Ukraine-Krieg: Es gibt heute erst recht keine Gnade der späten Geburt
Gewalt Aus der sicheren Distanz ihrer Bundestagsbüros propagieren Politiker, ohne jegliche militärische Gewalterfahrung, Gewaltlösungen. Dabei vergessen sie, dass Gewalterfahrung Gesellschaften so prägen kann, dass sie lange davon gezeichnet sind
Sowohl Russland als auch die Ukraine foltern Kriegsgefangene, teilt das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte mit. Wer dazu die Nachricht über die grauenhafte Ermordung des durch einen Gefangenenaustausch ausgelieferten russischen Deserteurs Jewgenij Nuschin liest, ist erschüttert. Der weiß zugleich um die peinigende Wahrheit: Das ist der verdammte Krieg! Der ahnt vielleicht auch: Menschen, die nur das Kriegshandwerk gelernt haben und die vom Krieg leben, wie Bertolt Brechts Mutter Courage im Dreißigjährigen Krieg, verschwinden nicht einfach, sobald die Kampfhandlungen vorbei sind. Sie leben weiter vom Krieg.
Dank an Heckler & Koch
Man denke an die von den USA im Kampf gegen die Sowjetunion in den 1980er-Jahren mit Hilfe des pakistanischen Geheimdienstes fi
stanischen Geheimdienstes finanzierten und trainierten arabischen Kämpfer Osama bin Ladens. Zunächst standen sie an der Seite der Mudschaheddin in Afghanistan, später wurden sie zur Keimzelle von al-Qaida oder radikalisierten sich im Irak an der Seite von Ex-Militärs aus der Armee Saddam Husseins als Islamischer Staat (IS). Ähnliches ließe sich womöglich über russische Tschetschenien-Krieger feststellen. Dabei tragen Kombattanten dieses Typs ihre Traumata und Brutalität nicht selten als Misanthropie und Misogynie, psychischen Defekt, als Kriminalität und sexualisierte Gewalt zurück in ihre Gesellschaft und Familien. Die Kriegs- und Gewaltforschung kann dies im Grunde allen Nachkriegsgesellschaften bescheinigen.Nicht nur solcherart Kriegsversehrte sind latent vorhanden. Gleiches gilt für die Waffen, mit denen man diese armen Seelen für das gegenseitige Töten und Verstümmeln ausgerüstet hat. Sie versagen nach dem Ende von Kampfhandlungen nicht einfach – wie von Geisterhand gesteuert – ihren Dienst. Das zeigt beispielsweise der Verbleib deutscher Waffen, die 2014 an die Peschmerga in der nordirakischen Kurden-Region geliefert wurden und irgendwann IS-Verbänden in die Hände fielen. Tötungsinstrumente werden zu Zwecken verwendet, die der ursprüngliche Lieferant nicht mehr kontrollieren kann und lieber nicht mehr kontrollieren will. Sie dienen dazu, menschenverachtenden Ideologien Geltung zu verschaffen, sie begünstigen nicht selten sexuelle Gewalt. Wer Nachrichten über Formen der Sklaverei liest, wie sie in Libyen gestrandeten Migranten aus Afrika widerfährt, der denke zugleich an deutsche Waffenhersteller wie Heckler & Koch.Der große sowjetische Schriftsteller Michail Scholochow, Sohn einer ukrainischen Mutter und eines russischen Vaters, schreibt in seinem Roman Der stille Don, für den er 1965 mitten im Kalten Krieg den Literaturnobelpreis erhielt, an einer Stelle: „Grigori beobachtete mit Interesse, wie die Kameraden seiner Abteilung sich veränderten. In Prochor Sykows Mundwinkeln – er war unlängst vom Lazarett wieder zur Abteilung zurückgekehrt, die Spur eines Hufeisens auf seiner Wange war kaum vernarbt – zuckten noch immer Schmerz und Ratlosigkeit … Jegorka Sharkow warf bei jeder Gelegenheit mit den unflätigsten Schimpfworten um sich, führte noch häufiger als früher unzüchtige Reden, verfluchte die ganze Welt. Jemeljan Groschew, der im selben Dorf wohnte wie Grigori, ein ernster, sachlicher Kosak, war ganz schwarz geworden, als wäre er verbrannt, zu Kohle geworden. Jedes Gesicht zeigte verwandelte Züge. Jeder einzelne trug die eisernen, vom Krieg gesäten Samen auf seine Art in sich, zog sie in seiner Weise groß. Und alle zusammen, alle jungen, aus den Dörfern und Siedlungen herausgerissenen Kosaken erinnerten in dieser Umgebung des Todes und Schreckens an abgemähtes, welkendes, junges Gras, dessen Umrisse und Formen sich nach dem Abmähen gänzlich verändern.“ Scholochow wusste, wovon er sprach. Mit 13 war er freiwillig auf Seiten der Bolschewiki in den Bürgerkrieg gezogen, der auf die Revolution von 1917 folgte.Der Filmemacher Alexander Kluge hat einmal über Homers Illias gesagt, dass sich die Gewalt des Trojanischen Kriegs (13./12. Jahrhundert v. Chr.) in die Kriegsgeschichte des römischen Imperiums eingeschrieben habe. Gewalt quasi wie ein Dominospiel, wie ein physikalisches Spiel der Kräfteübertragung – bis man, so Kluges Hoffnung, den Kreislauf, die ewige Wiederkehr von Gewalt und Gegengewalt, eines Tages durchbricht.Schwer geschichtsvergessenDie deutsche Ukraine-Politik prägt eine Generation, die den Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hat, die nie durch Ruinen und Lumpen sammelnde oder Leierkasten spielende Kriegsversehrte daran erinnert wurde. Eine Generation, die in einer zivilisierten Gesellschaft aufwuchs, aus der Gewalt weitgehend verbannt wurde. Zum Glück wird heute niemand mehr, wie das vor 1945 geschehen konnte, bei Streiks oder Demonstrationen von der Polizei erschossen. Umso mehr kann man es nur paradox nennen, dass ausgerechnet Vertreter dieser Generation so nonchalant Gewaltlösungen aus der sicheren Distanz ihrer Schreibtische und Bundestagsbüros propagieren, weil sie offenbar nie erfahren oder verdrängt haben, was Gewalt ist und wie sie funktioniert.Es gibt heute erst recht keine Gnade der späten Geburt. Auch diese Generation sollte doch zumindest wissen, wie sehr die Logik des Militärischen und der Gewalt gescheitert ist, sei es in Afghanistan, im Irak oder auch in Libyen. Dass heute – dank einstiger Generäle des Bundeswehr wie Erich Vad, Harald Kujat und Helmut W. Ganser oder kürzlich von US-Generalstabschef Mark Milley – die besonnenen Stimmen tendenziell von ehemaligen beziehungsweise aktiven Militärs kommen und die bellizistischen von Politikern, die ohne „Kommiss-Erfahrung“ sind und das Innenleben von Streitkräften nicht kennen, ist mehr als nur das Symptom eines Dilemmas.Es gab seit dem 24. Februar ernst zu nehmende Argumentationen für Waffenlieferungen an die Ukraine wie ebenso ernst zu nehmende, aber medial unterrepräsentierte Warnungen vor einer dadurch ausgelösten Eskalation, bis hin zum Szenario eines Dritten Weltkriegs unter Atommächten. Theoretisch müsste darüber in der Öffentlichkeit ohne jedes Tabu diskutiert werden können und ohne dass in einem Übermaß moralisiert wird. Vielmehr sollten realistische Perspektiven einer auszuhandelnden Waffenruhe die Gemüter bewegen.Eine grassierende Geschichtsvergessenheit in Bezug auf das, was Krieg aus Menschen macht, das Fehlen einer Debatte über die möglichen Konsequenzen und Dilemmata des eigenen Handelns, der teilweise demonstrative Unwille, den Ukrainekrieg vom Ende her zu denken, all das ist – selbst wenn man die herrschende Politik in ihrer Grundausrichtung für richtig hält, was der Autor nicht tut – erschreckend und lässt für die Zukunft nichts Gutes ahnen.Placeholder infobox-1
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