Schau mal über die Grenze, DGB: Die anderen sind viel weiter
Organizing Statt sich auf die neuen Herausforderungen für die bevorstehende Wirtschaftskrise einzustellen, drohen die Gewerkschaften den Wandel zu verschlafen
Mick Lynch hat eine frohe Botschaft: „Die arbeitende Klasse ist zurück.“ Lynch ist Gewerkschaftsführer der streikenden britischen Eisenbahner, und wenn es nach ihm geht, setzen die Arbeiter endlich wieder ihre Interessen durch. Und tatsächlich spricht einiges in Großbritannien dafür: In der anhaltenden Auseinandersetzung der Gewerkschaft RMT (Rail, Maritime, Transport) mit Staat und Arbeitgebern hat der Arbeitskampf bei den Briten enorm an Zustimmung gewonnen, obwohl die Menschen normalerweise ächzen, sobald Eisenbahnerstreiks den Verkehr lahmlegen.
Das Geheimnis dieses Erfolgs liegt in Beharrlichkeit, aber auch an der medialen Präsenz des „Mannes der Arbeiterklasse“, wie die FAZ kürzlich titelte. Wenn Gewerkschaftsboss Lynch i
schaftsboss Lynch im britischen Fernsehen davon spricht, dass er zwar verstehe, dass die Bürger unter den Streiks leiden, aber dass andererseits die Löhne jahrelang nicht gestiegen seien und während der Corona-Pandemie viele leere finanzielle Versprechen gemacht wurden, dann bringt ihm das Sympathiepunkte ein. Und wenn er sagt, dass er es nicht akzeptieren werde, dass man trotz Arbeit in die Armut rutscht, dann trifft er damit einen Nerv.Auch hierzulande sehnen sich die Beschäftigten nach solchen Sätzen. Denn die sich abzeichnende Wirtschaftskrise und die stark gestiegenen Preise für Energie und Lebensmittel belasten insbesondere kleinere und mittlere Einkommen enorm. Vielen Menschen droht ein materieller Abstieg. Doch Yasmin Fahimi, die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DBG), lobt das kürzlich beschlossene dritte Entlastungspaket der Bundesregierung für seine „soziale Handschrift“ und als „beeindruckendes Paket in einer Zeit beispielloser historischer Herausforderungen“.Hört man sich jedoch bei den Einzelgewerkschaften um, grummelt es an vielen Stellen. Mit dem Entlastungspaket ist man an der Basis nicht überall so zufrieden wie Fahimi. Vielmehr tut sich zwischen Basis und Gewerkschaftsführung derzeit ein immer breiterer Graben auf. Kein Wunder: Selbst die starke IG Metall fordert in ihrer aktuellen Tarifrunde nur acht Prozent mehr Lohn – das liegt unterhalb der derzeitigen Inflationsrate.Die Zurückhaltung des DGB hat viel mit dem korporatistischen System zu tun, das die Bundesrepublik prägt. In der Aushandlung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wird ein übergeordnetes Interesse von Stabilität und wirtschaftlicher Entwicklung angenommen, in dessen Rahmen sich die Tarifpartner verständigen. Dieser besondere Klassenkompromiss war in den 60ern und 70ern immerhin noch hart erkämpft. Zwar wurden die Gewerkschaften eingehegt, sie hatten aber trotzdem noch eine relative Macht.Das lässt sich heute wegen des Mitgliederschwunds und nach jahrzehntelanger neoliberaler Politik, die systematisch auch Gewerkschaften schwächte, nicht mehr so einfach sagen. Die Gewerkschaftsführungen halten dennoch an dem Kompromiss fest. Das mag zunächst paradox erscheinen, ist aber innerhalb der Organisationslogik nachvollziehbar: Der Mechanismus der Aushandlung ist eingeübt, und die vielfach sozialdemokratisch geprägten Mitglieder rufen natürlich nicht zum Aufstand auf, wenn Kanzler Olaf Scholz (SPD) seinerseits die konzertierte Aktion ausruft, um der Wirtschaftskrise zu begegnen. Es ist, als ob die Angst vor weiterem Bedeutungsverlust die Führungsebenen noch stärker an die institutionellen Vorgaben kettet. Dazu kommt noch die Trägheit der Apparate: Bis ein Beschluss gefasst wird, vergehen Wochen oder sogar Monate. Aktuellen Stimmungen in der Bevölkerung laufen die Gewerkschaften deshalb meist hinterher, anstatt sie anzuführen.Und doch gibt es hierzulande immer wieder neue und auch kämpferische Ansätze, die vom „Organizing“ der US-amerikanischen Arbeiterbewegung inspiriert sind und sogar Belegschaften erschließen konnten, die bisher als schwer organisierbar galten, etwa die Beschäftigten in Krankenhäusern. Es gibt also in den Einzelgewerkschaften durchaus die Einsicht, dass man neue Wege gehen muss und dass beispielsweise die Mitgliedergewinnung ein systematisches Verfahren braucht.Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis sich an der Basis die Aktivisten stärker zusammenschließen. Viele von ihnen fühlen sich derzeit an die Proteste gegen die Hartz-IV-Reformen vor mehr als zehn Jahren erinnert, an denen auch diejenigen teilnahmen, die Abstiegsängste hatten und die vorrangig von linken Gewerkschaften geprägt waren. Erst ziemlich spät schlossen sich schließlich die Gewerkschaften der Protestdynamik in Gänze an.Beteiligte, die über die Agenda-Politik und die Rolle der Gewerkschaften von damals reflektieren, sagen häufig, dass sie den damit verbundenen sozialen Kahlschlag nicht haben kommen sehen. Zu berauscht war man von dem Reformprojekt der damaligen rot-grünen Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und der Verheißung des dritten Weges der damaligen Sozialdemokratie.Diese Erinnerung steckt vielen noch in den Knochen. Und Jüngere kennen politisch keine Zeit vor der umstrittenen Agenda und wundern sich, wie man bei steigenden Preisen auf die Idee kommen kann, nicht eine angemessene Lohnerhöhung zu fordern. Insofern dürfte es den Gewerkschaftsführungen schwerfallen, Einmalzahlungen und Tarifabschlüsse unterhalb des Inflationsniveaus als Erfolg zu verkaufen. Der materielle Widerspruch zwischen dem, was ausgerufen wird, und dem, was am Ende tatsächlich im Portemonnaie landet, wird zu eklatant. Außerdem ist die heutige Situation sogar noch komplexer als damals: Vor dem Hintergrund der Transformation, die vor allem die starke Industriegewerkschaft trifft, sind die Anforderungen an einen langfristig sicheren Arbeitsplatz enorm gestiegen, und das erfordert eine höhere Streikbereitschaft. Ohne Konflikt wird sich diese Transformation nicht abspielen.Dazu kommt in dieser Krise der Arbeitskräftemangel, der den Gewerkschaften eigentlich in die Hände spielen müsste. Denn dort, wo es an Arbeitskraft mangelt, steigt die Verhandlungsmacht derjenigen, die sie anbieten. Streiks tun weh, das wissen auch die britischen Eisenbahner, aber sie sind manchmal notwendig, um auf die Mängel eines Systems hinzuweisen, das jahrelang Profite vor Menschen stellt. Und es könnte sich als ein überaus starkes Mittel erweisen, wenn nach der Metall- und Elektroindustrie im Herbst auch die Tarifverhandlungen des öffentlichen Dienstes beginnen und sich die Beschäftigten miteinander solidarisieren.Mehr fordern als jetztDenn am Ende des Tages gibt es in dieser Vielfachkrise außerhalb der eigenen Organisationslogik keinen Grund, sich zurückzuhalten. Mittel- und langfristig verlieren die Gewerkschaften sogar durch diese Behäbigkeit und ihre Unfähigkeit, neue Mitglieder zu gewinnen und sie auf Tarifauseinandersetzungen vorzubereiten. Ein Teil der Beschäftigten wird sich angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage radikalisieren. Es wird nicht lange dauern, bis Krankenschwestern, Gebäudereiniger oder Autozulieferer mehr fordern als jetzt.Es würde dabei nichts schaden, wenn es hierzulande mehr Gewerkschaftsführer wie Lynch gäbe, die sagten, die arbeitende Klasse sei zurück – und nicht nur als Idee, sondern als Bewegung.