Das heiße Rennen um den Nordpol

Arctic Security Kann der verdeckte Streit um die Arktis das verblasste Prestige der NATO wieder zum glänzen bringen? Welche Strategie wird verfolgt und wer spielt eine wichtige Rolle?

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Die Arktis war bis vor einigen Jahren noch einer der wenigen ruhigen und größtenteils auch “in Ruhe gelassenen” Regionen der Welt, doch die geopolitischen Entwicklungen der letzten Zeit, rücken den Nordpol immer mehr in den Vordergrund. Auch die NATO verhielt sich über die vergangenen drei Dekaden eher zurückhaltend doch so wie sich die Zeiten unaufhaltsam ändern, muss sich auch die NATO an die neuen Verhältnisse anpassen.

Mittlerweile haben einzelne NATO-Mitglieder mit Territorium oder Hoheitsgewässern in der Arktis (Kanada, Dänemark, Island, Norwegen und die Vereinigten Staaten) die Initiative ergriffen, um ihre arktischen Interessen voranzubringen. Aber auch die Vereinigten Staaten haben in der Region eine durchsetzungsfähigere Rolle übernommen. So machte der US-amerikanische Außenminister Mike Pompeo auf der Ministertagung des Arktischen Rates im Mai 2019 zum Verhalten Russlands und Chinas in der Arktis klar, dass die US-Luftwaffe mehr Kampfflugzeuge der fünften Generation in Alaska stationieren wird und die US-Marine reaktiviere die Zweite Flotte mit Verantwortung für den Nordatlantik. Das Verteidigungsministerium und einzelne Dienststellen haben mehrere Arktisstrategien veröffentlicht oder werden dies ebenso in Kürze tun. Die U.S. Coast Guard veröffentlichte im April 2019 einen Arctic Strategic Outlook, gefolgt von einer Arktisstrategie des Verteidigungsministeriums im Juni 2019 und der U.S. Air Force im Juli 2020. Es wird erwartet, dass die Navy und die Army Ende 2020 bzw. 2021 mit überarbeiteten Arktisstrategien nachziehen werden.

Bislang beziehen sich allerdings all diese Strategien auf den Wert regionaler Partnerschaften mit gleichgesinnten Staaten, was die Frage aufwirft - sollte die NATO eine größere Rolle in der Arktis spielen? Einige argumentieren ja, indem sie sagen, dass die NATO ein arktisches Sicherheitsforum mit Russland schaffen oder sich mit sichtbarer Notfallplanung befassen sollte. Andere sind der Meinung, dass es innerhalb des Bündnisses keinen Konsens über Maßnahmen in der Arktis gibt, sollte die Angelegenheit den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen werden. Camille Grand, die stellvertretende NATO-Generalsekretärin für Verteidigungsinvestitionen, sagte bei einem kürzlich geführten Interview zu diesem Thema: "Ich glaube, wir sind noch nicht so weit".

NATO - Ja oder Nein?

Die NATO selbst sollte idealerweise eine sehr begrenzte, direkte Rolle in der Arktis spielen. Das Bündnis müsste sich nur mit einer begrenzten Notfallplanung befassen und nur gelegentlich eine große Übung wie Trident Juncture im Jahr 2018 durchführen. Mehr zu tun birgt das Risiko, die Einheit des Bündnisses zu schwächen und Russland unnötig gegen sich aufzubringen. Insbesondere sollte die NATO es vermeiden, ein neues Bündnis Kommando für die Arktis zu schaffen, auf den Beitritt Schwedens und Finnlands zum Bündnis zu drängen oder ein neues arktisches Sicherheitsforum zwischen der NATO und Russland einzurichten. Diese politischen Optionen wurden in Experten Dialogen erörtert und sollten zumindest vorläufig auf den Tisch gelegt werden. Anstatt sich über die NATO zu koordinieren, was die heutige Politik fortsetzen würde, sollten die Mitgliedstaaten und ihre Nicht-NATO-Partner den Sicherheitsgefahren in der Arktis eher durch häufigere und intensivere unilaterale, bilaterale oder koalitionsbasierte Verteidigungszusammenarbeit begegnen, die sich auf Kaltwettertraining, regelmäßige Militärübungen und turnusmäßige Truppenverlegungen konzentriert. Dies ist eine subtile, aber wichtige Unterscheidung. Einige physische Aktivitäten würden bei dieser alternativen Politik gleich aussehen, aber sie würden nicht unter einem NATO-Slogan stehen.

Problem Nummer 1 - das Klima

Der Klimawandel verändert die geopolitischen Verhältnisse in der Arktis. Die Arktis erwärmt sich zwei- bis dreimal so schnell wie der Rest der Erde, mit entsprechender Eisschmelze, Aufweichung des Permafrosts, höheren Wellen und Erosion sowie häufigeren Flächenbränden. Daraus ergibt sich das Potenzial für einen besseren Zugang zur Arktis, für den Abbau von Ressourcen und für maritime Aktivitäten, aber auch für eine größere Bedrohung der menschlichen Sicherheit der arktischen Bevölkerung, von der einige in NATO-Staaten leben.

Amerikas Rivalen interessieren sich zunehmend für Fragen der Arktis. Russland - lange Zeit eine arktische Macht - hat sein arktisches Territorium erneuert, erweitert und neue militärische Einrichtungen auf seinem gesamten arktischen Gebiet entwickelt, die sich hauptsächlich, aber nicht ausschließlich auf den nördlichen Seeweg konzentrieren. Darüber hinaus hat die russische Marine Übungen in der Ostsee, der Barentssee und der Norwegischen See durchgeführt, während Bodenübungen den Kampf zwischen arktischen Staaten simulieren. Kommerzielle Fischereifahrzeuge bewegen sich weiter nördlich auf der Suche nach bisher nicht verfügbaren Fischbeständen und bedrohen so die Lebensgrundlage der Küstengemeinden.

Wer spielt im Club des Nordpols mit ?

Drei der acht Anrainerstaaten der Arktis - Finnland, Russland und Schweden - sind keine NATO-Mitglieder, und zumindest Russland hat gute Gründe, sich gegen eine größere Rolle der NATO in der Region auszusprechen. Schließlich wird Moskau im Mai 2021 den auf zwei Jahre rotierenden Vorsitz des Arktischen Rates und des Forums der Arktischen Küstenwache übernehmen. Zu den regionalen Maßnahmen Chinas gehören verstärkte wissenschaftliche, diplomatische und maritime Aktivitäten sowie bedeutende Investitionen in der Region. All diese Trends liegen außerhalb der Kontrolle der NATO, könnten jedoch die Wahrnehmung und das Verhalten der NATO-Mitglieder beeinflussen.

Während die NATO-Mitglieder in Bezug auf ihre Interessen in der Arktis mit mehreren Herausforderungen konfrontiert sind, ist es unglaublich schwierig, innerhalb des Bündnisses eine gemeinsame Politik darüber zu entwickeln, was in dieser Hinsicht zu tun ist. Entscheidungen der NATO hängen vom Konsens ab oder zumindest davon, dass die Mitglieder ein Veto gegen eine anstehende Initiative zurückhalten. Nur weil es fünf NATO-Mitglieder in der Arktis gibt, bedeutet das nicht, dass jedes einzelne eine größere Rolle der NATO in der Arktis unterstützt. Kanadas Politikrahmen für die Arktis und den Norden z.B. betont wiederholt "Kanadas fortdauernde Souveränität in der Arktis" und die Notwendigkeit, "Kanadas militärische Präsenz zu verstärken" und "Kanadas Domänenbewusstsein" (Hervorhebung hinzugefügt), mit einigen Verweisen auf die bilaterale Sicherheitszusammenarbeit, aber ohne die NATO zu erwähnen. Kanada ist nicht das einzige Land, das sich gegen eine stärkere Rolle des Bündnisses in der Arktis aussprechen könnte. Die Bündnismitglieder in Süd- und Osteuropa könnten einen verstärkten arktischen Schwerpunkt darin sehen, dass NATO-Ressourcen von Sicherheitsproblemen im östlichen Mittelmeer, auf dem Balkan, in der Ukraine oder in der Ostsee abgezogen werden. Kurz gesagt, eine stärkere Rolle des Bündnisses in der Arktis erfordert überzeugende skeptische Bündnispartner, und dies zu tun, könnte die diplomatischen Bemühungen nicht wert sein.

Die größten Gefahren

Mit der möglichen Ausnahme der russischen Militarisierung entlang des Nördlichen Seewegs stellt keiner der oben genannten Punkte eine militärische Bedrohung für die NATO dar. Dennoch verdienen drei Bedrohungen der militärischen Sicherheit eine Diskussion: Die russischen Streitkräfte in der Arktis könnten europäische NATO-Mitglieder oder Nordamerika bedrohen, und die wissenschaftlichen Aktivitäten Chinas in der Arktis könnten die Grundlage für künftige militärische Aktivitäten legen.

Russland - ein Land, mit viel Konfliktpotential

Moskau könnte von der russischen Arktis aus europäische NATO-Mitglieder angreifen und China könnte die Grundlage für künftige militärische Aktivitäten in der Arktis legen. So unwahrscheinlich es auch ist, könnte Russland versucht sein, während eines Konflikts mit der NATO anderswo in der Arktis eine Front zu eröffnen. Darüber hinaus könnte eine militärische Krise, die in den baltischen Staaten oder in der Schwarzmeerregion beginnt, unbeabsichtigt in die Arktis übergreifen. NATO-Mitglieder könnten russische Ziele in der Arktis von luft- oder seegestützten Plattformen aus bedrohen oder angreifen, wenn sie die russische Nordflotte oder die Bodentruppen nördlich des Polarkreises während einer Krise als potentielle Bedrohung ansehen. Ein militärischer Konflikt könnte auch aufgrund von Fehlberechnungen oder Unfällen in der Barentssee oder im Nordatlantik zwischen den See- oder Luftstreitkräften beider Seiten entstehen.

Russland könnte die Vereinigten Staaten oder Kanada bedrohen, indem es Fernkampfmittel in der russischen Arktis einsetzt, um die NATO vom Eintritt in Konflikte oder von Aktivitäten in der "Grauzone" in den baltischen Staaten oder der Schwarzmeerregion abzuhalten. Die jüngste Militarisierung Russlands in der Arktis ändert nichts an der Tatsache, dass es seit Jahrzehnten die Fähigkeit besitzt, Nordamerika mit Langstreckenwaffen (auf Raketen, U-Boote und Bomber) anzugreifen, die durch die Arktis geschossen werden.

China - der undurchsichtige Partner?

Obwohl Peking derzeit nicht über nachhaltige militärische Mittel in der Arktis verfügt, könnten chinesische wissenschaftliche oder wirtschaftliche Aktivitäten in der Arktis als trojanisches Pferd für Verteidigungsaktivitäten, nachrichtendienstliche Sammlung oder nicht verteidigungsorientierte Einflussnahme/Aggression dienen. Zum Beispiel könnten Forschungsschiffe, die durch arktische Gewässer fahren, auch Informationen über Elektronik/Signale sammeln, den Meeresboden kartografieren, um die U-Boot-Navigation oder -Erkennung zu unterstützen, oder Sonarbojen auslegen. Jedes von ihnen hat potenzielle militärische Anwendungen. Andere chinesische Aktivitäten - wie Versuche der wirtschaftlichen Einflussnahme oder die Kontrolle der Versorgung mit seltenen Erden - sind zwar aus westlicher Sicherheitsperspektive potentiell beunruhigend, stellen jedoch keine direkten militärischen Gefahren dar, die für die Charta der NATO relevant sind.

Vier politische Optionen für die NATO in der Arktis

Wenn man die Rolle der NATO in der Arktis vor diesem kontextuellen Hintergrund betrachtet, sollten vier Hauptoptionen in Betracht gezogen werden: Verbesserung der Ausbildung, Partnerschaften und Operationen in der Arktis, die nicht der NATO angehören; Schaffung eines NATO-Arktis-Kommandos; Einladung Schwedens und Finnlands, der NATO beizutreten; und Einrichtung eines Sicherheitsforums NATO-Russland. Beschleunigung der Ausbildung und Übungen von Nicht-NATO-Mitgliedern

Die NATO-Mitglieder könnten die derzeitigen unilateralen, bilateralen und multilateralen Operationen und Partnerschaften außerhalb der Grenzen des Bündnisses fortsetzen oder vielleicht sogar beschleunigen. Diese Option steht im Einklang mit dem, was die US-Marine bereits mit ihrer Zweiten und Sechsten Flotte an der Seite Norwegens (eine Rotationstruppe der Marine, Anlaufen von U-Boot-Häfen, Bomber-Flybys und regelmäßigere Übungen) und mit Island (rotierende Präsenz von P-8 und Tankflugzeugen) tut. Zusätzliche Rotationen und Übungen würden gemeinsame Fachkenntnisse in Kaltwetteroperationen zwischen den Teilnehmerstaaten aufbauen und die Entschlossenheit des Westens gegenüber Russland signalisieren. Diese Initiativen wären zwar außerhalb des Bündnisses angesiedelt, stünden aber im Einklang mit dem Schwerpunkt der NATO auf Ausbildung und Übungen im Rahmen der Bündnisinitiative "Connected Forces". Nicht zuletzt würden eine signifikante turnusmäßige Präsenz und Übungen eine robustere Überwachung der Aktivitäten Chinas in der Arktis ermöglichen.

Russland reagiert sensibel auf Ausbildungen und Übungen der NATO in der Arktis. Wenn man einen Bündnisspitznamen vermeidet, ist es weniger wahrscheinlich, dass informelle Aktivitäten einzelner NATO-Staaten oder Gruppen von Staaten eine kontraproduktive russische Reaktion auslösen. In der Vergangenheit hat Moskau diplomatische Erklärungen abgegeben und militärische Übungen durchgeführt, wenn es durch militärische Aktivitäten der NATO in der Arktis gestört wurde. So blockierte Russland z.B. während der NATO-Übung "Trident Juncture" 2018 GPS-Signale. Russland führte nach einer NATO-Übung im Mai 2020 in der Barentssee und im Februar 2020 kurz vor der NATO-Übung zur kalten Reaktion in Norwegen Übungen mit scharfer Munition durch. Es gibt zahlreiche kleinere Beispiele dafür, dass russische Piloten und Schiffe bei NATO-Übungseinsätzen aggressiv agierten. Ein weiterer Vorteil dieser Option besteht darin, dass sie es vermeidet, süd- oder osteuropäische NATO-Mitglieder davon überzeugen zu müssen, Ressourcen für die Ausbildung bei kaltem Wetter aufzuwenden, was möglicherweise auf Kosten der traditionelleren Ausbildung geht, insbesondere wenn die Verteidigungshaushalte in einer COVID-19-Welt oder in einer Welt nach einer Pandemie eingeschränkt sind.

Die Alternative - ein NATO-Arktis-Kommando

Eine alternative, bündnisorientierte Option wäre die Schaffung eines NATO-Hauptquartiers des Arktischen Kommandos, das die operative Kontrolle über die NATO-Streitkräfte in hohen Breitengraden ausüben würde. Ein Arktis-Kommando könnte der neuen Multinationalen Division Nord der NATO nachempfunden werden, die mit der Verteidigung der baltischen Staaten betraut wäre. Das Hauptquartier würde eine eigene NATO-Planungs-, Kommando- und Kontrolleinheit mit Fachkenntnissen im hohen Norden hinzufügen, die vermutlich die Kommandobeziehungen innerhalb der NATO im Falle einer arktischen Krise oder eines arktischen Konflikts klären würde. Und wie die Multinationale Division Nord könnte das Bündnis über redundante Hauptquartiere verfügen, mit einem im Einsatzgebiet (vielleicht in Norwegen) und einem weiteren außerhalb der Arktis.

Diese Option hat mehrere Nachteile. Sie dupliziert einige der bestehenden bilateralen Fähigkeiten und Beziehungen im Rahmen der amerikanisch-norwegischen Verteidigungspartnerschaft und bei der Koordinierung der Nordatlantikverteidigung zwischen der Zweiten und Sechsten Flotte der Vereinigten Staaten und dem erneuerten Gemeinsamen Streitkräftekommando der NATO. Vielleicht noch wichtiger ist, dass ein Arktis-Kommando einer kollektiven Antwort der NATO auf sicherheitspolitische Herausforderungen Vorrang einräumen würde. Im Prinzip ist dies mit dem Zweck der NATO vereinbar und eine gute Sache. Praktisch schafft es jedoch Probleme innerhalb des Bündnisses. Die Kanadier könnten es als Schwächung ihrer souveränen Kontrolle über ihr eigenes Territorium ansehen, wenn sie einer NATO-Reaktion Vorrang einräumen würden. Die Dänen könnten der kanadischen Meinung zustimmen. Ein Arktis-Kommando widerspricht auch dem Geist, den die arktischen Küstenstaaten (insbesondere Kanada, Dänemark, Norwegen und die Vereinigten Staaten, ganz zu schweigen von Russland) in den Ilulissat- und Chelsea-Erklärungen zum Ausdruck gebracht haben, in denen die nationale über die multinationale Kontrolle und Regulierung der Mehrheit der arktischen Gewässer betont wurde. Schließlich stellt sich bei einem Arktis-Kommando die Frage, wessen Streitkräfte diesem Kommando unterstehen würden, was uns wieder zu der Abneigung vieler NATO-Mitglieder bringt, einen Beitrag zu einer Arktis-Truppe zu leisten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese Option voraussetzen würde, dass man innerhalb des Bündnisses einen Konsens über die Notwendigkeit eines anderen Kommandos erzielt und dann die Streitkräfte ausbildet, die diesem Kommando zugeteilt würden oder durch dieses rotieren würden. Ersteres ist schwierig, und letzteres ist unnötig.

Schweden und Finnland zum NATO-Beitritt einladen

Als Reaktion auf die erhöhte Unsicherheit in der Arktis könnte die NATO Schweden und Finnland formell einladen, dem Bündnis beizutreten. Ihre Mitgliedschaft würde bedeuten, dass sieben der acht arktischen Staaten NATO-Mitglieder wären, und dies würde eine ununterbrochene Landbrücke des Bündnisses über die europäische Arktis sowie über die Nord- und Südküste der Ostsee darstellen. Eine Open-Source-Bewertung zeigt, dass beide Länder über starke Streitkräfte verfügen. Finnland würde die Fähigkeiten der NATO um bedeutende Bodentruppen erweitern. Schweden verfügt über fortschrittliche Flugzeuge in seinen Gripen-Kampfflugzeugen, schnelle Patrouillenboote und U-Boote. Aller Wahrscheinlichkeit nach würden beide Länder im Bündnis willkommen sein, und die derzeitigen Mitglieder würden sich kaum beschweren.

Diese Option setzt jedoch voraus, dass Schweden und Finnland tatsächlich der NATO beitreten wollen und die öffentliche Unterstützung dafür haben. Obwohl beide Länder enge Beziehungen zur NATO unterhalten, haben sie beschlossen, außerhalb des Bündnisses zu bleiben, was zum großen Teil auf Bedenken darüber zurückzuführen ist, wie Russland darauf reagieren würde. Darüber hinaus könnte ihre Mitgliedschaft die Verteidigungsplanung der NATO erschweren, da sich beide Staaten in Reichweite vieler russischer Militärsysteme befinden und Finnland eine 1.340 Kilometer lange gemeinsame Grenze mit Russland hat. Die Stärkung eines der beiden Länder würde erfordern, die Ostsee zu überqueren, durch umkämpften Luftraum zu fliegen, eine gefährdete Eisenbahnbrücke von Dänemark oder die beiden südlichen Eisenbahnstrecken von Norwegen nach Schweden zu überqueren oder die skandinavischen Berge zu überqueren, die Mittel- und Nordnorwegen von Schweden trennen. Selbst dann müssten die NATO-Streitkräfte immer noch den Bottnischen Meerbusen überqueren oder das unwirtliche Gelände in der norwegischen Finnmark überqueren, um Lappland in Finnland zu erreichen - und all dies wiederum in leichter Reichweite der russischen Feuerkraft.

Bei dieser Option bestünde das Risiko, eine größere Krise mit Russland auszulösen. Moskau hat wiederholt davor gewarnt, dass die Aufnahme Schwedens und Finnlands in die NATO als eine offene Bedrohung für russisches Territorium angesehen werden würde. Die daraus resultierende politische Krise könnte eskalieren und zu Fehleinschätzungen oder Unfällen führen. Abgesehen von der russischen Rhetorik würde eine Aufnahme der beiden Länder in die NATO nichts dazu beitragen, die russischen Militärpläne grundlegend zu ändern, da sie bereits jetzt die westlich orientierten Länder Schweden und Finnland in ihr Sicherheitskalkül einbeziehen müssen. Und schließlich würde die Aufnahme der beiden Länder nichts dazu beitragen, die chinesischen Sicherheitsbedrohungen zu mildern.

Schaffung eines Arktischen Sicherheitsforums zwischen der NATO und Russland

Die letzte hier in Betracht gezogene NATO-Option wäre die Schaffung eines neuen NATO-Russland-Forums zur Erörterung arktischer Sicherheitsfragen. Befürworter arktischer Sicherheitsforen argumentieren, dass sie eine bessere Kommunikation und die Deeskalation von Zwischenfällen u.a. durch die Schaffung eines regionalen militärischen Verhaltenskodexes fördern könnten. Sie könnten auch den Druck von bestehenden, nicht sicherheitsrelevanten arktischen Foren, wie dem Arktischen Rat, nehmen, sich mit militärischen Fragen zu befassen. All dies macht ein Forum attraktiv.

Diese Option erscheint jedoch undurchführbar, wenn wir über die Teilnahme der NATO an einem solchen Forum sprechen. Der NATO-Russland-Rat, ein bestehendes Forum, das eine ähnliche Aufgabenstellung anstrebt, hat nach der russischen Besetzung der Krim im Jahr 2014 die militärischen Konsultationen zwischen den Streitkräften ausgesetzt. Auf Gedeih und Verderb zeigt die NATO als Institution keine Anzeichen für eine Lockerung dieses Verbots. Damit diese Option funktioniert, müsste sich das russische Militär- und Verteidigungsestablishment auf hoher Ebene beteiligen, und das russische Personal müsste sich an die getroffenen Vereinbarungen halten. Russland versäumte Ersteres, als es um den Runden Tisch der arktischen Sicherheitskräfte ging. Ebenso zeigen gefährliche russische Vorbeiflüge und Marineaktivitäten ihre Bereitschaft, vereinbarte Verhaltenskodizes in internationalen Gewässern und Lufträumen zur Schau zu stellen, ganz zu schweigen von ihren Aktionen in der Ukraine, im Schwarzen Meer und in Syrien.

Ausblick

Die Arktis wird von westlichen Sicherheitsbeamten verstärkt unter die Lupe genommen, und die Frage der Rolle der NATO in der Arktis ist ein Hauptdiskussionsthema. Angesichts der Auswirkungen des Klimawandels, der Aktivitäten Russlands in der Arktis und einer wachsenden Rolle Chinas in der Region könnte es für NATO-Beamte verlockend sein, eine Rolle für das Bündnis in der Arktis zu behaupten. Das Bedrohungsumfeld erfordert jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine robusten NATO-Maßnahmen.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist eine kollektive Antwort der NATO auf die Sicherheitsherausforderungen in der Arktis nicht ratsam. Stattdessen sollten die einzelnen Mitgliedstaaten Operationen mit rotierender Präsenz und regionale Übungen fortsetzen und verstärken. Diese würden dazu beitragen, unmittelbare Sicherheitsgefahren zu mildern, und da sie die NATO-Mitglieder einbeziehen, würden sie das Bündnis auf eine größere Rolle in der Arktis in der Zukunft vorbereiten, falls dies erforderlich sein sollte. Sie würden auch auf der derzeitigen NATO-Politik und der Politik der arktischen NATO-Mitglieder aufbauen. Die Bündnismitglieder, die die Arktis flankieren, sollten weiterhin militärische Fähigkeiten entwickeln (z.B. für die Sensibilisierung für den maritimen Bereich und die Präsenz an Land, Kommunikations- und Ortungssysteme in hohen Breitengraden und die langfristige Aufrechterhaltung von Kaltwetterlagen), die westliche Absichten signalisieren und robustere Optionen unterstützen (z.B. ein Arktis-Kommando der NATO oder die Einladung Schwedens und Finnlands in die NATO), falls sich die Sicherheitslage verschlechtern sollte. Diese unilateralen, bilateralen und koalitionalen Maßnahmen würden Russland konkrete Anreize für ein wohlwollendes Verhalten geben.

Eines Tages könnte die NATO in der Arktis zum Handeln gezwungen werden. Die Menschen werden sagen: "Stehen Sie nicht einfach nur da. Tun Sie etwas!" Doch heute ist nicht dieser Tag. Vorerst sollten sich bereitwillige NATO-Mitglieder und -Partner auf robustere Ausbildungsmaßnahmen, Übungen und eine turnusmäßige Präsenz in der Arktis konzentrieren. Wenn diese Maßnahmen außerhalb des formellen NATO-Kommandos durchgeführt werden, könnten sie die eigenen Sicherheitsinteressen des Bündnisses fördern und es auf eine stärkere regionale Rolle vorbereiten, falls Russland und China mit Gewalt eingreifen sollten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Isabelle-Constance V.Opalinski

Journalistin, Autorin, Publizistin

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