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Friedrich Engels Sein 200. Geburtstag findet größtenteils digital statt. Das funktioniert – und wäre wohl ganz in seinem Sinne
Ausgabe 48/2020
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Illustration: Ewa Klos/Leemage/Imago Images

Wer in Corona-Zeiten ins Grübeln kommt oder im Lockdown vereinsamt, wäre nicht schlecht bedient, sich an die Friedrich-Engels-Hotline zu wenden. Für Ungeduldige und besonders Hilfsbedürftige empfiehlt es sich, direkt die Sechs zu drücken und zur Revolutionsseelsorge zu gelangen, dem „Herzstück der Hotline“. Die verzerrte Stimme am anderen Ende gerät beim Vorlesen in Rage: „Bilden Sie sich!“, ruft Engels uns entgegen und pocht auf eine der wichtigsten Erkenntnisse marxistischer Theorie: Die Wirklichkeit will theoretisch kritisiert und praktisch umgewälzt werden. Beides bedingt sich im revolutionären Prozess, hier vermittelt durch die „Engels-Revolutionsseelsorge“. Die ist ein Angebot der Stadt Wuppertal, welche ihren einstigen Bürger mit einem „Engels2020“-Programm zum 200. Geburtstag ehrt. Wer will, kann noch eine Botschaft auf den Anrufbeantworter sprechen, sei sie „revolutionär oder anderer Natur“.

Wer Engels sagt, sagt im gleichen Atemzug meist auch Marx. Doch hätte es den Marxismus, der mindestens auch ein Engelismus ist, in der Form nie gegeben, wenn Engels nach dem Tod seines Begleiters nicht akribisch die Manuskripte des zweiten und dritten Bandes des Kapitals geordnet, redigiert und veröffentlicht hätte. Wie überhaupt der eine ohne den anderen nicht zu denken wäre. Nicht nur, weil der Unternehmer Engels die Familie Marx zuweilen finanziell unterhielt, sondern vor allem, weil sie gemeinsam eine neue Weltanschauung erarbeiteten. Eine Philosophie, die bis heute Unterdrückten und Ausgebeuteten dazu dient, Protest zu formulieren und zu formieren. Das Kommunistische Manifest reicht in seiner Verbreitung an die Bibel heran. Das Kapital, schrieb Engels in seinem Vorwort zur englischen Ausgabe von 1886, wird wiederum „die Bibel der Arbeiterklasse“ genannt.

Engels’ Rolle dafür ist kaum zu überschätzen. Er übernahm nach Marx’ Tod die Aufgabe, die gerade erst begründete Philosophie zu verbreiten. Er wurde zur intellektuellen Leitfigur für die anwachsende internationale Arbeiterbewegung. Besonders in der deutschen Sozialdemokratie, der damals organisiertesten Partei des Klassenkampfs, nahm er Einfluss.

„Denker. Macher. Wuppertaler“

Zu seinem 200. Geburtstag gibt es deshalb allerhand zu erinnern. Die Stadt Wuppertal, aus der er stammt, bietet im Corona-Jahr ein umfangreiches Angebot zu seinen Ehren. Das meiste findet notgedrungen digital statt, von der klassischen Lesung bis zur Video-Tanzstunde ist alles dabei, was man im Lockdown begehren könnte. Engels wird im Programm beschrieben als „Denker. Macher. Wuppertaler“. Was erst klingt wie eine kommunale Wahlkampagne, ist doch sehr viel reichhaltiger, als es zunächst vermuten lässt. Hier wird Werbung gemacht für die Stadt Wuppertal, aber es kommt auch ein marxistischer Denker zum Vorschein, dessen Werk an Aktualität kaum etwas eingebüßt hat.

Wer heute liest: „Verkannte Erfinder und Reformer, Impfgegner, Naturheilärzte und ähnliche schrullenhafte Genies suchten in den arbeitenden Klassen ... die ihnen sonst versagte Anerkennung zu finden“, der mag sich erheitern, wie zeitgemäß Engels zu seinem 200. klingt. Im Engels2020-Programm kann man sich stundenlang von Podcasts der Bergischen Volkshochschule und der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit hochkarätigen Vorträgen berieseln lassen: sei es von Oliver Nachtwey über den digitalen Kapitalismus oder Rolf Hecker, der an der historisch-kritischen Ausgabe der Marx-Engels-Gesamtausgabe, der MEGA, arbeitet. Engels selbst hätte das vermutlich gefallen, denn nichts wäre für ihn schlimmer gewesen, als geschichtslos in der Gegend herumschwebend bloß zitiert zu werden. Sein Werk muss mit der heutigen Wirklichkeit konfrontiert werden, will es nicht im glatten Widerspruch zu seinem Urheber stehen.

Ulrike Herrmann erklärt in der Podcast-Reihe, wie die Corona-Krise, vor allem aber auch die Klimakatastrophe zeige, wie der Kapitalismus unsere Lebensgrundlagen zerstört. Damit komme der Kapitalismus selbst an sein Ende, nur eben chaotisch. Vermutlich hätte Engels hier zugestimmt. Zwar prophezeite er die Gesetzmäßigkeit der Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen, doch hatte er noch keine Atombombe oder abschmelzende Polkappen vor Augen. Auch das Scheitern des Kommunismus, die Verbrechen in seinem Namen blieben ihm erspart. An ihn anzuschließen, bedeutet auch, die Geschichte mit im Gepäck zu haben. Alles andere würde dem historischen Materialismus unrecht tun.

Etwas seichter kommt die Dokumentation „Arbeitswelten“ daher. Sie lehnt sich indirekt an den Engels an, der die Lage der arbeitenden Klasse in England genauestens beschrieb und damit eine der ersten empirischen Untersuchungen für eine Klasse lieferte, die in Ausbeutung, Armut und Dreck lebt und doch den Mehrwert für die Kapitalisten erst schafft. In dem Film geht es jedoch weitaus weniger analytisch zu als in Engels’ Studie, vielmehr handelt es sich um Porträts von arbeitenden Menschen in Wuppertal. Der Mechaniker wird ebenso empathisch dargestellt wie die Bäckereifachverkäuferin. Nun ist die Lage der arbeitenden Klasse im Deutschland des Jahres 2020 Welten entfernt vom Leben in den Baracken Manchesters in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Doch es hat sich nichts am Umstand geändert, dass die Menschen ihre Arbeitskraft verkaufen müssen – und ihr Leben davon bis ins Kleinste geprägt ist. Gleichwohl sieht sich die Pflegerin im Film nicht als Proletarierin, sie wünscht sich Anerkennung für ihren Beruf. Am Ende fabulieren alle Porträtierten von der nahen Zukunft: Digitalisierung und Roboter, wer weiß, was da noch komme. Engels hätte da vermutlich noch mal analytisch einen draufgelegt und sich gefragt, ob und wie in dem historischen Moment, in dem sich die Produktivkräfte revolutionieren und Computer uns Arbeit abnehmen, soziale Revolutionen die Folgen sind.

Was im Film mythisch bleibt – etwas, das alle nur vorausahnen –, hätte Engels im materialistischen Sinn geerdet. Nichts in der Geschichte entsteht natürlicherweise, nichts bricht aus heiterem Himmel über die Menschen herein, auch wenn es den Einzelnen oft so erscheinen mag. Gerade die materialistische Geschichtsauffassung, eine kopernikanische Wende der Philosophie, geht ja davon aus, dass Gesellschaftsformationen im Kern schon ihre darauffolgende in sich tragen. Marx und Engels haben die Automatisierung, wenn auch nicht im Detail, aber im Grundprinzip vorhersehen können. An ihrer Erkenntnis, dass Klassenkämpfe entscheiden, in welche Richtung es geht, hat sich bis heute nichts geändert. Ob die Pflegerin der Doku mehr Anerkennung oder Lohn erhält, ob ihre Arbeit durch einen Roboter ersetzt wird, das ist Ergebnis von Auseinandersetzungen. Wie schriebt Engels im Anti-Dühring: Alle „bisherige Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen“.

Die Dialektik des Homeoffice

Um Auseinandersetzung geht es im Essay-Wettbewerb des Engels-Jahres. Josefine Berkholz holt Engels in die Zeit von hitzigen Diskussion auf Twitter: Wenn sie die Timeline zum Laden nach unten ziehe, denke sie an Engels und einen Tweet von Pamela Anderson über die Gewalt der französischen Eliten. In der Corona-Krise, so schreibt sie weiter, sei die Fürsorgearbeit wieder in den Fokus gerückt, die bei Engels noch Reproduktionsarbeit heißt. Sie verweist auf die marxistischen Feministinnen, die den blinden Fleck bei Engels erhellten und die Arbeit der Frauen ins Zentrum rückten.

In der Tat stehen auch wir aus der Frauenbewegung auf Engels’ Schultern. Die heilige Familie, seine Studie über den Ursprung der Familie, des Eigentums und des Staates ist für viele Ansatzpunkt, Geschlechterverhältnisse besser verstehen zu lernen. Auch hier zeigt sich die bahnbrechende Einsicht, dass Familie und Arbeitsteilung, so natürlich sie auch wirken mögen, in einem historischen Prozess entstanden sind und demnach auch wieder vergehen können. Dass Frauen mehr Hausarbeit verrichten oder sich „natürlicherweise“ um die Kinder kümmern, ist seit Engels widerlegt und wird trotzdem jeden Tag aufs Neue wieder herausgefordert.

Es ist nun gerade dieses Corona-Jahr, das in seiner ganzen Krisenhaftigkeit die Widersprüche kapitalistischer Produktion offenlegt, die Marx und Engels so genau skizzierten. An der globalen und rasanten Ausbreitung eines Virus hätte Engels eine Masse an Material über das Scheitern der kapitalistischen Zentren, dieser Krise zu begegnen, gesammelt. Dass Engels2020 im digitalen Raum stattfindet, ist dabei eine nicht ganz unwesentliche historische Pointe. Er hätte es sich nicht vorstellen können, dass ein Professor aus England zu einer Diskussion in Wuppertal zugeschaltet wird und wir in unseren Wohnzimmern zuhören können. Und doch trägt genau dieselbe Technik, die zum Auspressen der Arbeit und zur Verlängerung der Arbeitszeit genutzt wird – Stichwort Homeoffice –, zur Verbreitung marxistischer Gedanken bei. Eine Dialektik, die Engels beschäftigt hätte, wie sie uns heute ins Grübeln bringt.

Die Frage ist also nicht, ob es sinnvoll ist, Jubiläen wie dieses im Internet zu begehen. Die Frage ist, wie es gemacht wird. Das Programm ist vielfältig und lebendig, es regt zum Widerspruch an. Es fehlt allein die Befreiungsperspektive, die Engels klar vor Augen hatte: die Konkurrenz aufheben und die Assoziation an ihre Stelle setzen.

Info

Unter digital.engels2020.de im Internet bietet die Stadt Wuppertal ein vielfältiges Programm mit Streitgesprächen, Tanz-Flashmobs, Lesungen, digitalen Ausstellungen, Filmen sowie der Engels2020-Hotline

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