Das Gericht über die Sieger

Die Deutschen und der 60. Jahrestag des Kriegsendes Weshalb wird die Geschichte umgeschrieben?

Aus der Position eines Betroffenen beobachtet Russland aufmerksam, wie Deutschland dem 8. Mai 2005 entgegen geht. Vieles dabei wird - um es offen zu sagen - als beunruhigend empfunden. Es treten zuweilen Aspekte des heutigen politischen Lebens der Deutschen hervor, die vielfach unfreundlicher und tendenziöser erscheinen als während des Kalten Krieges. Es gab eine Zeit, in der Parteien und Medien der Bundesrepublik den 8. Mai in der Regel mit Schweigen umgingen und lieber das Renommee des Landes als eines Verbündeten der westlichen Siegermächte betonten. Den Bürgern wurde bedeutet, man sei letzten Endes doch im Lager der Sieger angekommen. Eigentlich habe es für die Deutschen während des Krieges nur einen wirklichen Feind gegeben - nämlich die Sowjetunion, die nun wiederum der Gegner des Westens sei. Eine Ausnahme bildete die DDR, die den 8. Mai als Tag der Befreiung vom Faschismus würdigte - doch ging mit deren Untergang auch diese Tradition verloren.

Am Vorabend des 8. Mai 2005 entsteht zuweilen der Eindruck, dass in Deutschland die Erinnerung an die Zeit vor 60 Jahren nicht gelebt, sondern absichtsvoll zelebriert wird. Originalmaterialien und Durchhalteparolen aus Goebbels´ Propagandaministeriums werden ungefiltert veröffentlicht. Die Zeitungen füllen tragische Schicksale von Opfern der anglo-amerikanischen Luftangriffe auf deutsche Städte. Es wird eine Atmosphäre der panischen Angst heraufbeschworen, von der die deutsche Bevölkerung erfasst war angesichts der befürchteten Vergeltung für die von den Soldaten des Führers auf dem Gebiet der Sowjetunion und anderer europäischer Staaten zu verantwortende Massenvernichtung von Menschen. Nach dem Krieg wollte kaum ein Deutscher zugeben, etwas von den verbrannten Städten und Dörfern Russlands, Weißrusslands und der Ukraine oder von den Konzentrationslagern gewusst zu haben, in denen Zehntausende von Sowjetsoldaten verhungerten. Wenn niemand etwas wusste, warum dann der Horror des Schreckens vor möglicher Vergeltung? Wenn der Krieg mit seiner ganzen Rohheit über die Schwelle des eigenen Hauses tritt, vergisst man offenbar leicht, wer ihn begonnen hat.

Die Bundesrepublik Deutschland hat offiziell die Schuld der Deutschen gegenüber den Juden sowie den Sinti und Roma anerkannt, zum Teil auch gegenüber dem polnischen Volk - ein Eingeständnis der Verantwortung für den in der Sowjetunion begangenen Völkermord fehlt bis heute. Stattdessen hat die Bezirksverordnetenversammlung von Steglitz-Zehlendorf in Berlin Anfang 2005 mit den Stimmen von CDU und FDP einen Beschluss gefasst, in dem es heißt, der 8. Mai 1945 stehe "neben der Befreiung vom totalitaristischen Naziregime auch für den Schrecken und das Leid der Bevölkerung, die die Rote Armee von Ostpreußen bis nach Berlin zu verantworten hat".

Unbestreitbar ist, es gab Befehle des sowjetischen Oberkommandos, die darauf gerichtet waren, Exzesse gegen die örtliche Bevölkerung zu verhindern und die Menschen mit all dem zu versorgen, was für ein Leben nach dem Krieg notwendig schien. Wie schwierig dies war, zeigten die Bemühungen Nikolai Bersarins, des ab Anfang Mai 1945 ersten Stadtkommandanten Berlins, der inzwischen wieder als Ehrenbürger der Stadt geführt wird, nachdem ihm der Berliner Senat diesen Status nach der Wiedervereinigung aberkannt hatte. Es gab viele Kommandanten der Roten Armee, die sich in ähnlicher Weise für die ihnen anvertrauten Städte und Dörfer einsetzten. Leider wird heute in Deutschland vielfach eine Geschichtsbild vermittelt, aus dem sich entnehmen lässt: die sowjetische Besatzungsmacht hat vor allem eines getan - sie verstieß in elementarer Weise "gegen die Regeln". Niemand wird bestreiten, dass es Übergriffe und Rechtsbrüche gab, aber eine Armee, die aus den Schlachten des Zweiten Weltkrieges kam, konnte sich nicht über Nacht in ein Heer von Schutzengeln verwandeln.

Nur geht es den "neuen Geschichtsschreibern" gar nicht um eine mit Augenmaß betriebene Aufarbeitung der Besatzungszeit, sondern vielmehr um den Nachweis, dass die Anti-Hitlerkoalition die Deutschen grundsätzlich "falsch" behandelt, deren Menschenrechte missachtet und die Haager Konventionen über den Umgang mit der Zivilbevölkerung verletzt hat (die im Übrigen für die deutsche Wehrmacht völlig belanglos waren). Es täuscht sich, wer glaubt, man treffe hier auf eine besondere Form von Selbstmitleid. Das wirkliche Ziel besteht in einer neuen Deutungshoheit über den Ausgang des Krieges und das Nürnberger Tribunal, das die Hauptkriegsverbrecher verurteilte. Eigentlich - so wird suggeriert - sei es höchste Zeit, ein Gericht zu bilden, das die "Verbrechen der Alliierten" gegen die Deutschen prüft. Dann werde man sehen, wem Unrecht widerfuhr und wer als moralischer Sieger vom Platze geht. Erste Schritte in dieser Hinsicht werden bereits getan, wenn in Büchern, Fernsehdokumentationen und Presseberichten keine Mühe gescheut wird, um nachzuweisen, dass die sowjetische Besatzungsmacht in Deutschland "illegitim" war und deren Beschlüsse nicht als rechtskräftig anerkannt werden können.

Die öffentliche Meinung in Russland bleibt von alldem nicht unberührt, auch wenn die Jahrestage der letzten Schlachten des Zweiten Weltkrieges so begangen werden, das von antideutscher Polemik keine Rede sein kann. Für die Russen gilt, sie haben den Deutschen ihren Respekt nicht verweigert und der Wiedervereinigung zugestimmt, obgleich viele Militärs und Politiker warnten, dies könne den Status quo in Europa zerstören. Nur wie lässt sich das in die Berliner Republik gesetzte Vertrauen mit einer regelmäßig ausbrechenden, teils hysterischen Russophobie vereinbaren, die am Willen der Deutschen zweifeln lässt, ihrerseits Russland und seine Geschichte vor und nach dem 8. Mai 1945 zu respektieren?

Dr. habil. Igor Maximytschew, Europa-Institut Moskau, war von 1987 bis 1992 sowjetischer/russischer Gesandter in Berlin.


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