Verehrt, verklärt

Mythos Die linke Sehnsucht nach einer Heldin wie Rosa Luxemburg verzerrt den Blick auf den heutigen Kapitalismus und die Möglichkeiten sozialistischer Politik
Ausgabe 02/2019
Rosa Luxemburg bei einer Rede in Stuttgart im Jahr 1907
Rosa Luxemburg bei einer Rede in Stuttgart im Jahr 1907

Foto: United Archives International/Imago

Kaum eine Figur in der sozialistischen Geschichte war zugleich so scharfsinnige Theoretikerin wie Politikerin mit unglaublicher Sprachgewalt. Fast tägliche Zeitungsbeiträge, Reden auf Parteitagen und Gewerkschaftskongressen, ihre theoretischen Texte und auch die Reflexionen in den Briefen zeigen dies überdeutlich. Wie sehr wünschen sich viele Linke, so eine leidenschaftliche Sozialistin könnte uns in einer Welt von Krisen und Umbrüchen, Faschisierungstendenzen und dem Verfall der großen sozialdemokratischen Parteien eine Orientierung bieten.

Es gibt die Sehnsucht nach einer Symbolfigur des Widerstands; einer Frau wie Rosa Luxemburg. Mal wird sie für revolutionäre Gewalt gefeiert, mal für den Pazifismus und ihre Liebe zu Blumen und Tieren, und mal für ihren Satz „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden“. Gerade zu Jubiläen ist die Gefahr besonders groß, dass der sentimentale Blick in die Vergangenheit den in die Zukunft verstellt.

So steckt in der Sehnsucht nach einer rettenden Figur die Krux sozialistischer Politik, die ja die Selbstbefreiung der „Massen“, wie Luxemburg sie nennt, in den Mittelpunkt stellt. „Die gesamte menschliche Kultur ist ein Werk des gesellschaftlichen Zusammenwirkens vieler, ist ein Werk der Masse.“ Dennoch wimmelt die gängige Geschichtserzählung „von Heldensagen, von dem Werk einzelner … Auf den ersten Blick ist alles Gute und Böse, das Glück wie die Not der Völker Werk einzelner Herrscher oder großer Männer. In Wirklichkeit sind es die Völker, die namenlosen Massen selbst, die ihr Schicksal, ihr Glück und ihr Wehe schaffen.“

Sosehr Luxemburg auf die Massen setzte in der Weise, dass sie allein ihr Schicksal in die Hände nehmen konnten, hegte sie auch Zweifel und rang um das richtige Verhältnis von sozialistischer Führung – verantwortungsvoll und nicht als Heldentat einer Einzelnen gedacht – und das Aufbegehren „von unten“. Nicht zuletzt nach der Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten wurde klar, dass die Partei das Fernziel eines demokratischen Sozialismus nicht einfach aus den Augen verloren, sondern den Klassenkampf und das internationale Proletariat bewusst aufgegeben hatte.

Gleichzeitig zogen Millionen Arbeiter bereitwillig in den Krieg, um „fürs Vaterland“ zu sterben. Deutlich wurde: Die Massen müssen nicht nur lernen, sich selbst zu regieren. Sie sind dabei auch vor fatalen Irrtümern und Rückschritten nicht gefeit.

Politische Maulwurfsarbeit

Aufseiten der Organisationen wie Parteien und Gewerkschaften ergibt sich daraus die Notwendigkeit der ständigen Selbstkritik. Luxemburg warf diesen immer wieder vor, zu starr und bürokratisch auf die Umbrüche und neuen Erfordernisse zu reagieren. Ihre zentrale Einsicht in Massenstreik, Partei und Gewerkschaften (1906) lautet, ein Massenstreik könne nicht „beschlossen“ oder „verboten“ werden. Sie benutzt dabei das Bild eines Taschenmessers, das nicht nach Bedarf aus der Tasche gezogen werden könne.

Beide Varianten der deutschen Debatte ihrer Zeit hingen der anarchistischen Vorstellung an, der Streik sei ein „bloß technisches Kampfmittel“. Auf der einen Seite stehen dann diejenigen, die den Massenstreik propagieren wollen und damit den „revolutionären Instinkt und die lebhafte Intelligenz“ der Massen unterschätzen. Auf der anderen Seite steht eine brave Mentalität der Organisationen, die auf den offiziellen Beschluss für Massenstreik und Revolution wartet.

Vor allem, so Luxemburg, gehe es stattdessen darum, die „objektiven Quellen des Massenstreiks“ und die Bewegungsweise zu untersuchen, um das Potenzial daraus zu nutzen. Die Spontaneität der Massen war für sie stets besonders wichtig. Sie allein reiche aber nicht aus, sie könne nur mit der jahrelangen „Maulwurfsarbeit“ der Organisationen wirklich machtvoll werden. Untergründig müsse fortwährend an den Tunneln gearbeitet werden, doch es sei nicht klar, an welchen Stellen die Bewegung sichtbar werde.

Entscheidend ist bei Luxemburg daher der Gedanke der Schulung. In diesem Sinne unterrichtete sie auch an der SPD-Parteischule. Sie war erfüllt von der Überzeugung, die Mitglieder mit dem Rüstzeug ausstatten zu können, das sie benötigten, um selbst Informationen über reale Entwicklungen der kapitalistischen Produktion einordnen zu können.

So lassen sich auch ihre Zeitungsartikel lesen, die mit Statistiken arbeiten und zum Selbstdenken und Interpretieren etwa der Handels- und Zollpolitik auffordern. Die Erfahrungen der lohnarbeitenden Menschen müssten durch wissenschaftliche Methoden so transformiert werden, dass die Verhältnisse nicht mehr als unveränderbar wahrgenommen und Herrschaftsweisen dechiffriert werden können.

Ihre wichtigste Weitergabe an Sozialistinnen und Sozialisten besteht darum in der „Kunst der Politik“ (ausführlich behandelt Frigga Haug diesen Aspekt in ihrem Buch Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik, 2007), also dem eingreifenden Denken und Handeln in politischen Kämpfen.

Nun schrieb Luxemburg in der Zeit der Höhe- und zugleich der Tiefpunkte deutscher Sozialdemokratie. Die reiche sozialistische Kultur, die sie umgab, führte dazu, dass man an den Sieg des Proletariats und an die eigene politische Macht glaubte. Diese Überzeugung bekam mit dem Krieg erste Risse, und sie erfuhr mit der Niederschlagung der Aufstände sowie schließlich mit der Ermordung von Luxemburg und Karl Liebknecht tragische Niederlagen. Seither gedenkt man ihrer auf einem jährlichen Zug zum Friedhof in Berlin-Friedrichsfelde. So wichtig das Erinnern sein mag, so groß ist auch die Gefahr der Folklore, die das Weiterkommen hemmen kann.

Gegenwärtig herrscht in der gesellschaftlichen Linken viel Orientierungslosigkeit. Politische Macht scheint von allen Seiten her zu kommen: von oben, aus uns selbst heraus, selbst von sozialen Medien wie Twitter. Ideologische Bekenntnisse schienen nach 1989 passé, Francis Fukuyama läutete das „Ende der Geschichte“ ein. Im Nebel der Postmoderne verschwanden die Zusammenhänge und auch die Menschen, die für umwälzende Ideen kämpften. Dass eine andere Welt möglich ist, dass Herrschaft und Ausbeutung immer noch stattfinden, scheint erst nach der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008/09 langsam wieder ins Bewusstsein zu rücken.

Dabei sind von Luxemburg mehr als nur Erinnerungen an Vergangenes zu gewinnen. Ihr Werk vermittelt entscheidende Erkenntnisse für das Heute: Die „Rohheit und der Wahnwitz“ der kapitalistischen Produktion, die sie beschreibt, bestehen fort. Der Kapitalismus beraubt sich seiner eigenen Grundlagen – der Natur und der menschlichen Arbeitskraft. Die Notwendigkeit der Transformation in eine andere Produktion ist angesichts der ökologischen Krise sogar drängender als zu Luxemburgs Zeit. Zudem dehnt sich der Kapitalismus in nicht kapitalistische Räume und Bereiche des Lebens aus – Luxemburg benutzte, wie viele nach ihr, den Begriff der Landnahme für diesen Prozess. Auf die Kurzlebigkeit und schließlich den Zusammenbruch des Kapitalismus ist also kein Verlass. Wieder kommt Luxemburgs Hoffen auf die Veränderung durch den Eingriff der arbeitenden Menschen selbst ins Spiel.

Alltagsverstand der vielen

Luxemburg studierte die Entwicklungen der kapitalistischen Produktionsweise und auch das Zusammenwirken mit militärischen Einsätzen und globaler Ausbeutung genau – etwas, das für das Heute so relevant ist wie damals. In der Revolutionierung der Produktivkräfte erkannte sie nicht nur die Ausdehnung des Weltmarktes, sondern auch die Krisenhaftigkeit, sobald diese mit den bestehenden Produktionsverhältnissen in Widerspruch geraten.

Entgegen der These des Postpolitischen oder der Erzählung der Aufhebung des Gegensatzes zwischen rechts und links müssten die politischen Formen der Eindämmung solcher Krisen mithilfe des Werks von Rosa Luxemburg analysiert werden. Der sozialistische Standpunkt und linke Politik sind darin insofern entscheidend, als von der Perspektive allgemeiner und menschlicher Bedürfnisse agiert wird. Links wird dann auch eine Überlebensfrage, oder wie Luxemburg es nannte: Sozialismus oder Barbarei.

Schließlich müsste die Arbeiterklasse umgedeutet werden: Wenn technisch-wissenschaftliche Revolutionen der Produktivkräfte – vor allem als Digitalisierung gesprochen – die Art des Produzierens und Arbeitens derart verändern und die Klasse ausdifferenzieren, wird Luxemburgs Schulungs- und Organisierungsgedanke noch einmal drängender und zugleich schwieriger. Politische Bildung und Erfahrungen in Protesten und Streiks werden wieder wichtig, um überhaupt das Bewusstsein für die eigene Stellung und Handlungsfähigkeit zu entwickeln.

Dass die sozialdemokratischen Parteien noch an der Passivierung mitgearbeitet und die Märkte nicht mehr politisch reguliert, sondern dereguliert haben, ist Teil der fortzuschreibenden Irrtumsgeschichte, die Rosa Luxemburg aufzuzeichnen begann. Dass nun auch die historische Kommission der SPD dem Sparzwang aufgrund der großen Verluste an der Wählerbasis anheimgefallen ist, zeigt erneut den geringen Stellenwert der Bildung und Aufklärung in der eigenen Organisation. Sie muss nun an anderen Stellen stattfinden.

Tut sie es nicht, sind die „Massen“, so wie sie heute auftreten, nicht davor gefeit, noch einmal einem Helden- und Erlöser-Mythos zu verfallen, und zwar in Form autoritärer Macht, insbesondere männlicher Führungsfiguren. Die Krisen und Umbrüche des Kapitalismus ziehen soziale Verwerfungen und Unsicherheiten nach sich, die die politische Rechte zu nutzen weiß. Selbst Fukuyama sehnt sich da wieder den Sozialismus herbei. Aus diesen Krisen und Protesten treten auch tatsächlich in vielen Ländern wieder demokratische Sozialisten und Sozalistinnen auf der politischen Bühne auf. Es ist kein Zufall, wie es auch kein Glück ist, sondern Arbeit – Maulwurfsarbeit. Was diese stark macht, ist ebenso wie bei Rosa Luxemburg die lebendige Sprache, das Anknüpfen am Alltagsverstand der vielen mit der visionären Vorstellung einer anderen Produktions- und Lebensweise.

Ines Schwerdtner ist Redakteurin des Online-Magazins Ada, in Kooperation mit dem US-amerikanischen Jacobin Magazine

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