Bis auf weiteres verstoßen

Osterweiterung ohne den Osten Europas Die EU achtet auf Abstand zu Russland

Niemand wird bestreiten wollen, das die Vision vom "Gemeinsamen Haus Europa" die politische Wende von 1989/90 begleitete, als der Zusammenbruch der sozialistischen Staatengemeinde und die Desintegration der UdSSR ein Ende der Block-Konfrontation bewirkten. Unzulässig ist in diesem Zusammenhang allerdings die Behauptung, die sowjetische Gesellschaftsordnung sei kollabiert, da sie nicht mehr zu existieren vermochte. Warum, wäre zu fragen, hat dann das Russland unter Jelzins Präsidentschaft zehn Jahre lang vom Erbe zehren können, das die UdSSR hinterließ? Deren Substanz ist auch heute noch nicht vollends aufgebraucht. Die wirkliche Katastrophe der späten achtziger Jahre bestand für die Sowjetunion in der dilettantischen Politik jener Sowjetführer, die den durchaus richtigen Kurs der Reformen mit einer Politik verbanden, deren Folge die Zerstörung des Landes war.

Aber wie dem auch sei - die Wende im Osten ermöglichte es Westeuropa, den friedlichen Zusammenschluss des Kontinents praktisch zum "Null-Tarif" vorantreiben zu können und dabei auch Russland einzubeziehen. Boris Jelzin war bereit, alles zu opfern, um an der Tafel der Sieger Platz nehmen zu dürfen. Nur waren die Regierungen im Westen nicht klug und weitsichtig genug, um festzuhalten, was ihnen damals in den Schoß fiel. Statt den gesamten Kontinent zu vereinen, wurde Russland auf Abstand gehalten. Ein nicht nur kurzsichtiges, sondern teilweise auch selbstmörderisches Manöver. Diese Ausgrenzung wie auch die anderer Regionen Osteuropas - etwa auf dem Balkan - wurde zu einem der Katalysatoren des Krieges in Jugoslawien, dessen Spätfolgen die Harmonie des integrierten Teils Europas noch lange stören werden.

In der jetzigen Osterweiterung der EU steckt gleichfalls eine reale Gefahr: die vor fast einem halben Jahrhundert mit den Römischen Verträgen von 1957 eingeleitete westeuropäische Integration könnte "überstrapaziert" werden. Die erweiterte, neue EU, wie sie nach dem 1. Mai 2004 besteht, wird entweder die Geberländer aus der alten EU ruinieren oder dazu führen, dass die Neuzugänge wie eine westeuropäische Kolonie behandelt werden. Welche innere Sprengkraft sich die 25-Staaten-Gemeinschaft damit einhandelt, liegt auf der Hand. Jedenfalls dürfte mit dem 1. Mai 2004 die Spaltung Europas nicht überwunden sein - der alte Kontinent weltpolitisch kaum an Statur gewonnen haben.

Ohne Unterstützung Russlands bleibt die EU ein politischer Zwerg

Der Versuch, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu formulieren, wie das die Verträge von Maastricht vorsahen, ist bereits gescheitert. Die Idee einer EU-Verfassung bleibt umstritten wie auch ein koordiniertes Vorgehen gegen den internationalen Terrorismus. Doch zeigen die Attentate vom 11. März in Madrid, dass der islamistische Terror Westeuropa nicht verschonen will. Für eine gewisse Hoffnung sorgt allein die Tatsache, dass die großen europäischen Nationen den Traditionen ihrer Geschichte treu bleiben, die einen Verzicht auf die eigene - nationale - Souveränität zugunsten mulilateraler Institutionen ausschließen, deren Entscheidungen nationalen Interessen zuwider laufen. Instinktiv spürt Westeuropa bereits, was ihm droht, sollten Staaten das Heft des Handelns in die Hand nehmen, die es gewohnt sind, nicht viel weiter zu sehen, als das ihre in der Regel ziemlich kurze Nase erlaubt. Wären die Haltungen Rumäniens oder Lettlands für die EU verbindlich gewesen, hätte es keine französisch-deutsch-russische Troika gegeben, die das Gewissen und die Vernunft der Menschheit in jener gefährlichen Situation verkörperte, als die USA ihren Angriffskrieg gegen den Irak begannen.

Die EU wird schon in allernächster Zeit die schlichte Wahrheit zur Kenntnis müssen, dass die jüngste Wiederwahl Wladimir Putins eine wirkliche Chance bietet, auf dem Weg eines einheitlichen Europas der Gleichberechtigung und des Friedens voran zu kommen. Ohne die Unterstützung Russlands bleibt die EU ein politischer Zwerg. Es erscheint daher wenig sinnvoll, wenn die lautesten der integrierten Europäer ihre ganze Kraft in den "Beweis" stecken, dass Russland einer Kooperation mit der Europäischen Union nicht würdig sei.

Russland hat nicht vor, der Union beizutreten - und es wäre ohnehin aussichtslos, von seiner Regierung zu fordern, sich den Regeln der EU anzupassen. Man sollte zur Kenntnis nehmen, dass Russland eine erwachsene europäische Nation ist und selbst entscheiden kann, was ihm zum Vorteil gereicht und was nicht. Russland ist gegen eine neue Spaltung Europas, wird aber auch niemandes Diener sein.

Die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts haben durchaus gezeigt, dass eine Partnerschaft zwischen der EU und Russland trotz allem möglich ist, ohne daraus einen "Block", eine "Koalition" oder eine "antiamerikanische Verschwörung" entstehen zu lassen. Heute könnte uns praktisch alles vereinen - und so gut wie nichts mehr trennen. Es wird darauf ankommen, die sich bietenden Möglichkeiten für einen zivilisierten Zusammenschluss des Kontinents nicht zu verspielen. Eine Chance, die nicht allzu oft geboten wird, wie die Geschichte Europas zeigt.

Dr. habil. Igor F. Maximytschew, Gesandter a.D., arbeitet am Europa-Institut der Russischen Wissenschaftsakademie und ist Mitglied des außenpolitischen Expertenbeirats beim Föderationsrat Russlands sowie Co-Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst. Maximytschew war 1990 letzter Geschäftsträger der UdSSR in der DDR.


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