Das Schweigen der Lämmer

Russland nach dem Chodorkowskij-Urteil Vom Oligarchenhass zum Mitgefühl für das Opfer der Staatsmaschinerie

Vielleicht ist ja das das eigentlich Erschütternde: Die Verurteilung von Michail Chodorkowskij und Platon Lebedev zu neun Jahren Lagerhaft löste in der russischen Geselschaft keine besonderen Erschütterungen aus. Dieses Ausbleiben war jedoch vorhersehbar. Zu starken Gefühlsausbrüchen wäre es wahrscheinlich eher gekommen, wenn der bekannte Oligarch und sein Mitarbeiter einen Freispruch gehört hätten. Denn dass das Putin-Gericht Gnade walten lassen würde, hat niemand erwartet, genauso wenig wie eine unvoreingenommene, objektive Untersuchung der Anklage.

Niemand jubelt. Niemand rauft sich die Haare. Ihrer tiefen Befriedigung - manchen sowjetischen Bürgern noch aus der Breschnewzeit bekannt - verleihen nur die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft Ausdruck; aber ihnen sind diese positiven Gefühle ja quasi von Amts wegen vorgeschrieben. Die Rechtsanwälte der Verteidigung dagegen erklären ihr Unverständnis für das Urteil und zucken dabei mit den Schultern, auf den Gesichtern ein ironisches Lächeln. Lediglich Robert Amsterdam, der kanadische Anwalt Chodorkowskijs, zeigt sich von starken Emotionen überwältigt - ganz offensichtlich ein leicht zu beeindruckender Mann, der die russischen Realitäten einfach nicht gewöhnt ist.

Alle übrigen - sind daran gewöhnt. Weshalb selbst die schlimmsten Kapriolen des Prozesses weder bei Involvierten noch bei interessierten Beobachtern etwas anderes auslösten als das Bedürfnis zu scharfsinnigen Bemerkungen. Man hat viel gelacht, wenn auch nicht ohne Bitterkeit. Zuletzt als Richterin Kolesnikova offenbar beschlossen hatte, ins Guinessbuch der Rekorde aufgenommen werden zu wollen und zur zweiwöchigen Verlesung der Urteilsbegründung ansetzte, bevor das Strafmaß verkündet war. Schnell machte folgender Witz die Runde: Wisst ihr´s schon, man hat Chodorkovskij zu lebenslanger Anhörung verurteilt.

Schon vorher, als eben jene Richterin, die in ihrer Begründung Wort für Wort der Anklage folgte, die Argumente der Verteidigung mit den Worten abtat: "Das hat sich aber nicht bestätigt", lachte der ganze Saal einfach auf. Als endlich das Urteil verkündet war und Richterin Kolesnikowa die Angeklagten fragte, ob sie es verstanden hätten, antwortete Platon Lebedev: "Nein. Kein verständiger Mensch kann das verstehen." Das Zitat brachte es augenblicklich zu großer Popularität in der russischen Presse.

Doch hinter dieser vorherrschenden Zurückhaltung beziehungsweise gerade im distanzierenden Sinn für Ironie lässt sich weniger fatalistische Zustimmung erkennen als vielmehr ein verbittertes und überraschend einiges Nichteinverstandensein. Ein Widerwille gegen die Machthaber bis hin zur Verachtung, die Erkenntnis, dass es in Russland keine wirklich unabhängige Rechtsprechung gibt und nicht so bald geben wird - das sind die von vielen geteilten Empfindungen, unabhängig von der politischen Überzeugung und der Schichtzugehörigkeit, unabhängig von der Einstellung zu Putin, Chodorkowskij, den Oligarchen, zu Kapitalismus oder Kommunismus.

Niemand geht mehr auf die Straße, schreibt dem Präsidenten einen Brief und fordert die sofortige Befreiung der Inhaftierten; man hält das für sinnlos. Die resignative Grundhaltung, die sich seit dem Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs immer weiter ausbreitet, überträgt sich auf die Politiker liberaler Ausrichtung und deren Wählerschaft. In diesen Kreisen ist man der festen Überzeugung: Solange Putin an der Macht ist, wird Chodorkowskij sitzen. Nichts zu machen.

Aber es gibt auch noch Optimisten: Ein paar Oppositions-Politiker und Journalisten lassen verlauten, dass sie sich Chodorkowskij gut als zukünftigen Oppositionsführer vorstellen könnten. Wann diese Zukunft eintreten soll, weiß allerdings niemand. Frühestens jedoch 2008, dem Jahr der nächsten Präsidentenwahl in Russland, zu denen Putin nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten darf - dem bisherigen Gesetz nach. Bei allem Optimismus ist es jedoch schwer vorstellbar, dass ein Wahlvolk, das bereits zweimal für den KGB-Oberst gestimmt hat, sich innerhalb von drei Jahren so sehr verändert, dass es einen jüdischen Oligarchen, der wegen Steuerhinterziehung im Gefängnis sitzt, wählen würde.

Am interessantesten bei alldem ist die fraktionsübergreifende Einigkeit: Sowohl in linken wie in nationalistischen Kreisen und sogar in der Partei der Machthaber selbst, "Edinaja Rossija", die schließlich die Kontrollmehrheit im Parlament hält, herrscht eine schweigsame Missbilligung des Urteils vor. Die Deputierten, die der Macht am nächsten stehen, rufen dazu auf, "den Entschluss des Gerichts zu respektieren", aber da das Gericht in Russland eine ganz und gar unrespektable Einrichtung ist, klingen dieses Aufrufe wenig überzeugend. Mehr ins Gewicht fallen dagegen die Äußerungen des Kommunistenführers Sjuganov und des Vorsitzenden der Nationalistenfraktion Rogosin: Beide verlautbarten, Chodorkowskij sei zum "Sündenbock" gemacht worden. Damit trafen sie, gewiss nicht ohne Kalkül, ziemlich genau die Meinung ihrer Wähler und der schweigenden Mehrheit. Denn auch der einfache Mann auf der Straße denkt, dass Chodorkowskij büßen muss - stellvertretend für die restlichen Oligarchen und dafür, dass er persönlich mit Putin nicht klar kam. Sein mutiges Verhalten vor Gericht hat ihm Respekt verschafft. Umfragen zufolge halten 60 Prozent der Bevölkerung das Urteil für ein "politisches" und geben wenig auf die Unvoreingenommenheit von Richterin Kolesnikova. Nein, sie sehen im ehemaligen Yukos-Chef nicht den neuen Landesführer: Nur 8,3 Prozent würden ihn wählen. Denn in ihrer Mehrheit lehnen die Russen die Oligarchen ab, schließlich haben die, wie man so sagt, das Volk ausgeraubt. Aber noch mehr lehnen sie "Ungerechtigkeit" ab.

Die Straße widerspricht also nicht, wenn Putin, um seine "Machtvertikale" zu stärken, die Reichen von der Regierungstöpfen verscheucht und die wirklich großen Diebstähle der Jelzin-Zeit verfolgen lässt. Die Straße protestiert auch nicht, wenn Beresowksi oder Gusinskij sich ins Ausland flüchten, um nicht vor Gericht zu müssen. Dass es bei diesen Oligarchen nicht nur um Korruption, sondern auch um die Pressefreiheit ging, bewegt die Straße wenig; Freiheit ist hierzulande nicht wirklich konstitutiv. Im Gegenteil: im Postperestroika-Russland wurden Finanzbetrug, Auftragsmorde und Armut zu Synonymen der Demokratie. Putin schlug daraus unmittelbar Kapital, als er 1999 eine geregelte und transparente Wirtschaft versprach und als Hauptproblem die Verarmung der Bevölkerung benannte. Dafür hat man ihn zum Präsidenten gewählt.

Mit umso größerem Unverständnis stellt man auf der Straße heute fest, dass die Beresowskijs und Gusinskijs verjagt sind, aber das Leben sich trotzdem nicht gebessert hat. Zwar sitzt der eine Oligarch nun im Gefängnis, aber ein anderer, Roman Abramowitsch kauft den englischen Fußballclub "Chelsea", schenkt Putin seine Yacht und betätigt sich erfolgreich als Regionalgouverneur. Während der eine sitzt, treffen sich zig andere Oligarchen im Kreml mit dem Präsidenten. Obwohl sie ihr Eigentum mit den gleichen Mitteln erworben haben, für die man den Yukos-Chef nun so hart verurteilt hat. Zunächst registriert man auf der Straße mit Verblüffung, dass das Yukos-Vermögen unter den Putin am nächsten stehenden Personen aufgeteilt wird, nämlich dem stellvertretenden Administrationsführer Setschin, dem Gaspromchef Miller und dem Rosneft-Präsidenten Bogdanchikov. Dann lacht man nur noch höhnisch, wenn in der Presse durchsickert, dass die werten Herren sich über die Aufteilung der Beute nicht gleich einigen konnten und Putin schließlich schlichtend eingreifen musste. Man weiß, dass bei alldem von Gerechtigkeit keine Rede sein kann.

Schlimmer noch: Das Volk fühlt sich an der Nase herum geführt. Im schweigenden Mitgefühl für Chodorkowskij zeigt sich letztlich auch Selbstmitleid. Man hält sich für bestohlen. Man hält den Privatisierungprozess der neunziger Jahre für illegitim. Viele wären froh, wenn alle, die zu Jelzins Zeit reich wurden, bestraft würden. Denn Reichtum und Ehrlichkeit sind im heutigen Russland, genauso wie zu sozialistischen Zeiten, sich widersprechende Eigenschaften. Aber was nun passiert, ist etwas ganz anderes als die Wiederherstellung der Gerechtigkeit: die Umverteilung des Eigentums zu Gunsten des Tschekistenclans, der sich um Putin gruppiert hat. Vor den Augen eines verdatterten Publikums entsteht eine neue Oligarchie, die feige und grau wirkt und sich vor Ergebenheit dem Präsidenten gegenüber fast überschlägt.

In den Augen der meisten Russen hat sich Michail Chodorkovskij nun in ein Opfer der Staatsmaschinerie verwandelt. Und für Opfer eben dieser Maschinerie halten sich traditionell fast alle, die mit ihr in Berührung kommen. Man identifiziert sich mit Chodorkowskijs Schicksal; der Sinn für Gerechtigkeit verdrängt den Hass auf den Oligarchen.

In Puschkins berühmten Stück Boris Godunov schweigt das Volk am Ende auf den Befehl hin, die neue Macht zu preisen. Man interpretiert das oft als "Schweigen der Lämmer", als fatalistisches Sich-seinem-Schicksal-fügen. Das aktuell vorherrschende Schweigen ist keines der Zustimmung, auch keines des Aufstands. Und doch verrät sich darin eine Empörung, die nicht folgenlos bleiben wird.

Aus dem Russischen von Barbara Schweizerhof

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