Macht das – Jetzt!

Soziale Gerechtigkeit Die SPD möchte möglichst wenig an HARTZ IV ändern. Dabei geht um mehr und anderes als Fehler. Es geht um das Selbstverständnis von Sozial als Unterscheidungskriterium.

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Macht das  – Jetzt!

Foto: Miguel Villagran/Getty Images

Die "kleinen Leute" als Lebenslüge der SPD

Als ich noch Wahlkampf für die SPD gemacht habe, habe ich immer wieder in den sozialen Brennpunkten gehört: "Die Rede von den kleinen Leuten" als Zielgruppe der Kümmerpartei SPD sei zu einer Lebenslüge geworden. Ein Arbeitsloser hat es besonders treffend ausgedrückt: "Solange man Arbeit hat, ist man ein Fall für die Sozen, wenn man arbeitslos wird, ist man ein Fall für die Caritas." (Er hat übrigens jetzt AfD gewählt.)

Aus vielen Fällen meiner ehrenamtlichen Arbeit für diese Zielgruppe kann ich die Verbitterung nachvollziehen. Das scheint niemanden in der SPD ernsthaft zu berühren, obwohl es an den Grundfesten der Sozialdemokratie rüttelt. Mal Hand aufs Herz: Wie ist es bei Ihnen? Ist Ihnen diese Diskussion lästig? Denken Sie manchmal insgesheim: "Ja gut, um die muss man sich auch irgendwie kümmern. Man ist ja kein Unmensch?" Das Soziale hat in den letzten 15 Jahren eine merkwürdige Uminterpretation erfahren. Es wird oft ausschließlich in den caritativen Topf geworfen. Die Hauptthese: "Die leben auf Kosten der Gesellschaft, auf Kosten von uns allen, die nehmen uns etwas weg - und deshalb muss man mit allen Mitteln des investigativen Staates dafür sorgen, dass mit diesen Riesensummen von ein paar hundert Euro kein Missbrauch getrieben wird. (Die Agentur für Arbeit hat übrigens - Stand 2014 - festgestellt, dass die Missbrauchsquote bei unter 10% liegt).

Die Uminterpretation des Sozialen

Wenn das dann noch zynisch mit dem Verteilen von sozialen Wohltaten in Verbindung gebracht wird wie als Dauermantra der FDP, wird damit etwas in die Köpfe der Gesellschaft gepflanzt, was weder human noch gerecht noch sachlich richtig ist. Jemand, der seinen Arbeitsplatz verloren hat, ist Opfer und nicht Täter. In den meisten Fällen Opfer dessen, was wir so verniedlichend Globalisierung nennen. In Wirklichkeit müssten wir diejenigen, die deshalb ihren Arbeitsplatz verlieren, fürstlich entlohnen. Und das ist ganz ernst gemeint. Denn wenn es stimmt, dass durch die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes (wieder so eine Verniedlichung) mehr Wohlstand für die Gesamtheit geschaffen wurde, dann haben sie sich für die Gesamtheit geopfert. Die Arbeitslosen haben also allererst deinen und meinen und Lindners Wohlstand ermöglicht. Das ist die logische, wenn auch selten ausgesprochene Schlussfolgerung aus der Wohlstandsdebatte. "Na, was passiert gerade in Ihrem Kopf?" Wir reden von den Aussortierten der Leistungsgesellschaft.

Der Gedanke der Leistungsgesellschaft

Der Gedanke der Leistungsgesellschaft ist dann gesellschaftlich konsensfähig, wenn er bedeutet: "In einem Gemeinwesen hat jeder nach seinen Möglichkeiten etwas für das Gemeinwohl zu tun." Meistens ist damit von den Protagonisten aber etwas anderes gemeint: Leistungsträger sind nur diejenigen, die - je mehr, desto besser - möglichst viel Geld und damit Wohlstand erwirtschaften. Damit fallen dann auch alle unverschuldet Kranken und diejenigen, die nicht mehr gut im System funktionieren, gedanklich weg. Wenn aber wirklich das Einkommen daran gekoppelt würde, welche Leistung jemand für die Gemeinschaft erbringt, dann würden sich die Einkommensverhältnisse nicht nur für das Pflegepersonal, sondern auch für viele Transferempfänger dramatisch ändern - ebenso wie umgekehrt für etliche Unternehmen, bei denen es mehr als fraglich ist, welchen Beitrag sie für das Gemeinwohl leisten. Es kommt den meisten offenbar gar nicht der Gedanke, dass diese Menschen freiwillig in ihren Möglichkeiten soziale Leistungen für andere erbringen. Da könnte ich lange Listen erstellen, die mich immer wieder ganz demütig machen. Diese Menschen erbringen also gleich doppelt einen Dienst an der Gemeinschaft.

Schafft das ab!

Es hat in der Vergangenheit einige Fernsehsendungen gegeben, in denen sich Politiker in beispielloser Naivität (positiv ausgedrückt) oder Zynismus (negativ ausgedrückt) hingestellt und gesagt haben: "Also von 450 Euro kann man doch leben!"

Dazu ein paar Fakten:

Dieser Hartz-IV-Satz an Lebensunterhalt ist real gar nicht vorhanden, und das aus gleich einer Vielzahl von Gründen:

(a) Viele ALG II - Empfänger sind schon vorher - ausgelöst durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Krankheit u.ä.m. hoffnungslos überschuldet. Diese müssen abbezahlt werden, spielen aber bei der Berechnung keine Rolle.

(b) Skandalös ist besonders die Berechnung nach dem Zuflussprinzip, erst recht, wenn es sich dabei ebenfalls um Sozialleistungen handelt.
(ba) Jemand knapst am Minimum und erhält aus der Zeit vor seiner Arbeitslosigkeit eine Steuerrückzahlung, diese wird, da sie erst jetzt gezahlt wird, zu 100% auf die Leistungen des Jobcenters angerechnet.
(bb) Noch schlimmer ist es, wenn jemand eigentlich Anspruch auf ALG I hat, dies ihm aber verwehrt wird. Derjenige hat also keine Einnahmen. Dann beantragt er irgendwann - weil er langwierig klagen muss - ALG II. Dann bekommt er nach einigen Monaten Recht, und die Nachzahlungen, die eigentlich für den Zeitraum ohne Einnahmen gelten, werden voll angerechnet. Und damit nicht genug: diese Anrechnung passiert nicht nur einmal (so dass ein Leistungsempfänger dann in einem Monat kein Geld bekäme, sondern schön verteilt über sechs Monate, damit in jedem Monat kaum etwas übrig bleibt. Welch ein Skandal!)

Im Prinzip könnten Agentur für Arbeit und Jobcenter durch geschickte Zahlungsmanipulation dafür sorgen, dass berechtigte Ansprüche einfach "weggeregelt" werden. (a) und (b) schafft echte Notlagen, die aber auch SPD-Politiker nicht zu interessieren scheinen.

(c) Hinzu kommt, dass die Geldzahlungen für Miete, insbesondere in Ballungszentren, nicht ausreichen, weil Wohnraum in der Größe und zu den Preisen, die das ALG II vorgeben, überhaupt nicht vorhanden ist. Die Zahlungen für höhere Mieten laufen aber nach sechs Monaten aus - danach kann frau/man sehen, wo sie/er bleibt, bzw. man ist auf den "goodwill" von Sachbearbeiten angewiesen, die darauf getrimmt sind, auf Teufel komm raus Geld zu sparen. Und diese Sachbearbeiter leiden oft selbst sehr darunter, wie sie da agieren müssen. Das kann ich sehr gut beurteilen, weil ich über viele Jahre Jobcenter extern beraten (und hoffentlich im Kleinen einiges bewirkt) habe.

Das waren genug Details für die Allgemeinheit. Es gibt in dem System schlicht Ungerechtigkeiten - von der SPD geschaffen -, die rechtlich legitimiert sind. Dies einmal als praktisches Beispiel, um von den Allgemeinplätzen und wechselseitigen Verteufelungen wegzukommen.

Deshalb rufe ich den Koalitionären der SPD zu: Schafft wenigstens das Zuflussprinzip für Hartz-IV-Empfänger ab. Das wäre genau so eine reale Verbesserung, die sofort spürbar ist und die dann beim Mitgliederentscheid herausgestellt werden könnte. Viel wichtiger aber wäre die Begründung mit einem wesentlich anderen Verständnis von 'Sozial'. Und wenn ihr als SPD diesen minimalinvasiven Eingriff mit weitreichendem Reputationsgewinn nicht hinbekommt, dann glaube ich auch, dass es sich bei der Rede von den "keinen Leuten" um eine LEBENSLÜGE handelt.

Und dann wird die SPD von einer Kümmer-Partei zu einer Kummer-Partei. Wollt ihr das?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ideenverwirklicher

Engagierter QuerDENKER, kreativ-innovativer Kommunikations- und Strategieberater, der gerne eingetretene Pfade von Scheinplausibiliät verlässt.

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