Mittlerweile wissen es die meisten Gebildeten: „Ukraine“ bedeutet „Grenzland“. Es sollte die Trennlinie zur Steppe markieren. Und ebenso ist den meisten jetzt bekannt, dass die Ukraine in Europa (ohne Russland, die Türkei und außereuropäische Territorien) das flächenmäßig größte Land ist, in dem vor dem 24. Februar 2022 etwa 41 Millionen Menschen lebten. Die schlimmen Ereignisse, die sich mit diesem Datum verbinden, haben vieles verändert. Die Ukraine aber ist trotz Unabhängigkeitserklärung im Dezember 1991, trotz „Orangener Revolution“ im November 2004, als die Gesellschaft für demokratische Wahlen demonstrierte, trotz proeuropäischer Demonstrationen 2013/14 („Revolution der Wür
2;rde“), die im Februar zusammengeschossen wurden, und trotz gewaltsamer Annexion der Krim durch Russland 2014 im europäischen Geschichtsbewusstsein weiterhin ein großer weißer Fleck. Das berühmte Buch aus dem Jahr 2011, Bloodland – Europa zwischen Hitler und Stalin,von Timothy Snyder sorgte in Deutschland vor allem deshalb für solch anhaltendes Aufsehen, weil es eine schreckliche Wissenslücke füllte.Lange galt: Kreml firstAusgerechnet bei uns wussten die meisten Menschen nichts über die schrecklichen Geschehnisse in der Ukraine 1939 bis 1945, zu schweigen von dem erzeugten Hungerterror 1932/33, dem Holodomor, den Unabhängigkeitsbestrebungen 1919/21, dem Erwachen der ukrainischen Nation im 19. Jahrhundert oder dem komplizierten Weg der Ukraine seit 1991. Allerorten Klischees, Halbwissen, Lügen. Damit wurde Staatspolitik gemacht, bis in die Gegenwart hinein. Warum? Noch jetzt herrscht in Deutschland ein Bild vor, das Russland in eins setzt mit dem sowjetischen beziehungsweise postsowjetischen Raum. Nur wenige haben verinnerlicht, dass die Sowjetunion ein mit imperialen Ansprüchen zusammengehaltenes und zusammengeraubtes System, Russland selbst eine koloniale Erfindung war. In Deutschland galt seit Jahrzehnten: Kreml first. Nun sitzen wir in selbst gewählter Abhängigkeit da, keiner will es gewesen sein, niemand übernimmt Verantwortung, alle werkeln weiter, in den Talkshows sitzen weiter die Gleichen und versuchen vor allem, sich selbst zu retten. Demut ist keine Kategorie, die im politischen Raum zählt. Es geht ums Rechthabenwollen um jeden Preis. Bitter. Wir werden noch zu Lebzeiten erfahren, wer im eigenen und wer im fremden Auftrag redete und Lügen verbreitete. Und die Expert*innen bleiben abermals außen vor – wie schon vor dem 24. Februar 2022.Der Blick auf den postsowjetischen Raum war ein russischer, genau genommen sogar ein Moskowiter. Das schlug sich in Deutschland auch in den Osteuropawissenschaften nieder. Die wurden und werden von der russischen Geschichte dominiert, so als ginge es darum, ein Imperium mit seinen Satellitengebieten zu erforschen. Als 2016 die deutsch-ukrainische Historikerkommission gebildet worden ist, gab es erhebliche Probleme auf deutscher Seite, überhaupt fachkundige Ukraine-Spezialisten benennen zu können. Im deutschsprachigen Raum gibt es mit dem Schweizer Historiker Andreas Kappeler, der in Wien lehrte, seit Jahrzehnten überhaupt nur einen Autor, der es wagte, Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Ukraine vorzulegen.Wir reden vom größten Land Europas. Abgesehen von der Ukraine selbst und Polen ist die historische Ukraine-Forschung seit vielen Jahren in Nordamerika konzentriert. Viele ukrainische Gelehrte zog es nach Kanada und in die USA, wo sie die günstigen Arbeitsbedingungen nutzten, um seit den 1980er Jahren eine beeindruckende Forschungsvielfalt zu entwickeln. Seit Jahrzehnten ist Serhii Plokhy (geboren 1957), Sohn ukrainischer Eltern, der bis 1990 eine typische sowjetische Historikerausbildung absolvierte, der führende Ukraine-Historiker in der westlichen Welt. Er lehrt und forscht seit 1997 erst in Kanada und besetzt seit 2007 den Hruschewskyj-Lehrstuhl in Harvard. Mychajlo Serhijowytsch Hruschewskyj (1866 – 1934) war nicht nur führender Aktivist der ukrainischen Nationalbewegung, als Historiker der Ukraine hat er maßgeblich die ukrainische Nationwerdung unterstützt und die Ukraine gegen russische Vereinnahmungsansprüche als selbstständiges historisches Subjekt verteidigt. Auf dem 50-Hrywen-Schein ist er abgebildet, was seine überragende Bedeutung für die ukrainische Gegenwart versinnbildlicht.Plokhys Bücherliste ist beeindruckend lang. Nachdem bereits im Frühsommer ein Band mit Aufsätzen herausgekommen ist, Die Frontlinie – Warum die Ukraine zum Schauplatz eines neuen Ost-West-Konflikts wurde (Rowohlt), der durch seine Komposition eine Geschichte der Ukraine bot, ist nun sein wichtigstes Buch in deutscher Übersetzung erhältlich. Erstmals 2015 erschienen, hatte es der Autor 2021 aktualisiert erneut publiziert. Nun, ein halbes Jahr nach Beginn des versuchten Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine, liegt es auf Deutsch vor. Es ist ein intellektuelles Ereignis.Das Tor Europas macht schon mit dem Titel deutlich, was vielen Europäer*innen noch längst nicht bewusst ist: Die Ukraine ist Teil der europäischen Geschichte, so wie die europäische Geschichte ein unlösbarer Teil der Ukraine ist. Die russische Diktatur versucht gegenwärtig mit militärischen Mitteln, die Ukraine „heimzuholen“, obwohl die ukrainische Geschichte eben immer „Grenzlandgeschichte“ blieb. Das Besondere an dem Buch von Plokhy besteht darin, dass er die verschiedenen Geschichten der Ukraine als Teil anderer Groß- und Kleinreiche nicht parallel, sondern miteinander vernetzt erzählt. Er nimmt die Ukraine als eigenständige Gesellschaft ernst und dekonstruiert so koloniale Erzählmuster, die das Land immer nur im Schatten, als Anhängsel, als Streitobjekt, als Gebiet ohne eigene Geschichte konstruieren. Uns tritt hier nicht ein homogenisiertes Objekt, sondern eine heterogene Gesellschaft, deren Einheit in der Vielheit liegt, gegenüber. Dadurch hebt sich die Darstellung ebenso wohltuend von russisch-imperialistisch-kolonialen Erzählungen, wie sie Putin verbreiten lässt, ab wie von ukrainisch-nationalistischen Narrativen, die ihre Gesellschaft homogenisieren und somit unfreiwillig ihrer Subjektrollen entkleiden, sie viktimisieren und so unweigerlich und ungewollt in eine Defensivposition, einen immerwährenden Abwehrkampf stellen.Putins Nation-BuildingHistoriker Plokhy erzählt eine eigenständige Geschichte, deren innere Widersprüche bei ihm eben nicht – wie in Deutschland in der Publizistik gern üblich – zur politischen Denunziation, sondern zur historischen Erklärung geraten. Der nationalistischen Bewegung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert spürt er in ruhigen Bahnen nach, verklärt nichts, spielt keine Opfer herunter, erklärt aber, warum diese Bewegungen so radikal gegen Polen oder Russen vorgingen, ebenso radikal wie gegen sie selbst agiert wurde. Natürlich verschweigt er den Antisemitismus nicht. Die Kollaboration von Ukrainern kontextualisiert er: Es gab sie nicht nur mit den Deutschen, sondern eben auch mit den Sowjets. Das verstehen in Deutschland viele immer noch nicht – wer es verstehen will, wird hier gut aufgeklärt. Nur knapp erwähnt er, dass nirgendwo sonst Partisanen sich nach 1945 so hartnäckig und so lange (bis Anfang der 1950er Jahre) gegen die sowjetisch-kommunistische Herrschaft zu wehren ersuchten. Den Weg in die Unabhängigkeit ab 1991 zeichnet Plokhy nach als das, was er war: Postkommunistische Eliten rissen an sich, was sie bekommen konnten. Das System der Oligarchen war in der Ukraine genauso ein Werk von skrupellosen Verbrechern wie in Russland. Anders aber als in Russland erwachte die Zivilgesellschaft und die Ukraine begab sich auf einen dornenreichen Weg nach Europa, nach Westen. Und genau dieser Weg ist von der russischen Diktatur als Gefahr für die eigene Existenz erkannt worden: die Angst vor dem Schule machenden Beispiel. Immer wenn die Ukraine einen weiteren Schritt auf Europa zuging, zog Russland mit Aggressionen oder Annexionen an. Nun hat Russland einen Vernichtungskrieg begonnen. Niemand weiß gegenwärtig, wie es für Russland ausgehen wird, ob das riesige Land die neueste Diktatur überleben, zu einem Anhängsel Chinas, in inneren Kämpfen versinken oder ein neues Gulag-System das Land zusammenpferchen wird, bis es wie 1989/91 auseinanderbricht. Niemand weiß es, aber dass die Ukraine letztlich gestärkt aus diesem Krieg hervorgehen wird, scheint unbestreitbar. Putin betreibt Nation-Building der eigenen Art. Wie viele Opfer bis dahin noch zu erbringen sein werden, ist ungewiss. Wird der Westen alles tun, um die Opferzahlen zu minimieren?Wer verstehen will, warum der Westen nicht nur um seiner selbst willen die Ukraine mit allen Mitteln unterstützen muss, der wird mit diesem großen und großartigen Buch von Serhii Plokhy, das jeder auch ohne geringste Vorkenntnisse lesen und verstehen kann, bestens bedient. Es ist ein Buch über eine Gesellschaft, die es nach Jahrhunderten verdient hat, in der Geschichte anzukommen. Wer nicht mehr infrage gestellt wird, kann ruhig, gelassener und entspannter aufbauen, ohne ständig beweisen zu müssen, dass es überhaupt einer Daseinsberechtigung bedarf. Im Westen ist diese Botschaft noch längst nicht angekommen. Viel zu oft wird diese hier bei uns immer noch infrage gestellt. Wer an Fakten interessiert ist, lese Das Tor Europas.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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