In der DDR war die Geschichtswissenschaft bekanntlich kein Quell größerer Pluralität. Die „gesetzmäßige Abfolge der Gesellschaftsformationen“, wie es prosaisch hieß, ließ kaum interpretatorischen Gestaltungsraum. Die Revolution von 1989/90 bedeutete auch, dass sich die Gesellschaften die Hoheit über ihre Vergangenheit eroberten. Am Beginn der Umwälzungen in Ungarn, Polen oder dem Baltikum standen Proteste gegen unbewältigte historische Verbrechen und für die Aufklärung „weißer Flecken“. Die Vergangenheit sollte den Klauen der Instrumentalisierung entrissen, Geschichtsforschung pluralisiert und jedwede Zweckdienlichkeit von Geschichte unterbunden werden. In Ostdeutschland erfolgte das alles sehr weitgehend.
Der Vereinigungsprozess in Deutschland gestaltete sich ganz anders, als die Transformation im übrigen ehemaligen Ostblock. Aber hier wie dort glaubten viele, wirtschaftlicher Aufschwung und wachsender Wohlstand würde lebendige Zivilgesellschaften hervorbringen, die westliche Demokratie und Freiheit wie von selbst befördern. Aber in Deutschland ist dieser Prozess von Anfang an geschichtspolitisch mit immensen Mitteln begleitet worden: Die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen wurde zum weltweiten Vorbild, wie man eine Diktatur mit historischen Mitteln überwinden könne. Der Bundestag setzte zwei Kommissionen ein, die die Geschichte und Folgen der kommunistischen Diktatur beleuchteten und ins öffentliche Bewusstsein rückten. Opfervereine wurden wichtige Interessenvertreter ihrer Mitglieder. 1998 wurde die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gegründet.
Geschichtspolitiker am Werk
Die Bilanz dieses Engagements fällt nach 25 Jahren ambivalent aus. Auch für die DDR-Geschichte ist zu beobachten, was Voltaire 1737 festhielt: „Sprecht Ihr mit einem holländischen Bürgermeister über die Aufhebung des Edikts von Nantes, so ist es eine unkluge Willkürherrschaft; befragt Ihr einen Minister des französischen Hofes, so ist es weise Politik.“
Der Diskurs über die DDR fiel in zwei große Gruppen auseinander, die miteinander kaum redeten, dafür heftig übereinander herzogen. Die eine verteidigte öffentlich die DDR mehr, als sie es untereinander am Biertisch wohl tatsächlich tat – sie malte alles weiß. Und die andere geißelte noch den Kindergartennachttopf als ideologische Umerziehungsmaßnahme. Diese Schwarzseher hefteten sich zudem mit immer größerem Abstand zu 1989/90 eine historisch wachsende Widerstandsfähigkeit in der Diktatur an. Für die berühmten Grautöne, aus denen Geschichte nun einmal vorrangig besteht, war wenig Platz. Der Historiker Thomas B. Macaulay schrieb solchen Wahrheitsverkündern 1828 ins Stammbuch: „Eine Geschichte, in der jede Einzelheit wahr ist, kann doch als Ganzes falsch sein.“
Nun gab es in allen diesen Jahren neben den geschichtspolitischen Debatten auch stets wissenschaftliche Auseinandersetzungen, die die Ersteren aber nur selten erreichten. Ich war – wie viele andere Historiker – seit Anfang der 1990er Jahre an beiden beteiligt. Und wie viele andere bewegte ich mich dabei auch institutionell oftmals in Grenzbereichen zwischen Wissenschaft und Politik. Das war in den ersten Jahren nach der Revolution auch richtig und notwendig, denn zu einer erfolgreichen Revolution gehören der Umbau von Institutionen ebenso wie personelle Erneuerungen. Gesellschaftliche Versöhnungsprozesse setzen Wissen darüber voraus, womit sich versöhnt werden soll. Und dafür waren staatliche Institutionen zur „Vergangenheitsaufarbeitung“ wohl notwendig.
Aber der Aufarbeitungsprozess erfuhr, was wir allgemein immer beobachten können: Temporäre Prozesse verselbstständigen sich, auf Zeit angelegte Institutionen beanspruchen Bestandswahrung, verdienstvolle Persönlichkeiten privatisieren ihre Tätigkeitsbereiche zu absolutistisch veranlagten Macht- oder Gedenkstättenbereichen.
Nun wird erneut über die Zukunft der Aufarbeitung debattiert. Eine Kommission schlug dem Bundestag Anfang der Woche vor, die Gauck-Behörde zu teilen. Hier die administrative Aktenarbeit – ausgeführt vom Bundesarchiv. Dort ein Ombudsmann für Stasi-Opfer.
Ärgerlich daran ist, dass vor allem jene darüber streiten, die diese Zukunft nicht selbst gestalten werden. Warum nur sitzen in Zukunftskommissionen immer nur die Alten, in diesem Fall altgediente Aufarbeitungsfunktionäre? Warum sitzen dort nicht jene, um deren Zukunft es geht?
Noch tragischer im Fall der DDR-Forschung ist der Umstand, dass sie sich seit den 1990er Jahren in einer Insellage befindet. Sie ist losgekoppelt von der übrigen akademischen Forschung. Das hat zwei Ursachen: Erstens monopolisiert die Stiftung Aufarbeitung immer stärker die DDR-Forschung, ja die Kommunismusforschung in Deutschland überhaupt. Das hat schon seit langem zur Folge, dass ein Großteil dieser Forschung nicht nach professionellen akademischen Regeln gefördert, sondern von einem kleinen Kreis nichtakademischer Geschichtspolitiker und ihren professoralen Parteifreunden ausgewählt wird. Die Stiftung Aufarbeitung versucht seit Jahr und Tag ihren Einflussbereich auszubauen. Nun schickt sie sich gerade an, die DDR- und Kommunismusforschung endgültig als ihr Hauptsteckenpferd zu etablieren. Das würde nichts anderes heißen als: noch mehr Geschichtspolitik.
Die zweite Ursache liegt in dem Umstand, dass die DDR-Forschung fast ausschließlich in außeruniversitären Einrichtungen betrieben wird. Es fehlt eine feste Verankerung in Universitäten. Nirgends gibt es einen Lehrstuhl für DDR- oder Kommunismusgeschichte. Das ist ein Skandal, der noch größer dadurch wird, dass es demgegenüber zahlreiche Lehrstühle für einzelne andere Länder gibt, nur nicht für jenen Teilstaat, der unser heutiges Land mitprägt. Die Folgen solcher Interesselosigkeit kann man an den Schulen beobachten. Denn wenn künftige Lehrer DDR- und Kommunismusgeschichte nicht studieren, werden sie auch darüber nicht unterrichten können.
Schließlich sollte nicht vergessen werden, dass die Aufarbeitung seit 25 Jahren mit dem volkspädagogischen Auftrag versehen ist, dass aus Geschichte gelernt werden könne oder, einfacher formuliert: Wer Diktaturen verstehe, könne Demokratie gestalten. Selbst wenn beide Aussagen zutreffend wären, so müsste sich doch die Aufarbeitungsindustrie eingestehen, dass dieser Auftrag grandios gescheitert ist. Schauen wir in den Osten Deutschlands, oder den gesamten ehemaligen Ostblock: Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Homophobie blühen dort in einem weitaus intensiveren Maße als in West- und Südeuropa. Auch hier könnte man ein Versagen der Geschichtspolitik beklagen. Denn in den letzten 25 Jahren sind die einstigen Minderheiten in diesen Gesellschaften – die antikommunistische Opposition – zu geschichtspolitischen Größen aufgeblasen worden, die den Blick darauf verstellten, dass gerade dort die Zivilgesellschaft kaum mehr als schwache Keime entwickelt hat – bis heute.
Den Blick weiten
Auch hier könnte eine freie, von den Aufarbeitungsinstitutionen entkoppelte, wissenschaftliche Kommunismusforschung ungleich agiler wirken, wenn sie zum Beispiel historische Prozesse ungeachtet politischer Zäsuren in den Blick nimmt. Das bedeutet, unter anderem Fragen zu stellen oder Ansätze zu wählen, die unkonventionell sind. Zum Beispiel könnte man die politische Revolution von 1989/90 auch im Fluss von Wandlungsprozessen analysieren, die etwa in den 1960er Jahren einsetzten. Die Folge wäre möglicherweise, dass die Revolution unter Umständen auf ein neues historisches Maß gestutzt würde. Es würde bedeuten, Antworten zu geben, die gegen geschichtspolitische Erwartungen bürsten. Oder anders gesagt: In der Wissenschaft darf, ja muss nach einem eventuellen Nutzen der Mauer gefragt werden – in der Geschichtspolitik nicht.
Sollte die DDR- und Kommunismusforschung aus dem engen Korsett staatlicher Förder- und Aufarbeitungsinstitutionen entlassen werden, so könnte sie neue Impulse setzen. Allerdings setzt dies voraus, dass es Risikobereite dafür gibt. Friedrich Schillers berühmte akademische Antrittsrede von 1789 lehrt uns noch immer, worauf es letztendlich ankommt: nämlich darauf, den bequemen Brotgelehrten, dem es nur um Ruhm, nicht aber um Erkenntnis geht, zu bekämpfen: „Der Brotgelehrte verzäunet sich gegen alle seine Nachbarn, denen er neidisch Licht und Sonne missgönnt, und bewacht mit Sorge die baufällige Schranke, die ihn nur schwach gegen die siegende Vernunft verteidigt.“
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