages des Denkers en vogue, die Marxschen Theorien finden Widerhall in der bürgerlichen Presse. Zur Kritik der Rezeption

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Von den Feinden der offenen Gesellschaft

Bild: OpenClipart-Vectors/Pixabay (CC 0)

Dass der Marxismus sich rühmt nach Trotzki und Lenin, nach Revolution und Reaktion, nach Glasnost und der DDR noch am Leben zu sein, soll bereits in das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vorgedrungen sein. Auch dort gedenkt man sinnlich des 200-jährigen Jubiläums des großen Genossen Marx, eines Denkers, der ja nicht nur revolutionär und aufwieglerisch, sondern trotz allem auch Deutscher und Philosoph war. Zwei bürgerliche Pluspunkte, die über dem Kopf von Marx fast den ersehnten, selbstverständlich laizistischen, Nimbus des Bildungsbürgertums erleuchten lassen.

Marx, der deutsche Philosoph, so auch die Betonung des tippende Crescendos allerlei FeuilletonistInnen, war ja auch Kritiker des Absolutismus, und unterstützte er nicht sogar im Rahmen des frischen Reichstags des Norddeutschen Bundes den liberalen Flügel? Da kommt uns ja zum Marxschen Jubiläum gleich eine Strophe aus der Internationalen zugute: „Du passé faisons table rase“. Also, um es in der Fremdsprache unserer Epoche zu sagen, einen clean slate mit der Geschichte zu vernehmen. So erfolgreich mit der Geschichte die Tabula rasa zu machen tat es der deutsche Liberalismus wohl zuletzt im Niederschlagen der Münchner Räterepublik im Jahre 1919 – auch ein näherrückendes Jubiläum. Doch genug geschwafelt, dies wusste schon Marx an den eigenen Texten zu bemängeln. Marx ist kein Liberaler. Die bedachte Inszenierung des bildungsbürgerlichen Marx, der uns im Rahmen des Potlatch der Geschichte für das einundzwanzigste Jahrhundert ein paar Denkanregung mitgab, die uns jetzt helfen sollen, die aktuellen Krisen oder die Deregulierung der Finanzwirtschaft zu verstehen, und im besten Fall einen Master der Pluralen Ökonomik an der Universität Siegen bescheren, ist nicht Marx.

Die waghalsigen Argonauten der Biographik, die sich verloren durch die Klippen des Marx‘schen Werkes odyssierten – von Neffe über Jones bis zu Sperber –, zeigen uns einen Marx, der mal weniger mal mehr dem Bild des „Kleinbürger Marx“ der Epoche entspricht. Bei Sperber finden wir Einblick in die Dynamik eines Denkers im Rausche des Denkens eines vergangenen Jahrhunderts, ein Marx streng im Kontext seiner Zeit. Bei Neffe rauschen die Bäche der Prognostik, der Eklektizismus präsentiert wie Mitbringsel aus dem kritischen Mexiko-Aufenthalt des letzten Jahres (immerhin haben wir ja auch das Haus Trotzkis besucht), die Marxsche Kabbala. Einzelner Gedanken des Denkers können wir uns ja auch bemächtigen, so der trällernde Tenor. Kritisieren wir mit Marx doch die Balance der chinesischen Wirtschaft, oder überlegen wir uns, wie wir die Entfremdung, also den Arbeitsstress, oder den Konsum, oder auch: den Biomüll kritisieren! Die Biographik legt die Vorlage, das Feuilleton schießt das Tor, und so haben wir einen zahmen Marx zum 200sten Geburtstag. Es gibt vegane Karottentorte und Mandelmilchdrinks.

So weit so gut, doch regt sich dann eben doch noch der Marxismus. Ein Marxismus, der sich nicht nur auf ein paar verstreute Gedanken Marx‘ bezieht, und das Zitat „Ich bin kein Marxist“ im Kontext der Auseinandersetzung Marx‘ mit seinem werten Schwiegersohn Paul Lafargue gelesen hat. Dieser Marxismus – und an diesem Punkt möge den FreundInnen der offenen Gesellschaft unwohl werden – bezieht sich auf das theoretische Erbe Marx‘, welches ebenjener zusammen mit Engels entworfen hat. Die Rede ist vom historischen Materialismus. Diese Theorie, die dem Marxschen Werk eigentlich so zentral ist, scheint ihr doch so fern zu sein. Marx mag viel gewesen sein – Deutscher, Jude, Philosoph, ja vielleicht sogar Revolutionär (wollen wir mal nicht so sein, auch wir haben unser Occupy) –, aber historischer Materialist? Und was will der Materialismus eigentlich?

Um es kurz zu sagen: der historische Materialismus ist die Wissenschaft der Geschichte. Nein, nicht die Annales-Schule, sondern ein Studium der Gesellschaft auf Basis materieller Verhältnisse. Diese materiellen Verhältnisse beziehen sich auf den Produktionsprozess unseres kapitalistischen Produktionsmodus. Dieser Produktionsmodus zeichnet sich dadurch aus, dass die Mittel die zur Produktion benötigt werden, lapidar das Kapital, sich in Privatbesitz befindet. Diesem Tatbestand können wir entnehmen, dass ich zur Reproduktion meines eigenen Lebens mich, wenn ich kein Kapital besitze, an jene, die es doch besitzen wenden muss um für Speis‘ Trank‘ und Unterkunft zu fronen. Damit sei kein moralisches Urteil zu fällen – dem Marxismus ist es schnuppe, ob die KapitalistIn jetzt morgens gratis Tee und Duftspray verteilt oder im Stile Chaplins an den Rädern der Industrie dreht. Dem Marxismus geht es auch nicht darum, zu argumentieren, dass es ungerecht sei, dass die ArbeiterInnen kein Kapital besitzen. Der marxistische Anspruch ist vielmehr, die Gesamtheit des kapitalistischen Produktionsmodus zu untersuchen und sie dialektisch zu verstehen. Etwas dialektisch zu verstehen bedeutet, nicht zu vergessen, dass wir bis vor ein paar Jahrhunderten noch nach unserem feudalen Stand bemessen wurden, dass die aktuellen kapitalistischen Eigentumsverhältnisse aus dem Feudalismus hervorgegangen sind, und zwar durch eine umgreifende revolutionäre Welle – die der bürgerlichen Revolution. Dialektik heißt zu erkennen, wie der Kapitalismus geworden ist, und wie er auch anhand der inhärente Widersprüche wieder auf den bewerten Müllhaufen der Geschichte zu werfen ist. Denn, wie wir materialistisch darlegten, gibt es objektive Widersprüche. Jeder der meine, es gäbe keine materiellen, objektiven Kräfte in der Gesellschaft, der meine alles sei Diskurs und Sozialisierung in einer ungreifbaren Dynamik, möge aufhören für Miete und Nahrung zu zahlen und sehen, wie schnell die scheinbar „ungreifbaren“ Kräfte materiell werden.

Um die Idee des historischen Materialismus klarer erscheinen zu lassen, sei noch ein Zitat aus der deutschen Ideologie beizufügen, „diese Geschichtsauffassung beruht also darauf, den wirklichen Produktionsprozeß, und zwar von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens ausgehend, zu entwickeln und die mit dieser Produktionsweise zusammenhängende und von ihr erzeugte Verkehrsform, also die bürgerliche Gesellschaft in ihren verschiedenen Stufen, als Grundlage der ganzen Geschichte aufzufassen und sie sowohl in ihrer Aktion als Staat darzustellen, wie die sämtlichen verschiedenen theoretischen Erzeugnisse und Formen des Bewußtseins, Religion, Philosophie, Moral etc. etc., aus ihr zu erklären und ihren Entstehungsprozeß aus ihnen zu verfolgen, wo dann natürlich auch die Sache in ihrer Totalität (und darum auch die Wechselwirkung dieser verschiednen Seiten aufeinander) dargestellt werden kann.“

Diesen historischen Materialismus hat sich auch Lenin bemächtigt, als er die Erfahrungen der Revolution von 1905 analysierte und in den Sowjets, den ArbeiterInnenräten, eine revolutionäre Organisationsstruktur erkannte, die die Diktatur des Proletariats realisieren könnte. Ja, auch die Diktatur der ArbeiterInnenklasse ist Marx. Gemeint ist damit die Diktatur einer Klasse, allerdings nicht die Diktatur jener Klasse die aktuell an der Macht ist, die Bourgeoisie, sondern die Diktatur des Proletariats. Diese Diktatur wäre also die Klassenherrschaft der weltweit größten Klasse, jener die kein Kapital besitzt und ihre Arbeitskraft verkaufen muss um zu überleben. Dieser proletarische Staat wäre somit einerseits diktatorisch, andererseits jedoch zugleich die partizipativste Regierungsform aller Zeiten, da das Gros der Gesellschaft, anhand von Räten über die Produktion und Verwaltung verfügen würde. Natürlich bleibt die Herrschaft eine Herrschaft über die bourgeoise Minorität, wie Engels schon sagte, sind Revolutionen autoritär. Wer das nicht glaubt, möge nur ein Geschichtsbuch aufschlagen und nachforschen woher diese ganzen Parlamente überhaupt kommen.

Es ist dies das Erbe Marx‘, nicht ein paar verlorene Zitate zur Profitrate, die uns plurale ÖkonomInnen anraten zu verwenden, um die Finanzwirtschaft zu sanieren, sondern die Wissenschaft des historischen Materialismus, die es uns ermöglicht, den Ablauf der Geschichte zu verstehen, das Werden von Produktionsprozessen zu analysieren, sowie den materiellen Aufbau, die Klassenstruktur ebenjener Produktionsprozesse, um schließlich einzugreifen. Dieser Akt des Eingreifens ist kein Akt der für eine Gruppe wissenschaftlich geschulter Top-ÖkonomInnen oder Bonner think-tanks reserviert ist, dieses Eingreifen in die Geschichte ist der revolutionären Aktion der ArbeiterInnenklasse vorbehalten. Es ist ebenfalls das Erbe Marx‘, in die Schuhe der Feinde der offenen Gesellschaft, wie sie Popper titulierte, zu treten und in den Pantoffeln von Lenin und Luxemburg den Sturz der bürgerlichen Gesellschaft zu erkämpfen.

Im Rahmen des 200sten Geburtstags von Karl Marx schwirren die Besänftigungs- und Verzerrungsversuche des Marxschen Werkes wie wohl genährte Hummeln unter dem Banner des Eklektizismus durch die bürgerliche Welt. Während somit gleichzeitig ein zahnloser Marx vorgehalten wird, rankt sich auf dem Titelblatt das Entsetzen um die Schlagzeilen, sei der Grund ein Börseneinbruch oder lediglich die satirisch hochwertige Arbeit der deutschen Sozialdemokratie. Aus marxistischer Perspektive, ist dieser Verkürzung die Notwendigkeit entgegenzuhalten, Marx in dem Kontext der revolutionären ArbeiterInnenbewegung zu stellen, Marx im Kontext des historischen Materialismus zu verstehen. Marx 2018 konsequent zu lesen, bedeutet 2017 das hundertjährige Jubiläum der russischen Revolution zu verfolgen, sowie 2019 den Blick auf die ArbeiterInnenräte von Wien bis Bremen aus dem Jahr 1919 zu schwenken. Lassen wir uns als MarxistInnen die Fremdzuschreibung als „Feinde der offenen Gesellschaft“ zu eigen machen, und die Missinterpretation eines Marxismus als linken Liberalismus in die Asservatenkammer der bürgerlichen Ideologie stellen.

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