In den vergangenen Jahren ist in Deutschland und weit darüber hinaus ein heftiger Streit um den Sinn und Zweck ethnologischer Museen und deren Sammlungen im 21. Jahrhundert entbrannt. Es geht um die koloniale Vergangenheit der Bestände, um Forderungen nach Rückgaben und neuerdings immer wieder auch um den sachgerechten Erhalt der Objekte. Das Ethnologische Museum der Staatlichen Museen zu Berlin steht im Zentrum der hiesigen Debatte. Zusammen mit dem Museum für Asiatische Kunst wird es in naher Zukunft den mit Abstand größten Teil des Humboldt Forums im neuerrichteten Berliner Stadtschloss bespielen. Die damit verbundene Aufmerksamkeit, das Interesse an den Sammlungen und der in den Häusern geleisteten Arbeit ist höchst erfreulich. Und doch wirkt die Diskussion bisweilen einseitig und unterkomplex, treten die vielschichtigen Realitäten des Arbeitsalltags in den betroffenen Museen nur selten zutage. Höchste Zeit also für eine Innenansicht von Mitarbeiter*innen und Partner*innen, die mit den Sammlungen des Berliner Ethnologischen Museums zum Teil seit vielen Jahren umgehen.
Komplex und häufig sensibel
Ein zentraler Aspekt der Arbeit an ethnologisch ausgerichteten Museen sind Kooperationen mit Vertreter*innen aus den Gesellschaften und Regionen, aus denen die Objekte ursprünglich stammen. Solche Kooperationen gehören am Ethnologischen Museum in Berlin seit Jahrzehnten zum Alltag. Die damit verbundene gemeinsame Forschung findet zu großen Teilen in den Depots statt, vorbereitet und begleitet von Depotverwalter*innen und Restaurator*innen. Für diese Zusammenarbeit gibt es am Berliner Ethnologischen Museum zahlreiche Beispiele, darunter Kooperationen mit tansanischen, namibischen, nordamerikanischen, indischen sowie brasilianischen Partner*innen und Institutionen. Sie erzählen viel über die komplexe und oft mit Sensibilitäten verbundene Arbeit der Museumsbeschäftigten. Im Folgenden soll dies am Beispiel des gemeinsamen Forschungs- und Ausstellungsprojekts mit Vertreter*innen der in Nebraska (USA) beheimateten Omaha (Umoⁿhoⁿ) veranschaulicht werden, die eine weit über 100-jährige Geschichte mit dem Museum verbindet.
Francis La Flesche: Ein indigener Ethnologe und Sammler der Omaha
Diese Geschichte geht so: 1894 beauftragte das Königliche Museum für Völkerkunde in Berlin (das heutige Ethnologische Museum) den indigenen Ethnologen Francis La Flesche, eine Sammlung von Objekten seiner eigenen Kultur zusammenzutragen. Vier Jahre später traf die Sammlung mit rund 60 Objekten in Berlin ein, darunter Zeremonialgegenstände, ein Kriegshemd, Werkzeuge, Spiele und Musikinstrumente der Omaha. La Flesche gilt heute als erster indigener Ethnologe Nordamerikas. Nachdem er seine frühe Kindheit auf dem Omaha-Reservat verbracht hatte, schickte ihn sein Vater auf die presbyterianische Internatsschule, wo er nicht nur Englisch sprechen und schreiben lernte, sondern auch seine bisherige Lebensweise aufgeben musste. Nach dem erfolgreichen Abschluss eines Jurastudiums in Washington D.C. unterstützte er in den folgenden Jahren den Ponca-Häuptling Standing Bear bei dessen Kampf um die Anerkennung von Bürgerrechten für alle Native Americans in den Vereinigten Staaten; eine Erfahrung, die seine spätere Arbeit als Wissenschaftler und politischer Aktivist prägen sollte. In den 1880er-Jahren schließlich lernte La Flesche die Ethnologin und Musikwissenschaftlerin Alice Fletcher kennen, die ihn dazu ermutigte, Ethnologie zu studieren. Gemeinsam verfassten sie später ein noch heute als ethnologisches Standardwerk geltendes Buch zu den Omaha.
Geschichte in der Gegenwart
Aktuell bildet die Sammlung von Francis La Flesche den Ausgangspunkt eines Forschungs- und Ausstellungsprojektes, das gemeinsam mit dem Nebraska Indian Community College (NICC) realisiert wird. Wynema Morris, selber eine Angehörige der Omaha und am NICC als Professorin für Native American Studies tätig, vier ihrer Student*innen, ein Enkel von Francis La Flesche sowie ein Mitarbeiter des NICC erarbeiten zusammen mit einem kuratorischen Team aus Berlin die Ausstellung Gegen den Strom: Francis La Flesche und die Umóⁿhoⁿ. Die Präsentation, die Ende 2021 eröffnen soll, thematisiert die Biografie und die Sammlung von Francis La Flesche und will deutlich machen, wie Geschichte und Vergangenheit die Gegenwart der Omaha bis heute prägen. Als das Berliner Team an das NICC mit der Idee herantrat, gemeinsam eine Ausstellung über La Flesche zu entwerfen, waren die Mitarbeiter*innen dort über die Existenz der Sammlung von Francis La Flesche zunächst völlig überrascht. „Wir wollen nicht, dass schon wieder ein Weißer unsere Geschichte erzählt”, war die erste Reaktion von Wynema Morris. Sie war es auch, die die Bedingung für eine Zusammenarbeit ausgab: „Wir sprechen, Ihr hört zu!“ Die beteiligten Vertreter*innen der Omaha forderten ein, was ihnen bis dahin immer verwehrt wurde: ihre Geschichte aus eigener Perspektive zu erzählen.
Ethnologische Arbeit heute: Beitrag zu einer neuen Beziehungsethik?
Nach dem gemeinsam zurückgelegten Weg sagt Wynema Morris heute: „Die Zusammenarbeit mit dem Ethnologischen Museum in Berlin wird vom NICC inzwischen als ein sehr positiver, wegweisender Schritt betrachtet. Von Anfang an wirkte diese Kooperation dabei zurück auf die Arbeit des Colleges. So wird beispielsweise der Katalog, den Francis La Flesche seinerzeit für die Sammlung erstellte, an Mitglieder der Community verteilt und hat seither als „Berlin Catalgoue“ einen festen Platz in der Lehre des NICC. So zeigt das Projekt exemplarisch, welche Bedeutung historische Sammlungen heute haben können und welches Potenzial in gemeinsam konzipierten Ausstellungen liegen kann. Übrigens ist das gemeinsame Ziel aller Beteiligten, die Objekte in Zukunft für eine nachfolgende Ausstellung nach Nebraska zu bringen.“
Auch auf anderer Ebene ist die Berliner Sammlung von besonderer Bedeutung, zeugt sie doch vom Widerstand gegen die Kolonisierung. Da die Erfahrungen mit Rassismus, Gewalt und Landverlust die Lebensumstände der Omaha-Community bis heute beeinflussen, bietet sie den Menschen die Möglichkeit, mit Stolz auf ihre eigene Geschichte zu blicken und diese zu präsentieren. Die gemeinsame Arbeit an der Sammlung zeigt, wie tiefgreifend koloniale Kontexte in die Sammlungen ethnologischer Museen eingeschrieben sind. Genau um diese Kontexte aufzuarbeiten, gibt es seit Ende 2019 ein aus vier Mitarbeiter*innen bestehendes Team für postkoloniale Provenienzforschung am Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin, das untersucht, wie die Objekte des Ethologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst in die Sammlungen gelangt sind. Bei einem Bestand von rund 500.000 Objekten bei weitem nicht ausreichend, aber dennoch ein wichtiger Schritt.
Rückblickend betrachtet, gestaltete sich die Kooperation intensiv, oft auch emotional. Morris erinnert sich: „Als die Delegation der Omaha die Objekte im Depot des Ethnologischen Museums zum ersten Mal mit eigenen Augen sah, brachen viele der Angereisten in Tränen aus. Über 100 Jahre, die zwischen der Herstellung der gesammelten Gegenstände und der Gegenwart der Omaha liegen, schienen mit einem Mal unwichtig. Die Emotionen waren so überbordend, dass es einige Minuten dauerte, bis wir wieder zur Ruhe kamen. Jedes einzelne Objekt wurde liebevoll betrachtet und, wenn man spürte, dass der Gegenstand von alltäglichem Gebrauch war, sanft von seinem Ruheplatz angehoben, um ihn genauer betrachten zu können. Andere Objekte wurden absichtlich nicht berührt, sondern nur mit stiller Ehrfurcht betrachtet.“
Bewahrung der Objekte angesichts knapper Mittel
Kooperative Projekte und daraus resultierende Ausstellungen sind ohne die Arbeit der restauratorischen Abteilung des Ethnologischen Museums nicht denkbar. Mira Dallige-Smith ist diplomierte Restauratorin und seit 20 Jahren am Museum tätig. Sie und ihre zahlreichen Vorgänger*innen haben die Bestände seit der Gründung des Museums im Jahr 1873 betreut, darunter auch ab 1898 die von Francis La Flesche zusammengetragene Sammlung.
Mira Dallige-Smith erklärt: „Für seine insgesamt rund 500.000 Objekte umfassende Sammlung stehen dem Ethnologischen Museum heute sieben Restaurator*innen und sechs Depotverwalter*innen zur Verfügung, die sich konservatorisch und restauratorisch um Objekte bestimmter geografischer Bereiche oder um besondere Materialgruppen kümmern. Zu wenig für die Größe der Bestände und die Anforderungen eines Hauses, das momentan gemeinsam mit dem Museum für Asiatische Kunst zusätzlich den Umzug von mehr als 20.000 Artefakten ins Humboldt Forum stemmen muss.“ Doch auch bei ausreichendem Personal ist die Arbeit von Mira Dallige-Smith und ihren Kolleg*innen ein Kampf gegen die Zeit: Die überwiegende Zahl der Objekte in ethnologischen Museen, so auch in Berlin, besteht aus Pflanzenfasern, Holz oder anderen organischen Materialien. Diese unterliegen ganz natürlichen Veränderungs- und Alterungsprozessen, denen es zu begegnen gilt. „Nationale und internationale Standards sowie am Ethnologischen Museum festgelegte Prozederes, an denen sich die Mitarbeiter*innen des Berliner Ethnologischen Museums orientieren, regeln den Umgang und den Schutz der Sammlungen. Hinzu kommt ein „Code of Ethics“, der Prinzipien, Verpflichtungen und Verhaltensweisen restauratorischer Arbeit definiert“, so Mira Dallige-Smith.
Schädlingsbefall und pestizidbelastete Objekte – Herausforderungen im Museumsalltag
Sie schildert noch ein weiteres Problem bei der konservatorischen Bewahrung der Objekte: „Aufgrund der vielfältigen organischen Materialien sind ethnologische Sammlungen besonders anfällig für Schädlingsbefall, zum Beispiel durch Insekten, Würmer oder Pilze. Dadurch bedingte Beschädigungen von besonders empfindlichen Stücken, beispielsweise aus Federn, gibt es in Einzelfällen auch in den Depots in Berlin. Nicht selten ist der Zustand dabei ein über viele Jahre „gewachsener“. Oft sind Schäden durch Schädlingsbefall oder Pilze schon bei den langen Transporten aus den Herkunftsländern entstanden. Vergessen darf man zudem nicht, dass etwa Aus- und Umlagerungen im Zuge des Zweiten Weltkriegs durch unsachgemäße Aufbewahrung und Handhabung vielen Objekten schwer zugesetzt haben. Ganz zu schweigen von der Rückführung zehntausender Artefakte, die 1945 in die Sowjetunion gebracht wurden und erst nach dem Fall der Mauer über das Grassi Museum in Leipzig nach Berlin zurückkamen.“
Doch die Restaurator*innen haben in ihrer täglichen Arbeit noch mit weiteren Herausforderungen zu kämpfen. So wurden zum Schutz gegen Schädlinge bis weit in die 1980er Jahre ganze Sammlungsbestände mit verschiedenen, zum Teil hochgiftigen Pestiziden behandelt. Solche auch für Menschen gefährlichen Kontaminationen sind Realität in fast allen ethnologischen Museen weltweit. Die zum Teil tief in Objekte eingedrungenen Gifte akkumulieren sich besonders im Staub. Das ist der Grund, warum Mitarbeiter*innen bei der direkten Arbeit mit den Objekten besondere Vorkehrungen treffen müssen. Dass Berührungen ohne Schutzkleidung nicht möglich sind, ist nicht zuletzt bei der Zusammenarbeit mit Herkunftsgesellschaften und bei Rückgaben erklärungsbedürftig: Auch die Vertreter*innen der Omaha, die in den Depots erstmals die Sammlung von Francis La Flesche vor sich hatten, mussten zuvor Handschuhe, Masken und Schutzkittel anlegen.
Aufgaben für die Zukunft: Digitale Zugänglichmachung und Modernisierung der Depots
Anders als die Omaha aus Nebraska hatten und haben viele Herkunftsgesellschaften, von denen Objekte in der Berliner Sammlung zu finden sind, bisher keine Gelegenheit, sich einen Überblick über die hier vorhandenen Stücke zu verschaffen. Ein Lösungsansatz für dieses Problem ist eine möglichst vollständige Digitalisierung und Online-Bereitstellung der Sammlungsbestände. Ohnehin ist eine derartige Transparenz für die künftige Arbeit der Museen und ihre immer stärkere internationale Vernetzung unabdingbar. Die Erfassung und Verfügbarmachung der Bestände des Ethnologischen Museums schreitet kontinuierlich voran. Auf der Plattform „SMB-digital“ der Staatlichen Museen zu Berlin sind für das Museum bereits über 110.000 Einträge gelistet und öffentlich recherchierbar, darunter auch die Objekte aus der Sammlung von Francis La Flesche. Auch die Erwerbungsakten des Museums werden derzeit digitalisiert und ermöglichen in naher Zukunft eine standortunabhängige Recherche sowie eine Ausweitung der Provenienzforschung.
Und das Ethnologische Museum steht noch vor einer weiteren Großbaustelle. Lars-Christian Koch, Direktor des Ethnologischen Museums sowie des Museums für Asiatische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin, erläutert: „Teile der aus den 1960er Jahren stammenden Gebäude am Museumskomplex in Berlin-Dahlem sind in keinem guten Zustand. So gab es in der jüngeren Vergangenheit beispielsweise Wassereinbrüche nach starken Regenfällen. Zwar sind davon derzeit keine Depotbereiche betroffen, Objekte also nicht akut gefährdet – anders als oft behauptet. Aber es besteht Handlungsbedarf. Die auf früheren Ausstellungsflächen neu eingerichteten Depots haben bereits allesamt eine technische Ausstattung auf zeitgemäßem Niveau erhalten. Dieser Standard wird für alle Depotbereiche umzusetzen sein.“
Schon jetzt wird trotz knapper Mittel, jedoch mit umso mehr Expertise und Elan daran gearbeitet, das Berliner Ethnologische Museum für die Zukunft fit zu machen. Noch allerdings warten gewaltige Aufgaben auf das gesamte Team, von der Depotverwaltung bis hin zur Direktion. Ethnologische Museen sind heute zu wichtigen Impulsgebern in der Museumswelt geworden: Etwa für internationale Kooperationen mit verschiedenen Interessensgruppen, die Überwindung eurozentrischer Perspektiven oder für eine gesellschaftliche Debatte über die deutsche Kolonialvergangenheit, die längst überfällig ist. Es gilt, als Museum hier noch aktiver mitzugestalten, Verantwortung auf der politischen Ebene einzufordern und Brücken zu bauen – auch in Form von Rückgaben und darüber hinaus.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.