Die Mauer war aus östlicher Sicht eine Garantie der europäischen Nachkriegsordnung

Sühneopfer der Geschichte Moskau durfte die DDR nicht aufgeben

Wird heute das Phänomen der Berliner Mauer beschrieben, setzt man sich in der Regel über die Umstände hinweg, unter denen die Entscheidung zur Errichtung dieses Bauwerkes fiel. Ohne die Mauer irgendwie rechtfertigen zu wollen, muss man doch berücksichtigen, vor welch schrecklichen Folgen sie - als Sühneopfer der Geschichte - die Menschheit als Ganzes gerettet hat. Das Spannungsfeld zwischen dem Schicksal des Einzelnen und dem Geschick Europas prägt bis heute die Wahrnehmung des Dramas der Mauer.

Damals, in den späten fünfziger Jahren, bekleidete ich noch einen Posten im diplomatischen Dienst, der keinen Einfluss auf die Geschehnisse erlaubte, doch konnte ich mir einen Eindruck vom politischen Denken derjenigen verschaffen, die seinerzeit unter dem unmittelbaren Druck der Ereignisse Entschlüsse zu fällen hatten. Das Verhalten der UdSSR-Regierung war vorrangig von der Entschlossenheit bestimmt, einer eventuellen Bedrohung vom Westen her rechtzeitig begegnen zu können. Alle internen Dokumente aus jenen Jahren, die jetzt - nach dem Ende der kommunistischen Ordnung - zugänglich sind, bezeugen den klaren Willen, in Europa eine strategische Lage durchzusetzen und zu erhalten, die einer erneuten Aggression gegen die UdSSR »für immer« vorbeugen sollte. Von Anfang an hatte der Kreml dabei weder die Weltrevolution im Sinn (es ist kein Zufall, dass die Kommunistische Internationale 1943 ohne jegliches westliches Drängen aufgelöst wurde), noch eine Sowjetisierung Osteuropas, sondern zuallererst eine Nachkriegsordnung, mit der die äußere Sicherheit auf »alle Zeiten« garantiert sein sollte. Nach Möglichkeit gemeinsam mit den drei Westalliierten - ansonsten im Alleingang. Natürlich wurde dabei oft übers Ziel hinausgeschossen. Man muss sich jedoch die Situation vorgegenwärtigen, in der sich die Sowjetunion nach dem fürchterlichsten Krieg aller Zeiten befand. Angesichts der Verluste und Verwüstungen, verursacht durch die Invasion Hitlers, konnte keine Garantie gegen die Wiederholung einer ähnlichen Katastrophe verlässlich genug erscheinen. Im Grunde genommen handelte es sich mit der UdSSR um einen zutiefst erschütterten, endlos geschwächten, maßlos ausgebluteten Staat, der so gut es ging versuchte, nach außen den Schein zu wahren.

Ich erlebte dieses Land, der ich während des Krieges aufwuchs, nicht im privilegierten Moskau, sondern in der Provinzstadt Kalinin (heute wieder Twer), die 1941 nur vier Wochen lang die deutsche Besetzung ertragen musste und doch völlig zerstört wurde. Nach dem Schulabschluss versuchte ich aufs Geratewohl mein Glück beim Institut für Internationale Beziehungen in Moskau, wurde erstaunlicherweise aufgenommen und trat 1956 als frisch gebackener »Westeuropafachmann« mit zwei Fremdsprachen versehen in die Diplomatie ein.

Meine Generation wuchs in der festen Überzeugung heran, dass unser Land niemanden bedrohen könne, weil es innerlich viel zu schwach war, aber ständig mit den »Umtrieben des Westens« rechnen müsse. Grund für diese Überzeugung war nicht so sehr die Propaganda des Regimes, sondern die recht bald nach 1945 einsetzende »Containment«-Politik des Westens, die den Kalten Krieg einleitete. Als junge Menschen, noch dazu als Wehrpflichtige, fühlten wir uns oft in eine ungewisse Vorkriegszeit versetzt, in der augenblicklich ein »richtiger« - der Dritte Weltkrieg - ausbrechen konnte.

So waren auch für die sowjetische Politik nicht so sehr die sozialistischen Experimente in den osteuropäischen Ländern entscheidend, sondern deren Rolle als Vorfeld möglicher Attacken, die von deutschem Boden ausgehen konnten. Denn seit Beginn des 20. Jahrhunderts hatte das europäische Sicherheitsproblem Russlands beziehungsweise der UdSSR einen konkreten Namen: Deutschland. Auch nach 1945 galt in den Analysen des sowjetischen Generalstabs Westdeutschland als denkbare Angriffsbasis gegen die UdSSR. Die Note Stalins vom März 1952 (s. Übersicht) sprach Bände über die Logik seiner Europa- und Deutschland-Politik. In diesem Schema konnte die Einheit Deutschlands viel früher kommen, freilich ohne deutsche NATO-Mitgliedschaft. Stalin blieb der Idee vom geeinten Deutschland bis an sein Lebensende treu. Gleichwohl ist unbestritten, dass seine Vorstellungen von einem einheitlichen und neutralen Deutschland (mit eigenen Streitkräften) nicht nur im Westen, sondern auch in der UdSSR auf Ablehnung stießen.

Für Stalins Nachfolger galt ein wiedervereinigtes Deutschland als zu unsicherer Kantonist. Sie betrachteten die Präsenz eigener Truppen auf dem Territorium der DDR (in einer Stärke von annähernd 500.000 Mann) als beste Garantie gegen jede Überraschung aus dem Westen. So führte Stalins Tod dazu, dass die DDR endgültig zum Vorposten und zur tragenden Säule der sowjetischen Sicherheitsdoktrin in Europa wurde. Anders gesagt: Die DDR bekam die Qualität eines unverzichtbaren Teils des westlichen Glacis der UdSSR. Der Warschauer Vertrag von 1955 war insofern die »kollektive« Weihe der vorhandenen Lage.

Sowjetische Berlin- und Deutschlandpolitik 1952 - 1961

März 1952

Die »Stalin-Note« plädiert für eine Rückkehr zur Einheit Deutschlands, den Abzug aller ausländischen Truppen ein Jahr nach Inkrafttreten eines Friedensvertrages, gesamtdeutsche Wahlen für eine gesamtdeutsche Regierung. Deutschland sollte verpflichtet werden, keinerlei Militärbündnissen anzugehören. Die Regierung Adenauer erklärt mit Billigung der Westmächte, erst müsse die Westintegration der BRD (EVG-Vertrag 1952 ect.) geregelt sein, bevor man mit Moskau verhandeln könne.

November 1958

Die Regierung Chruschtschow kündigt den Viermächtestatus Berlins und fordert die Westalliierten zum Abzug ihrer Truppen auf. Vorgeschlagen wird für Westberlin der Status einer entmilitarisierten »Freien Stadt« mit eigener Regierung, deren Verhandlungspartner die DDR-Regierung in Ostberlin sein sollte - eine Regelung müsse innerhalb von sechs Monaten gefunden sein (»Berlin-Ultimatum«).

Dezember 1958

Die USA, Frankreich und Großbritannien erklären sich zu Verhandlungen bereit, bestehen aber auf dem Vier-Mächte-Status Berlins. Sie stellen ein Junktim zwischen einer Einigung über die Zukunft der Stadt und einer Wiedervereinigung Deutschlands her.

Januar 1959

Die Regierung der UdSSR veröffentlicht den Entwurf eines Friedensvertrages mit beiden deutschen Staaten.

März 1959

Chruschtschow erklärt in Leipzig, die Frist für eine Regelung der Berlin-Frage könne über den 27. Mai 1959 hinaus verlängert werden. Sollten die Westmächte einen Friedensvertrag mit beiden deutschen Staaten ablehnen, werde ihn die UdSSR allein mit der DDR schließen.

Mai 1960

Eine Gipfel der USA, der UdSSR, Frankreichs und Großbritanniens (DDR und BRD als Berater) über europäische Sicherheit, die deutsche Wiedervereinigung und die Stellung Berlins scheitert, da sich die US-Regierung weigert, für den Spionageflug einer U-2 über der UdSSR eine Entschuldigung abzugeben.

August 1961

Tagung der Warschauer Vertrages bestätigt am 5. August in Moskau offiziell die UdSSR-Forderung nach einem Friedensvertrag mit Deutschland sowie die wenige Tage später erfolgte Grenzschließung zu Westberlin.

Oktober 1961

Chruschtschow verkündet auf dem XXII. KPdSU-Parteitag in Moskau die Aufhebung des »Berlin-Ultimatums«.

Ein Jahr später, als ich meine diplomatische Laufbahn im Konsulat der UdSSR in Leipzig begann, stellte sich mit der steten Abwanderung qualifizierter Arbeitskräften in den Westen zusehends die Existenzfrage für den zweiten deutschen Staat. Für alle war klar, dass etwas geschehen musste, sollte die DDR überleben. Doch die offene Grenze in Berlin unterlief jeden Versuch, die Entvölkerung zu stoppen - vor allem Ärzte, Lehrer, Ingenieure fehlten. Wir konnten unsererseits nur die Lage beobachten und die Erkenntnisse an die Botschaft nach Berlin weiterreichen. 1958 allerdings - ich war zwischenzeitlich an unsere Mission in Bonn versetzt - wurde ich Zeuge, wie der brain trust um den damaligen Botschafter Andrej Smirnow fieberhaft nach Lösungen der DDR-Krise suchte, die zum größten außenpolitischen Problem der UdSSR zu werden drohte. Wenn ich mich richtig erinnere, kam zunächst von Smirnow selbst die Idee der Etablierung einer »Freien Stadt« West-Berlin (s. Übersicht), die als staatsähnliches Gebilde über »normale« Grenzen mit »normalen« Grenzkontrollen auf beiden Seiten verfügen sollte. Die Idee schloss die Warnung Moskaus ein, das alliierte Besatzungsstatut für Gesamt-Berlin aufzukündigen und so die Westmächte zum Direktkontakt mit den DDR-Behörden zu zwingen. Das hätte unweigerlich zu Verhandlungen zwischen der UdSSR und den Westmächten führen müssen, um einen für Moskau akzeptablen modus vivendi im Zentrum Europas zu finden, den Briten, Amerikaner und Franzosen bis dahin verweigerten. Im Prinzip war dieses Kalkül so einfach wie genial - aus einer Position absoluter Schwäche (der Schwund der DDR-Bevölkerung erwies sich als unaufhaltsam) fühlte sich Moskau plötzlich in eine Position absoluter Stärke versetzt. Mit einem Schlag glaubte man die Situation am empfindlichsten Punkt des Westens in Europa beherrschen zu können.

Es scheint heute so, dass gerade die atemberaubende Perspektive, von nun an mit den westlichen Staatschefs aus einer vermeintlich komfortablen Konstellation heraus sprechen zu können, Chruschtschow den Kopf verdrehte, so dass er einen wirklich denkbaren Kompromiss verpasste, der ihm von Präsident Kennedy angeboten wurde.

Im Moment des Mauerbaus selbst war ich schon in der Moskauer Zentrale, aber ich kann mich bestens daran erinnern, mit welcher Spannung alle dort die Entwicklung verfolgten. Soviel stand fest: Die UdSSR durfte die DDR nicht aufgeben - das wäre in den Augen der Führung und des Volkes ein Verzicht nicht nur auf die so teuer erkauften Ergebnisse des Krieges gewesen, sondern auch auf die eigene Sicherheit. Andererseits drohte die hochtrabende Ankündigung Chruschtschows bezüglich einer »Freien Stadt« West-Berlin zum sinnlosen Kräftemessen mit dem Westen auszuarten, was schwerwiegende Folgen haben konnte. In beiden deutschen Staaten stand kein Spielzeuge gegeneinander, sondern gediegenes Kriegsgerät.

Letzten Endes wurde in der sowjetischen Öffentlichkeit die Nachricht vom Bau der Mauer mit gewaltiger Erleichterung aufgenommen - übrigens genau wie in anderen Hauptstädten der Welt. Die Berlin-Krise mit all ihren Eskalationsrisiken war fürs Erste entschärft. Das Wissen um die Monstrosität dieser Lösung, über zerbrochene Schicksale, über Schießbefehle kam erst später. Wir trösteten uns vorerst mit der Hoffnung, die Mauer würde nicht lange stehen - dass es fast drei Jahrzehnte wurden, glaubte damals niemand. Das Wichtigste für den Augenblick schien zu sein, dass die Mauer von allen Beteiligten als ein Faktum so oder so akzeptiert wurde und kein unüberwindliches Hindernis für die weitere West-Ost-Entspannung darstellte, was 1971 durch das Vierseitige Abkommen über Berlin (West) und später den Helsinki-Prozess bestätigt wurde. Allein die DDR-Führung vermochte in dieser Zeit keine Strategie zu entwickeln, mit der die Mauer überflüssig geworden wäre.

Dass die Entscheidung zum Mauerbau in Moskau und von Moskau getroffen wurde, pfiffen die Spatzen von allen Dächern. Natürlich war sie »kollektiv« - alle Partei- und Staatschefs des Warschauer Vertrags billigten sie. Der langjährige stellvertretende Außenminister der UdSSR und spätere Botschafter in Bonn, Wladimir Semjonow, nannte sich manchmal im Kreise seiner engsten Mitarbeiter den »Vater der Mauer«, da er 1961 beauftragt war, den »diplomatischen Teil« der Operation zu überwachen. Stolz war er darauf nicht. Er sagte aber immer, dass dadurch höchstwahrscheinlich ein schwerwiegender militärischer Konflikt im Herzen Europas verhindert wurde. Und das war nicht wenig, gemessen am dort gehorteten Zerstörungspotenzial.

Igor F. Maximytschew ...

... Gesandter a.D., arbeitete von 1987-1992 an der Botschaft der UdSSR, später Russlands, in der DDR, zuletzt war er deren Geschäftsträger. 1993 folgte sein Berufung an das Europa-Institut der Akademie der Wissenschaften Russlands (Chief Researcher), zugleich war er 1994 bis 1996 Gast-Professor an der FU Berlin. Maximytschew ist Mitglied des außenpolitischen Expertenbeirats beim Föderationsrat Russlands sowie Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Deutsch-Russischen Museums in Berlin. Bücher: Diplomatische Beziehungen UdSSR - Drittes Reich 1933-1939 (1981); deutsche Übersetzung: Der Anfang vom Ende (1985); Rheinische Nachbarn - Geschichte des französisch-deutschen Verhältnisses (1988); Zusammenbruch. Requiem für die DDR (1993); Das Russisch-Deutsches Verhältnis (1997)

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