Da stand der schlaksige Brite Bradley Wiggins und sagte, nachdem er sich an die Spitze der Tour-de-France-Wertung gesetzt hatte: „Von diesem Gelben Trikot habe ich von Kindheit an geträumt!“
Und da kamen sie zurück all die Erinnerungen, als ich noch ein Kind war und noch selbst davon träumte, mit ihnen durch Frankreich zu fahren. Es war die Zeit, als die Radwelt noch gut war und ich das Wort Doping noch nicht kannte.
Es war ein Sommerwochenende, so um das Jahr 1993 muss es gewesen sein, in einem kleinen Ort in Ostfankreich. Wie fast jedes Wochenende schwang ich mich auch an diesem Tag auf mein Fahrrad und radelte zu einem Freund am anderen Ende des Dorfes. Gemeinsam mit seinen zwei älteren Brüdern und seinem Vater saßen wir dann vor dem Fernseher und schauten „le Tour“. Es war die Zeit von Miguel Indurain, Bjarne Riis, Marco Pantani und Richard Virenque. Damals hörten die Teams noch auf die Namen ONCE, Telekom und Castorama (dem damals viele Sympathien galten, weil es eine der wenigen französischen Mannschaften war). Es war ein Spektakel, auch wenn mir mit meinen damals sechs Jahren, bei so mancher langen Etappe auch irgendwann die Geduld abhanden kam.
Wenn gegen 17 Uhr die große Schleife für den Tag zu Ende war, dann gingen wir vier Jungs aus dem Haus, nahmen unsere Räder und fuhren die Etappe auf der Dorfstraße nach: Ausreißer, Zwischensprints, Berganfahrten und die Zieleinfahrt, bei uns war es mindestens ebenso spannend. Und wir gaben uns die Namen unserer Idole: Jalabert, Durand, Virenque... Hätte es die Tour nicht gegeben, ich würde wohl heute noch nicht freihändig fahren können: die Hände vom Lenker zu nehmen kostete einige Überwindung und Übung, aber es wahr zwingend nötig um die legendäre Jubelpose nachzuahmen.
Später ging es mit meiner Familie nach Deutschland. In meiner Grundschule, südwestlich von Potsdam, kannte niemand die Tour und niemand interessierte sich dafür. Immerhin gab es in der BravoSport immer ein paar Berichte von Jan Ullrich. Ich schaute mir die Etappen daher alleine an und schwang mich anschließend alleine auf das Fahrrad. Meine Klassenkameraden fuhren zwar gerne Fahrrad, aber den Zwischensprint, den Windschatten oder das Fahren „aus dem Sattel“, dafür konnten sie sich nicht begeistern. Die Leidenschaft für das Radfahren nahm folglich etwas ab. Erst am Gymnasium fand ich wieder einige radsportbegeisterte Freunde, die mit mir die Tour verfolgten und auch selbst radelten. Doch da begann der Traum zu bröckeln.
Richard Virenque und Marco Pantani, die Helden von einst, wurden des Dopings überführt. Zwei Helden meiner Kindheit waren vom Tag auf den anderen zu Betrügern und Lügnern geworden. Überhaupt begann man den Radsport nun zunehmend als einen Sumpf aus Betrug und Skandalen wahrzunehmen. Es hörte nicht mehr auf. Konnte man sich am Anfang noch der Illusion hingeben, dass es nur ein paar schwarze Schafe seien, wurde relativ bald deutlich, dass man wohl eher lange suchen müsse, wolle man ein weißes finden.
Es folgte die Zeit der Zweifel: nun schaute man sich die Tour nicht mehr direkt im Fernsehen an, sondern verfolgte nur abends die Ergebnisse im Teletext (und später im Internet). Auf die skeptische Frage der Freunde, „Du schaust Tour? Die sind doch eh alle gedopt, macht das Spaß?“, wusste ich keine Antwort mehr. Krude Konstrukte, wie „Wenn alle gedopt sind, dann haben ja wieder alle gleiche Chancen.“, halfen da auch nicht mehr weiter.
Denn im Grunde hatten diese Freunde recht: die Tour de France machte kein Spaß mehr und ich musste einsehen, dass die Leidenschaft von einst heute nicht mehr war. Jedes Jahr hoffte ich, sie mögen doch nichts herausfinden, man möge sich der Illusion hingeben dürfen, dass die Sportler den Ernst der Lage erfasst hätten und nun sauber seien: Sagt nichts, ich will es nicht hören!
Doch das alles half und hilft auf Dauer nicht. Die Tour de France 2005 war die letzte die ich verfolgt habe. Ein Jahr vor ARD und ZDF bin ich ausgestiegen. Die Doping-Vorwürfe gegen Lance Armstrong verfolgte ich mit einer Mischung aus Enttäuschung und Genugtuung: ein weiterer Held war zerstört, zugleich musste man sich bestätigt fühlen, diesem Sport entsagt zu haben. Wenn heute Bradley Wiggins vom Gelben Trikot träumt, möchte ich ergänzen: Der Traum von tausenden begeisterten Kindern ist dafür zerstört. Ihr habt den Sport betrogen, uns die Leidenschaft genommen und dieses legendäre Trikot entwürdigt.
Früher wollte ich immer irgendwann ein Rennrad haben. Heute ist mir das nicht mehr so wichtig.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.