Dezentrale Stör-Aktionen

BEZIEHUNGSKRISE Der Atomkompromiss zwischen Rot-Grün und der Energiewirtschaft hat Umweltverbände und Kernkraftgegner ernüchtert. Sie besinnen sich bewährter Proteststrategien

Hat die Partei ihre Wurzeln nun ganz vergessen? Nach dem Jugoslawienkrieg erlebten die Grünen nicht nur eine große Austrittswelle, auch die Friedensbewegung ging auf Distanz. Ähnlich wütend reagieren nun Umweltverbände und Anti-AKW-Bewegung auf den Atomkompromiss. Sie wollen ihre Lobby-Arbeit in Zukunft auf noch selbstständigere Füße stellen. Was einmal wie der Bund fürs Leben aussah, scheint sich zur Lebensabschnittspartnerschaft gewandelt zu haben.

In dem jüngst veröffentlichten Jahresrückblick für 1999 ist es schwarz auf rot zu lesen: »Atomausstieg sofort« fordert der vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) unmissverständlich und zeigt dem Caddie der Atombosse - Gerhard Schröder - die rote Karte. Die Grünen und ihr Umweltminister Jürgen Trittin hätten sie allerdings ebenso verdient. - Ein Monat ist vergangen, seit die Bundesregierung den Konsens mit den Atomkraftwerksbetreibern hergestellt hat. »Atomausstieg« und »historischen Erfolg« nennt die Regierung das Papier, was die Energieunternehmen freilich dementieren. Ein fauler Kompromiss sei es, kritisieren Umweltverbände und Atomkraftgegner immer noch, darunter auch der BUND: Die Vereinbarung garantiere den weiteren Betrieb von Atomanlagen über 35 Jahre und länger. Es werde noch einmal so viel Atommüll produziert wie seit Ende der sechziger Jahre, als das erste AKW in Betrieb ging. Die Entsorgung sei weiter ungeklärt, und auf erneuerte Sicherheitsstandards für die alternden Atommeiler verzichteten die Konsensstrategen der Koalition ebenso wie auf ein Ende mit der steuerlichen Subventionierung der Atomenergie, heißt die Kritik.

Grüne ohne zweites Standbein?

»Es ist schwieriger für uns geworden«, stellt Renate Backhaus, atompolitische Sprecherin des BUND ernüchtert fest. Sie befürchtet, in der Öffentlichkeit sei das Thema Atomausstieg vom Tisch: »Die Gefahr ist natürlich, dass sich die Menschen mit diesem Kompromiss zufrieden geben.« Sie ärgert besonders, wie leicht es offenbar der Mehrheit der Grünen gefallen ist, die programmatische Wende von der Forderung nach dem Sofortausstieg hin zu flexiblen 32 Jahren Laufzeit zu vollziehen. Ob denn Jürgen Trittin demnächst auf der Castor-Lok sitzen und den Leuten erklären wolle, der Transport sei jetzt ungefährlich, weil er ihn fahre, fragt sie ironisch. Die Enttäuschung ist ihr anzusehen. »Die Grünen können nicht folgenlos das zweite ihrer vier Gründungs-Standbeinen wegrasieren«, prophezeit die Umweltschützerin. Mit den Standbeinen meint sie Frieden, Anti-Atom, Frauen und Gerechtigkeit. Das erste, stellt Backhaus fest, sei mit der Kosovo-Politik »mehr als zweifelhaft« geworden.

Nun hofft Backhaus, dass sich doch noch ein Bumerangeffekt einstellt - bei den nächsten Wahlen. Ein politisches Stimmungsbild unmittelbar nach dem Grünen-Parteitag in Münster ergab immerhin keinen Anstieg in den Meinungsumfragen. Aber Parteiaustritte von enttäuschten Grünen - so die BUND-Bundesvorsitzende Angelika Zahrnt - gebe es auch nur in Grenzen.

Hans-Josef Fell, energiepolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, lässt die Kritik an seiner Partei unbekümmert. Für ihn bleibt das Verhandlungsergebnis ein Erfolg, »auch wenn andere das nicht wahrhaben wollen«. Fell geht davon aus, dass entgegen »pessimistischer Prognosen der Umweltschützer« der Ausstieg früher kommt als in dreißig Jahren. Dann nämlich, wenn die Atomkraftwerksbetreiber bemerken, dass Atomstrom eigentlich betriebswirtschaftlich unsinnig ist. Ein bisschen mehr Druck in den kommenden Verhandlungen um die konkreten Ausformulierungen der Vereinbarung hält er jedoch auch für geboten. Auf die Frage, wie er das unter den gegeben Kräfteverhältnissen - SPD und Energieversorger - und der Konsens-statt-Dissens-Linie erreichen wolle, räumt er ein: »Leicht wird das nicht.«

In Gorleben wird weiter demonstriert

Und wie stehen die Atomgegner an der Basis inzwischen zu den Grünen und zu zukünftigen Strategien? Für den Sprecher der Bundesinitiative Umweltschutz Lüchow-Dan nenberg, Wolfgang Ehmke, bleibt alles beim Alten. Schließlich gebe es weiterhin keinen echten Ausstieg. Zusammen mit dem BUND ruft er für den 23. September zu einer Demonstration gegen das Atompapier auf. Motto: »Ausstieg? Alles Lüge!« Ehmke rechnet mit etwa 4.000 bis 6.000 Teilnehmern. Und das soll erst der Anfang sein. Insbesondere die Aktionen zu den Castortransporten im Herbst seien eine Art Test für die Anti-Atom-Bewegung. Dann nämlich werde sich zeigen, wie sehr die Luft raus sei aus dem Thema.

Berit S. aus Göttingen, 26 Jahre alt und seit fast zehn Jahre aktiv bei Protesten gegen AKW und Castorblockaden, ist optimistisch. Denn, lautet ihre Begründung, im Grunde sei die Anti-AKW-Bewegung inzwischen vielmehr eine gegen die Castoren, und die rollten schließlich weiterhin. Erste, gut besuchte Vorbereitungstreffen gebe es schon. Und noch etwas hat die Umweltschützerin beobachtet: Die Organisationsweise und der Ablauf der Aktionen veränderten sich. Gruppen setzten zunehmend auf schnelle, dezentrale Stör-Aktionen vor Ort. So könne man die Bevölkerung besser erreichen und aktuell reagieren. So geschehen beispielsweise vergangenes Wochenende in Fessenheim. Dort hatten deutsche und französische Umwelt-Gruppen zu einer Radtour gegen Atomstrom und den örtlichen Reaktor aufgerufen. »Atomproteste wird es solange geben, wie die Atomindustrie durch das Nadelöhr der Transporte muss und keine vernünftigen Konzepte zu Entsorgung und Ausstieg vorliegen«, ist sich Berit sicher. An eine konsequente Anti-Atompolitik der Grünen und der SPD habe sie schon sehr früh nicht mehr geglaubt: »Spätestens, als klar wurde, dass ein Konsens mit der Atomlobby wichtiger ist als der sofortige Ausstieg, war das doch alles gelaufen.«

Auf einer ganz anderen Ebene setzen Aktionen wie »Grüner Strom« von Umweltverbände, -gruppen und - hier trifft man sich wieder - den Grünen an. Erste Erfolge gibt es schon: Neben einer steigenden Anzahl von Privatpersonen überlegen jetzt auch Gewerkschaften, Verbände, Kirchen und Unternehmen, auf regenerativen, umweltfreundlichen Strom umzusatteln. Damit sich das noch mehr Leute leisten können, ist es aber notwendig, dass die Privilegien der Atomenergie seitens der Regierung endlich aufgekündigt werden. Auch da, so die Umweltschützer, soll der Druck der Straße helfen.

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