The winner takes it all

Brexit Das britische Referendum offenbart die Schwächen des Modells Volksabstimmung

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The winner takes it all

Foto: JOHN MACDOUGALL/AFP/Getty Images

In diesen Tagen wird viel über die Folgen des britischen Referendums zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union diskutiert. Ist Großbritannien wirklich "draußen"? Wie lange wird sich dieser Prozess hinziehen? Und was bedeutet das für England, Schottland, Wales, Nordirland und das übrige Europa?

Obwohl auf die scheinbar demokratischste Art und Weise entschieden wurde: Nach dem Referendum scheint ein noch größerer Riss durch die britische Gesellschaft zu gehen, als jemals zuvor. Dies liegt nicht zuletzt an den großen Schwächen, die das Modell Volksabstimmung in sich birgt. Probleme, die einen Schatten auf dem schönen Traum von der Volksabstimmung als direkter Demokratie jenseits von Korruption und Lobbyismus werfen und die Schwierigkeiten offenbaren, die schon im Wort selbst liegen: in der Definition vom "Volk" und im Prozedere der "Abstimmung".

Wer ist das Volk?

Ein Referendum zieht seine besondere Legitimität aus dem Umstand, dass nicht einzelne Repräsentanten, sondern das Volk als Ganzes eine Entscheidung fällt. Somit ist die Bestimmung des "Volkes" unheimlich bedeutsam. Zugleich ist eine Definition, auch unabhängig von der Kritik an Begriff und Konzept, durchaus schwierig. Haben wir es in Großbritannien überhaupt mit einem Volk zu tun oder nicht vielmehr mit einem Königreich aus vier Völkern? Wie wird gewährleistet, dass die kleinen Länder des Königreichs nicht einfach überstimmt werden? Wie werden die Unterschiede zwischen der Bevölkerung in der Stadt und auf dem Land berücksichtigt?

Die Antwort auf diese und ähnliche Fragen ist kurz und einfach: Minderheiten werden nicht berücksichtigt. The winner takes it all. Das ist eine ganz entscheidende Schwäche der Volksabstimmung, im Vergleich zu Entscheidungen, die nach Verhandlungen durch Repräsentanten in Parlamenten gefällt werden. Dort sind verschiedene Gesellschaftsgruppen vertreten, die nicht nur an der Abstimmung selbst, sondern auch an der Entscheidungsfindung partizipieren, wo sie für sie besonders wichtige Punkte verhandeln können.

Selbst Veto-Rechte für Minderheiten existieren teilweise. Solche Instrumente kennt die Volksabstimmung hingegen nicht. Wenn sich also heute die Jugend über ältere Menschen empört oder Schottland über England, dann liegt das Problem nicht darin, dass ältere Menschen oder die englische Bevölkerung es gewagt hat nach ihrer Überzeugung abzustimmen, sondern das Problem liegt in der Volksabstimmung selbst, die keine Minderheiten, keine Verhandlungen und somit auch keine Kompromisse kennt.

Kompromisslos abgestimmt

Mit der Abwesenheit von Verhandlungen und Kompromissen ist zugleich die zweite große Schwäche eines jeden Referendums genannt. Schon im Wahlkampf und auch danach wurde deutlich, dass man aus zahlreichen Gründen für oder gegen eine Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Union sein kann. Zum Teil sind es nur Nuancen, die europakritische Menschen zur Wahl "Für" oder "Gegen" die EU-Mitgliedschaft brachten. In einem Gespräch könnten diese möglicherweise überwunden werden.

Auf die politische Ebene übertragen, hieße das, dass bei Verhandlungen ein Kompromiss gefunden werden könnte. So kam es auch erst durch Verhandlungen zum besonderen Status, den Großbritannien heute in der Europäischen Union besitzt. Doch eine Volksabstimmung fragt nicht nach den Motiven, sie fragt nicht nach den einzelnen Zielen und auch nicht nach möglichen Kompromissen, sondern nur nach dem "Dafür" und dem "Dagegen".

Und so stehen wir nach der Entscheidung auch vor der absurd anmutenden Situation, dass selbst die Brexit-Befürworter nicht wissen, wie mit der Entscheidung umzugehen sei. Schließlich wurde über keine neue Idee abgestimmt, mit der Großbritannien in Zukunft die Beziehung zu seinen europäischen Nachbarn organisieren könnte. Solche Fragen mögen bei der Entscheidung über Infrastrukturprojekte und ähnliches weniger wichtig sein, sie machen aber im Falle von so komplexen außenpolitischen Entscheidungen deutlich, wo die Grenzen der einfachen Volkabstimmung liegen.

Und so haben wir am Ende ein Ergebnis, das mehr als deutlich die Grenzen direkter Demokratie aufzeigt. Wir brauchen bei komplexen politischen Fragen auch weiterhin Repräsentanten, die als Vertretung von Gesellschaftsgruppen Verhandlungen führen, Kompromisse suchen und Entscheidungen treffen, die nicht nur die Mehrheit abbilden. Das Prinzip "the winner takes it all", das der Volksabstimmung inne ist, kann hingegen, wie aktuell in Großbritannien zu beobachten, keine Lösung für komplexe Fragen und gesellschaftliche Spannungen bieten.

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