Täter und Opfer

Debatte Stasi-Forscher Ilko-Sascha Kowalczuk über den Fall Andrej Holm und voreilige Schlüsse über DDR-Biografien
Ausgabe 02/2017

Ich bin nur wenig älter als Andrej Holm und wuchs wie er in einem DDR-Elternhaus auf, das ich als staatsnah, aber systemimmanent kritisch beschreiben würde. Mein katholischer Vater konvertierte 1961 zum Kommunismus. Er wollte zur Staatssicherheit, die ihn aber nicht nahm. Holms Vater machte Karriere in der Abteilung XX der Stasi. Offenbar sind wir ähnlich erzogen worden: im treuen Glauben an Kommunismus und SED-Staat. Mit zwölf Jahren verpflichtete ich mich auf Anraten meiner Eltern, Offizier der Nationalen Volksarmee (NVA) zu werden. Mit 14 wurde ich wie Andrej Holm Mitglied eines FDJ-Bewerberkollektivs für militärische Berufe. Für die Unterschrift sei jemand zu ihm nach Hause gekommen, so erinnert er sich, das war’s. Ich sage: Das FDJ-Bewerberkollektiv hielt einen immer auf Trab.

Ich habe mir das womöglich anders eingeprägt, weil ich mit vierzehneinhalb Jahren den Mut fand, Nein zu sagen zum Offiziersberuf, Nein zu meinem Vater und letztlich Nein zum SED-Staat. Eineinhalb Jahre hatte ich mich dafür in kindlichem Alter vor Lehrern, Offizieren und SED-Funktionären zu rechtfertigen – überwiegend ohne jeden Beistand. Man prophezeite mir: Das war’s für dich! Ich war 15 Jahre alt – und zum Staatsfeind mutiert. Meine Welt lag in Trümmern. Ich wusste aber mit 14 und 16 und 18 ganz genau, was ich tat.

Vielleicht erinnere ich mich deshalb auch anders an die Stasi als Andrej Holm. Aber genau wie nicht alle meine Erinnerungen nachträgliche Rekonstruktionen sein können, so können es auch nicht seine durchweg sein. Erst wenn man älter wird und womöglich Kinder in diesem Alter hat, weiß man, wie jung man mit 14, 16 oder 18 wirklich war. Entscheidungen in diesem Alter dürfen nicht lebensbestimmend sein. Mir hingen sie unerbittlich bis 1989 nach – das war Unrecht. Und Andrej Holm sollen sie noch 27 Jahre später unerbittlich verfolgen – das ist nicht gerecht. Es ist nicht verwunderlich, dass Andrej Holm bei der Stasi landete. Aus Familien wie seiner rekrutierte die Geheimpolizei vorzugsweise schon im Jugendalter ihre Nachwuchskader. Niemand wurde von der Stasi so intensiv überwacht wie die Stasi-Leute selbst, niemand so dauerhaft ideologisch infiltriert. Andrej unterschrieb mit 14 – und er ist damit zunächst ein Opfer des SED-Regimes. Wer als Kind zu so weitreichenden Entscheidungen genötigt wird, ist ein Opfer der Umstände: des Staates und der Eltern.

Öfter mal kleinere Aufträge

Nun war es aber nicht so, dass Holm erst zum Dienstantritt 1989 wieder etwas von seinem künftigen Arbeitgeber hörte. In den folgenden fünf Jahren kümmerte sich das Ministerium für Staatssicherheit intensiv um seinen künftigen Offizier. Es sollte ja niemand mehr abspringen, es sollte sich bei den künftigen Offizieren ein Sonderbewusstsein ausprägen. Dazu gehörten normalerweise auch Gespräche oder kleine Aufträge, etwa in getarnten FDJ-Sicherheitsgruppen zu Konzerten zu gehen. „Gesellschaftliche Kräfte kamen zum Einsatz“, hieß das im Stasi-Jargon. Jeder junge Mann aus der DDR weiß genau, was Militarisierung der Gesellschaft hieß, wenn er sich denn erinnern mag. Das war eine Alltagserfahrung. Und jeder, der Offizier werden wollte, weiß, worin die Unterschiede zum Grundwehrdienst bestanden. Niemand kannte den Unterschied nicht.

Andrej Holm war vier Jahre lang herausgehobener FDJ-Funktionär in seiner Schule, im Jahr 1988 trat er in die SED ein. Auch dies eine bewusste Entscheidung, die mit vielen Ritualen befrachtet war. Er rückte mit fast 19 Jahren zum 1. September 1989 als Offiziersschüler in die Kaserne ein – mit einem Sold von 675 DDR-Mark, etwa viermal so viel wie bei einfachen Soldaten. Holm war nun Offiziersschüler, der zwei Jahre später in Leipzig im Auftrag der Stasi Journalismus studieren sollte. Er absolvierte zunächst eine sechswöchige obligatorische Militärausbildung in der Berliner Wach- und Sicherungseinheit des MfS (die übrigens nicht zum Wachregiment „Feliks Dzierzynski“ gehörte). Holm war seit 1. September 1989 Mitarbeiter der Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) der Abteilung XX der Bezirksverwaltung Berlin – einer Einheit zur Bekämpfung kritischer und oppositioneller Menschen. Seine Grundausbildung endete laut Akten am 6. Oktober 1989. In diesen Tagen waren die Offiziersschüler des MfS in höchste Einsatzbereitschaft versetzt worden – wie alle Angehörigen in MfS, NVA und Polizei. Sie wurden in Berlin, Leipzig und 50 weiteren Orten eingesetzt. Andrej Holm nicht, wie er sagt. Er saß in der AKG und las Betriebsberichte, wie er sagt. Auch AKG-Mitarbeiter waren in den letzten Monaten des Jahres 1989 im operativen Einsatz: etwa vom 7. bis 9. Oktober rund um die Gethsemanekirche. Oder bei der Observierung der vielen neuen Gruppen. Oder bei der großen Freiheitsdemo am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz.

Vertrackt ist, dass Andrej Holm als künftiger Führungsoffizier nicht irgendwelche Berichte las, sondern auch IM-, also Spitzelberichte: Das war die Aufgabe der AKG, des Kopfs der Abteilung XX. Und natürlich las er sie nicht um des Lesens willen; es sollte ihm obliegen, Rückschlüsse zu ziehen und daraus Maßnahmen vorzuschlagen, genauer sollte er es lernen. Verwirrend ist, dass die Linkspartei und er bislang so taten, als wäre dies weniger problematisch, als Spitzelberichte zu verfassen. Historisch-strukturell gesehen ist es genau andersherum.

Offene Fragen

Andrej Holm ist Stadtsoziologe und einer der prominentesten Gentrifizierungskritiker. Die neue Berliner Bausenatorin Katrin Lombscher (Linke) hatte ihn im Dezember zu ihrem Staatssekretär ernannt. Noch vor Amtsantritt wurde bekannt, dass Holm, der aus seiner Stasi-Vergangenheit nie ein Geheimnis gemacht hat, einige wichtige Details nicht genannt hat. So verschwieg er seinem bisherigen Arbeitgeber, der Humboldt-Universität, dass er bei der Stasi eine Offizierslaufbahn einschlagen wollte. Der Fall belastet inzwischen auch die gerade gestartete rot-rot-grüne Koalition in der Hauptstadt. Bis zum 12. Januar läuft derzeit eine Frist, in der sich Holm gegenüber der Humboldt-Uni zu seinen Stasi-Verstrickungen äußern soll. Philip Grassmann

Es bleiben viele Fragen offen. Aber selbst wenn sich herausstellen sollte, dass seine Tätigkeiten bei der Stasi anders aussahen, als Holm sie schildert, bleibt der Umstand, dass er jung war und dass für ihn nach wenigen Monaten der Dienst beendet war – wegen der Revolution. Zurück bleibt der Eindruck, dass Holm Erinnerungslücken besitzt, die die Vergangenheit nicht gerade in konsistentem Lichte erscheinen lassen.

Und hier beginnt das Gegenwartsproblem der Debatte. Im Kern geht es darum, wie wir als Berliner, wie die Landesregierung und wie ein Staatssekretär heute mit dem umgehen, was in einer kommunistischen Diktatur, die diese Stadt prägte, geschah. Meine Meinung: Staatssekretär Holm hat nicht das geleistet, was von einem Mann in seiner Position zu erwarten ist.

Doch das Problem ist weitaus komplizierter. Zwischen 1990 und 1992 kam eine merkwürdige Allianz mit einer fragwürdigen Suggestion zustande: Die Staatssicherheit wurde zum historischen Sündenbock erklärt. Jeder kennt die Rede vom „Schild und Schwert der Partei“, das MfS war Schild und Schwert, die SED die Partei, also Arm, Hand und Kopf, die das Schwert führten. Wenn wir das ernst nehmen, müssen wir feststellen, dass Arm, Hand und Kopf seitdem kaum beachtet wurden. Das hatte eine gesellschaftliche Entlastungsfunktion. Man konnte eine vergleichsweise kleine Gruppe dafür verantwortlich machen, was eine viel größere Gruppe zu verantworten hat. Jeder kleine IM wurde gejagt, hauptamtliche Mitarbeiter hatten gar keine Chance. Hauptamtliche SED-Funktionäre hingegen, die Auftraggeber der Stasi, konnten mehr oder weniger weitermachen – bis zum heutigen Tage. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow hat erklärt, eine Personalie wie Holm wäre mit ihm nicht möglich. Das zeigt, wie die Linkspartei die Stasi als alleiniges Übel hinzustellen versucht. Tatsächlich aber war die SED in jeder Hinsicht verantwortlich – auch für die Stasi. In Bodo Ramelows Erfurter Landtags- und in Sahra Wagenknechts Bundestagsfraktion sitzen frühere SED-Kader, die weitaus mehr auf dem politischen Verantwortungskerbholz haben als der Jungerwachsene Andrej Holm.

In den 1990er Jahren wurde die vielbeschworene Einzelfallprüfung zu einem Mittel, den Personalabbau mittels Stasi-Akten voranzutreiben. Ich kann weder nachvollziehen noch glauben, dass Andrej Holm nicht erinnerte, dass er als Offiziersschüler hauptamtlicher MfS-Mitarbeiter gewesen war. Das aber bedeutet, dass er beim Ausfüllen von Personalfragebögen vor einem schier unlösbaren Problem stand: die Wahrheit sagen – und den Job an der Humboldt-Universität nicht bekommen. Oder den Job bekommen – und dafür lügen. Ich kann gut verstehen, dass er sich für die zweite Alternative entschied. Der jetzige Staatssekretär hatte praktisch keine andere Wahl, weil hauptamtliche MfS-Mitarbeiter im Gegensatz zu IM bei der Einstellung im gehobenen öffentlichen Dienst in Berlin nie eine Chance hatten. Wer instrumentalisiert die Geschichte im Fall Holm? Die Frage lässt sich ganz einfach beantworten: Alle tun das.

Die Linkspartei beruft Andrej Holm zum Staatssekretär, wohl auch, weil sie potenziell neue Wählergruppen gewinnen will. Das ist Politik. Aber zugleich erneuert die Partei ihren Ruf, ein problematisches Verhältnis zur eigenen Geschichte zu haben. Dass sie Andrej Holm mit dem Argument zu schützen sucht, er habe als hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter ja nicht gespitzelt, ist verwegen und historisch ekelhaft. Mit SPD und Bündnis 90/Die Grünen sieht es nicht viel besser aus. Offenbar haben sie angesichts der sagenhaften 25 Staatssekretäre den Überblick verloren. Und die CDU geriert sich als Saubermannpartei – und vergisst dabei, wie sie das Politbüro-Mitglied Günter Schabowski einst hofierte, der immerhin dritthöchster Vorgesetzter Holms war.

Es gibt keine einfache Lösung. Ob Rücktritt, Entlassung oder Status quo – jede Variante hat Vor- und Nachteile für die politische Kultur und den Aufarbeitungsdiskurs. Die schlechteste Option aber ist, der Humboldt-Universität den Fall zuzuschieben: Es geht um eine politische Entscheidung. Die muss Berlins Landesregierung treffen – und nicht etwa die Universität.

Ilko-Sascha Kowalczuk arbeitet als Historiker bei der Stasi-Unterlagen-Behörde. Gekürzte Fassung eines Vortrags zur Diskussion mit Andrej Holm bei der Havemann-Gesellschaft

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