Was haben Krieg, Krise und Rüstung mit den Tarifverhandlungen zu tun?
Zusammenhänge Es wird gestreikt wie lange nicht in Deutschland und Europa. Alle, die jetzt für ihre Interessen eintreten, tun gut daran, die Hintergründe von sinkenden Reallöhnen, Inflation, Krieg, Aufrüstung und Geopolitik nicht außer Acht zu lassen
Im Verteidigungsministerium fürchtet man, Tariferhöhungen im öffentlichen Dienst gingen zulasten des Umfangs der Rüstungs-Investitionen
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Seit einigen Wochen rollt in Europa die Streikwelle. In Spanien, Großbritannien und Frankreich laufen seit Längerem große Arbeitskonflikte. Seit einiger Zeit wird nun auch in Deutschland im öffentlichen Dienst gestreikt. Beschäftigte haben sich organisiert, um gemeinsam ihre Rechte wahrzunehmen. Sie sind in den Warnstreik getreten, um ihre lohnpolitischen Forderungen zu untermauern. In sehr kurzer Zeit hat die Gewerkschaft Verdi, die die Streikenden unterstützt, 45.000 Neueintritte zu verzeichnen.
In vielen Betrieben wird zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren wieder gestreikt. Im Jüdischen Krankenhaus in Berlin etwa ist es das erste Mal seit 15 Jahren. Viele Menschen beteiligen sich zum allerersten Mal in ihrem Erwerbsleben an einem Arbeitskonflikt. In
ste Mal seit 15 Jahren. Viele Menschen beteiligen sich zum allerersten Mal in ihrem Erwerbsleben an einem Arbeitskonflikt. In kürzester Zeit machen sie Erfahrungen, die ein ganzes Leben, den ganzen Menschen prägen: Gemeinsam mutig sein und etwas auf die Beine stellen, sich kennenlernen, sich trauen, vor großen Menschengruppen sprechen, die eigene Stärke spüren, einerseits Solidarität von wildfremden Menschen, andererseits plötzliche Anfeindungen erfahren. Verstehen, warum man angefeindet wird, obwohl es doch eigentlich um für jede und jeden nachvollziehbare Missstände geht. Ein Streik ist eine echte Bildungsachterbahn. Jeder Lohnabhängige sollte mindestens alle zwei Jahre einmal streiken, um sich zu vergegenwärtigen, wie viel Macht in ihm steckt, sagte einmal eine berühmte US-amerikanische Gewerkschafterin.Armut hier, Rekordprofite dortDie Arbeitsniederlegungen finden heute in einer besonders aufgeheizten Situation statt. Die drastisch gestiegenen Kosten für Lebensmittel, Energie, Wohnen usw. fressen die Lohneinkommen der Beschäftigten auf. Die Inflation betrug im Jahresdurchschnitt des vergangenen Jahres 7,9 Prozent. Im Februar 2023 stieg sie auf 8,7 Prozent. Es vollzieht sich eine schleichende Verarmung der Bevölkerung. Dabei trifft die Inflation selbst in einem an sich reichen Land wie Deutschland eine besonders verletzliche arbeitende Bevölkerung: Nach Angaben einer jährlich von der Bank ING europaweit durchgeführten Umfrage verfügt in Deutschland fast ein Drittel der Bevölkerung über keinerlei Ersparnisse, um auf steigende Lebenshaltungskosten, Krankheit oder einen Arbeitsplatzverlust zu reagieren; und nach statistischen Daten der Sparkassen- und Giroverbände verbrauchen fast zwei Drittel der Bevölkerung ihr gesamtes Monatseinkommen für die Begleichung der laufenden Kosten für Wohnen, Energie, Lebensmittel, Mobilität usw. Die neue Armutsgrenze liegt nach Angaben der Sparkassen bei 3.500 Euro netto. Währenddessen fahren die Konzerne im kapitalistischen Westen Rekordprofite ein, und sie dürfen sie auch behalten sowie als Dividenden an ihre Aktionäre ausschütten. Denn anders als in anderen europäischen Ländern hat die „Ampelkoalition“ sich gegen eine Übergewinnsteuer ausgesprochen. Um der relativen Verarmung breiter Bevölkerungsteile etwas entgegenzusetzen, fordert Verdi 10,5 Prozent mehr Lohn bei einer Tarifvertragslaufzeit von zwölf Monaten, mindestens aber 500 Euro mehr Lohn. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) – eigentlich eine Hassfigur der Rechten, weil man sie für besonders links hält – hat hiergegen ein klägliches Angebot vorgelegt: Fünf Prozent Lohnsteigerung bei einer Tarifvertragslaufzeit von 27 Monaten und außerdem ein Fokus auf die höheren Entgeltgruppen. Nur so glaubt man, Abwanderung von Ingenieuren und anderen Fachkräften in die Privatwirtschaft aufhalten zu können. Dabei zeigt dies doch nur, dass die Politik der „Schwarzen Null“ zum Ergebnis hat, dass die Löhne und Gehälter in allen Segmenten des öffentlichen Dienstes nicht ausreichend genug gestiegen sind.Das sagen Friedrich Merz und Christian LindnerBesonders skandalös am Angebot der „Arbeitgeber“ ist, dass manche Betriebe, die in finanzielle Schieflage geraten sind, der Ausstieg aus den Flächentarifverträgen erlaubt sein soll. Ein „Tarifvertrag Zukunftssicherung“ soll Lohnkürzungen bis zu sechs Prozent erlauben. Derweil läuft eine Kampagne der Bild-Zeitung gegen die Streikenden. Von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) bis CDU/CSU-Oppositionsführer Friedrich Merz, der bis zu seiner Rückkehr in die Politik die Europageschäfte des größten Kapitalfonds der Welt, „Blackrock“, leitete und erst kürzlich in den Genuss einer dubiosen Spende von 100.000 Euro aus der Finanzindustrie kam, rufen zu „Maß und Mitte“ (so Merz) auf. Dass die Kampagne der bürgerlichen Kräfte und Medien nicht verfängt, zeigt eine Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur (dpa) durchgeführt hat, der zufolge etwa 55 Prozent der Befragten die Streiks von Ver.di und EVG „eher“ oder „voll und ganz“ befürworten. Bemerkenswert ist allerdings, dass nach einer von der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, dem Kapitalflügel der CDU/CSU, in Auftrag gegebenen Umfrage von INSA nicht nur die Anhänger der Unionsparteien und der FDP, sondern auch die Anhänger von Bündnis 90/Die Grünen eine Einschränkung des Streikrechts befürworten: Bei denjenigen, die angeben, bei der nächsten Bundestagswahl CDU/CSU wählen zu wollen, sprachen sich erwartungsgemäß 75 Prozent für eine starke Einschränkung oder ein Verbot von „Streiks in Bereichen kritischer Infrastruktur“, aber auch bei den Grünen sind es 66 Prozent, mehr sogar als bei der marktradikalen FDP (62 Prozent).Streikende hungrig nach politischer WeiterbildungDass Streiks eine Bildungserfahrung sind, hängt nun aber auch damit zusammen, dass das Bedürfnis nach politischer Weiterbildung stark ausgeprägt ist. In der Streikbewegung selbst entwickelte sich so der Wunsch, die Ursachen der Inflation und ihren Zusammenhang mit den internationalen geopolitischen Spannungen – namentlich vor allem dem Krieg in der Ukraine, aber auch dem US-China-Wirtschaftskrieg – zu begreifen. In Berlin fand schon Anfang März während der Streikversammlung im Münzenbergsaal am Franz-Mehring-Platz ein von weit über 100 Streikaktiven besuchter Workshop zu diesen Zusammenhängen statt. Hier kamen die Beschäftigten vor allem aus den Berliner Krankenhäusern – Vivantes-Kliniken, Charité, Jüdisches Krankenhaus usw. –, aber auch von der Berliner Straßenreinigung, den Berliner Verkehrsbetrieben usw. In Leipzig besuchten vor einer Woche in etwa ebenso viele Streikende eine Veranstaltung zum Thema, die hier vor allem aus den Sozial- und Erziehungsdiensten, den Leipziger Verkehrsbetrieben, der Deutschen Rentenversicherung usw. stammten. Als Workshopleiter konnte ich mir darum persönlich ein Bild von den Zielen der Streikenden machen.Im Folgenden soll es darum gehen, einige der wesentlichen Argumente zusammenzufassen, warum Krieg und Rüstung für die Beschäftigten und ihre Streikaktivitäten von Bedeutung sind. Es gibt mindestens fünf Gründe, warum sich Beschäftigte mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigen sollten. Es geht dabei immer um persönlichen Betroffenheit. Der Krieg – die Zerstörung, die Toten, das Leid der Zivilbevölkerung, der Verwundeten und der Menschen auf der Flucht machen natürlich betroffen. Es gehört darum erstens zur Menschlichkeit dazu, diesen Krieg nicht hinzunehmen, bloß weil er scheinbar weit entfernt ist. Hinzu kommt zweitens die Frage der internationalen Solidarität: es sind die unteren Klassen, die in diesem Krieg sterben. Russland schickt die Armen und ethnischen Minderheiten in den Krieg, damit auch ja niemand in Moskau und Sankt Petersburg dessen Auswirkungen zu spüren bekommt; aber auch in der Ukraine gibt es diese Klassendimension, werden unzählige Menschen von der Straße weg rekrutiert und wurden zudem mehr als 10.000 Menschen, die sich diesem Krieg zu entziehen versuchten, an der Grenze zu Polen aufgegriffen und (zurück) an die Front verschickt. Es geht also auch um internationale Solidarität mit den Kollegen.Weniger Urlaub, mehr RüstungDrittens aber betreffen Aufrüstung und Krieg jeden – sei es die Angst vor Russland oder die Angst vor dem Schlittern in einen atomaren Dritten Weltkrieg durch eine aktive Kriegsbeteiligung Deutschlands. Dieser Bedrohung können wir uns schlecht entziehen und so tun, als ginge uns das alles nichts an. Viertens aber betrifft der Ukrainekrieg vor allem die lohnabhängig Beschäftigten, weil die Auswirkungen des Kriegs, der Sanktionen und Gegensanktionen auch hier zu spüren sind. Das bezieht sich dabei vor allem natürlich auf die Inflation und das Lohnniveau. Es geht aber längst um mehr, nämlich um Arbeitszeit. Die Entscheidung des dänischen Parlaments, zur Finanzierung der Aufrüstung einen Urlaubstag zu streichen, hat auch hier längst Begehrlichkeiten bei Staat und Konzernen geweckt. Ganz entscheidend ist zu dem der fünfte Grund, dass Beschäftigte und Gewerkschaften sich deswegen mit dem Ukrainekrieg beschäftigen müssen, weil sich die relative Verarmung der Volksmassen nicht allein auf tarifpolitischem Weg lösen lassen wird. Um über den Krieg, seine Auswirkungen und Wege, ihn auch im Interesse der Beschäftigten hierzulande zu beenden, zu sprechen, muss man eine Idee haben, warum er stattfindet. Die russische Invasion in die Ukraine wurde mit klassischen Kriegslügen begründet. Die Kriegsziele seien „Entmilitarisierung“, „Entnazifizierung“ und die „Schutzverantwortung“ gegenüber der Bevölkerung im Donbass angesichts eines vermeintlich unmittelbar bevorstehenden Völkermords. Die Putin-Regierung hat sich indes nicht einmal die Mühe gemacht, Belege für ihre Behauptungen vorzulegen, sondern sich einfach bei klassischen Kriegslügen der vergangenen 25 Jahre bedient.Worum es Wladimir Putin gehtLetztlich geht es der russischen Regierung stattdessen wohl um zwei Dinge: Einerseits um die Erzwingung der ukrainischen Bündnisneutralität (denn mit 190.000 Soldaten kann man kein Land mit 44 Millionen Einwohnern und über 600.000 Quadratkilometern militärisch einnehmen), andererseits um die Ablenkung von den inneren gesellschaftlichen Widersprüchen. Hierzu gehört vor allem das Scheitern der wirtschaftlichen Diversifizierungsstrategie der 2000er Jahre – d.h. der Versuch, steigende Rohstoffpreise für die Schaffung einer dynamischen Digitalwirtschaft zu nutzen –, das wiederum in den 2010er Jahren zu immens unpopulären und von Protestbewegungen begleiteten Sozialkürzungen und Wohlstandsverlusten in der russischen Bevölkerung führte. Der großrussische Nationalismus, die Betonung, Russland werde von der NATO eingekreist und solle vernichtet werden, die Anrufung des „Großen Vaterländischen Kriegs“ gegen den Faschismus, den man jetzt in der Ukraine behauptet, dient in diesem Sinne als ideologischer Kitt. Sie ist eine Strategie des Machterhalts von Putin und der ihn tragenden kapitalistischen Oligarchen.Die deutsche Reaktion auf den Ukrainekrieg waren vier Maßnahmen: 1. Die drei Tage nach Kriegsbeginn postulierte „Zeitenwende“ und die Erklärung, 100 Milliarden Euro „Sondervermögen“ in die Bundeswehr zu stecken und dauerhaft das Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts – nicht des Bundeshaushalts wohlgemerkt! – für Rüstung auszugeben; 2. Sanktionen gegen Russland, 3. Waffenlieferungen und die Ausbildung ukrainischer Streitkräfte und 4. die Aufstockung der Bundeswehr-Kontingente an der sogenannten „NATO-Ostflanke“.Die angeblich kaputtgesparte BundeswehrDie Aufrüstung ist natürlich ganz direkt verteilungs- und tarifpolitisch relevant. Aus Beschäftigtenperspektive kritisieren muss man deshalb: Die 100 Milliarden hatten nichts mit der Ukraine zu tun, sie waren nie zur Wahrnehmung des Rechts auf (militärische) Selbstverteidigung gedacht, zumal die Bundesregierung zum Zeitpunkt der Verkündung der „Zeitenwende“ noch vom schnellen Zusammenbruch der ukrainischen Streitkräfte ausging. Es bestand also keine moralische Zwangslage für diese Erklärung. Die Begründung wiederum, die Bundeswehr sei „systematisch kaputtgespart“ worden, ist zumindest fraglich, da die Rüstungsausgaben auch nach 1991 nie gering waren und seit 2014 um 55,2 Prozent angehoben wurden.Dabei wurde argumentiert, es gehe jetzt um Abschreckung, Russland müsse abgeschreckt werden. De facto aber bestand schon vor dem 24. Februar 2022 ausreichend Abschreckung und auch dies hielt Russland nicht von dem Krieg in der Ukraine ab, weil dieser eben nur deshalb stattfindet, weil es für die Putin-Regierung ein Möglichkeitsfenster für diesen Krieg gab. Tatsächlich geben die NATO-Staaten in etwa das Fünfzehnfache für Rüstung aus. Hiergegen wird dann häufig argumentiert: Aber was wäre denn, wenn 2024 in den USA Donald Trump wiedergewählt wird und die Bündnisverpflichtung nach Artikel 5 NATO-Vertrag in Zweifel zieht? Dieses Argument für die Aufrüstung zieht jedoch auch nicht: Denn auch vor den Aufrüstungsmaßnahmen waren die europäischen NATO-Staaten auch ohne die USA Russland – einem Land mit der Wirtschaftskraft Italiens – haushoch überlegen. 1,9 Millionen europäische stehen 0,9 Millionen über das größte Flächenland der Erde verteilte russische Soldaten mit einer, wie heute zu sehen ist, glücklicherweise miserablen Kampfmoral gegenüber; und auch in Sachen Waffensysteme für konventionelle Kriegführung gibt es eine doppelte Überlegenheit verglichen mit Russland.Und der sozialökologische Umbau?Im Ergebnis ist also das Abschreckungsargument falsch und verschärft die Aufrüstung lediglich die militärische Asymmetrie in Europa und sorgt für weniger, nicht mehr Sicherheit. Es ist vor diesem Hintergrund auch ein besonderer Skandal, dass die „Zeitenwende“ beziehungsweise „180-Grad-Wende“ in der deutschen Außenpolitik, wie Außenministerin Annalena Baerbock von den Grünen es nannte, ganz ohne breite gesellschaftliche Debatte stattgefunden hat, ob man eine solche Wende überhaupt will und ob man dafür dann auch bereit ist, soziale Einschnitte hinzunehmen, andere Prioritäten – Kampf gegen Armut, gegen die laufende Klimakatastrophe, für den sozialökologischen Umbau der Wirtschaft usw. – aufzugeben oder deren Mittel einzuschränken usw.Tatsächlich konnte unter diesen Bedingungen weder in den Interessenvertretungen der Beschäftigten, in den Gewerkschaften, den Sozialverbänden, an den Hochschulen und in den politischen Parteien eine Willensbildung stattfinden. Ja, nicht einmal in den Parlamentsfraktionen, Regierungs- und Oppositionsparteien gab es eine Debatte, denn diese wurden von der „Zeitenwende“-Erklärung ebenfalls völlig überrascht. Dies ist besonders skandalös, weil eigentlich klar sein musste, dass die Pläne für diese Aufrüstung schon existierten, bevor es überhaupt die ersten Warnungen vor einer drohenden russischen Invasion in der Ukraine seitens der CIA gab. Denn diese kamen im Dezember 2022, die Aufrüstung aber steht schon im Koalitionsvertrag, der Wochen vorher, im November, beschlossen worden war.Ebenso waren schon die 2014 durchgesetzten und mit der russischen Krim-Annexion und dem „IS“ begründeten starken Aufrüstungsmaßnahmen längst beschlossene Sache, bevor es zum Anschluss der Krim an Russland kam oder der IS die Jesiden in Syrien bedrohte, denn auch sie standen längst im Koalitionsvertrag der Bundesregierung von 2013. Kurz, die Aufrüstung war nie reaktiv. Der Ukrainekrieg war letztlich ein Vorwand, um im Rahmen des emotionalen Ausnahmezustands der Gesellschaft lang zurückreichende Pläne umzusetzen und längst beschlossene Maßnahmen zu verkünden, die unter Normalbedingungen sehr viel mehr Widerspruch aus der Gesellschaft geerntet hätten, auch und gerade aus der Gewerkschaftsbewegung, deren Geschichte nun einmal eng mit der Kritik des Militarismus und der Friedensbewegung verbunden ist.Panzer statt KindergrundsicherungEs war aus diesen Gründen, dass vor ziemlich genau einem Jahr mehr als 150 führende Gewerkschafter:innen – Vertrauensleute, Betriebs- und Personalräte, Sekretäre, Vorstandsmitglieder – den vom Autor mitinitiierten „Appell“ („Demokratie und Sozialstaat bewahren: Keine Hochrüstung ins Grundgesetz!“) nebst etwa genau so vielen Professor:innen und Hochschullehrer:innen sowie zahlreichen Schriftsteller:innen und Künstler:innen erstunterzeichneten, der argumentierte, dass die Aufrüstung ein friedens- und sicherheitspolitischer, ein demokratiepolitischer und eben auch ein sozial- und klimapolitischer Skandal ist. Die Rechnung wurde auch alsbald präsentiert. CDU/CSU ließen sich ihre Zustimmung zur Grundgesetzänderung und Umgehung der „Schuldenbremse“, die für alle Sozialmaßnahmen gilt, teuer bezahlen. Sie drückten nicht nur einen schnelleren Tilgungsplan für diese Sonderschulden durch, sondern sorgten auch dafür, dass allein 13 Milliarden Euro für Munition zusätzlich in den laufenden Haushalt verschoben wurden.Im Ergebnis dieser Aufrüstungsmaßnahmen waren damit dann auch größere Sozialmaßnahmen wie die Kindergrundsicherung – als der zentrale Hebel der Regierung gegen die grassierende Kinderarmut – vom Tisch. Und nicht nur das, auch hier sollen die Beschäftigten nun, wie in Dänemark, länger arbeiten, um die Rüstung zu finanzieren, so hat es bereits Nikolaus Blome, Ressortleiter „Politik und Gesellschaft“ in der Zentralredaktion der Mediengruppe RTL Deutschland sowie Online-Kolumnist beim Nachrichtenmagazin Spiegel gefordert. Es ist ja auch leicht, mal einen Tag länger ins Büro zu gehen und auf den Bildschirm zu schauen oder im Homeoffice im Bett sitzend oder aus dem ICE ein paar E-Mails zu beantworten; aber es ist eben sehr viel schwieriger, noch einen zusätzlichen Tag auf dem Bau, bei der Paketauslieferung, an der Supermarktkasse oder in der Kita seine Knochen hinzuhalten. Die Aufrüstung kennt dabei offenbar keine Grenzen. Der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), dem laut Spiegel „die Herzen zufliegen“, hat unlängst verkündet, dass das Zwei-Prozent-Ziel der NATO künftig die „Untergrenze“ – also das Minimale – der Aufrüstung bilden soll. Schon bei seinem Amtsantritt hatte er angekündigt, dass die 100 Milliarden Euro nicht reichen würden. Die neue Bundeswehrbeauftragte der Bundesregierung, Eva Högl (auch SPD), ging kürzlich noch weiter und brachte gleich mal 300 Milliarden Euro ins Spiel. Beim Spiegel wurde sie zitiert mit einem Satz, den man sich auf der Zunge zergehen lassen muss: „Wir erheben keine eigenen Zahlen, aber von Expertinnen und Experten sowie aus der Truppe höre ich: Man bräuchte 300 Milliarden Euro, um in der Bundeswehr signifikant etwas zu verändern. Das scheint mir nicht aus der Luft gegriffen zu sein.“ Man stelle sich das mal für den öffentlichen Dienst und eine Streikleitung vor, die sagt, man wisse zwar selbst nicht genau, wie viel Geld nötig sei, um jetzt einen Kita- oder Klinik-Betrieb aufrechtzuerhalten, bei dem die Beschäftigten nicht am laufenden Band ausbrennen, die Sicherheit ihrer Betreuungspersonen oder ihre eigenen Paarbeziehungen aufs Spiel setzen, aber man habe mit der Straßenbahnfahrerin Heike aus Leipzig und dem Erzieher Jens aus Berlin gesprochen und die hätten gesagt, die Milliardensumme X müsse es schon sein und darum sei das jetzt sicherlich auch nicht aus der Luft gegriffen. Burgfrieden im Tarifkonflikt?Erstunterzeichner:innen des „Appells“ aus dem Gewerkschaftsumfeld wie Marvin Hopp, Zerspanungsmechaniker und lange für die IG Metall bei Volkswagen in Braunschweig aktiv, warnten schon damals, dass die Beschäftigten die Aufrüstungsmaßnahmen sehr schnell in ihrem eigenen Geldbeutel zu spüren bekommen würden. Sie vermuteten, dass es in der nächsten Tarifrunde zu einer „Burgfrieden“-Rhetorik kommen dürfte, bei der die Arbeitgeberseite argumentieren würde, dass man sich höhere Löhne der Beschäftigten im öffentlichen Dienst nicht leisten könne, und sich empören, wie die Beschäftigten ausgerechnet in dieser Situation, in der doch „alle zusammenstehen“ müssten, Staatshaushalt und Kapitalunternehmen „gefährden“ könnten. Tatsächlich sieht die Bundesregierung offenbar einen direkten Zusammenhang zwischen den Aufrüstungsplänen und einer Notwendigkeit von Lohnzurückhaltung seitens der Beschäftigten. Zu Beginn der Tarifauseinandersetzungen berichtete der Spiegel darüber, dass „Pistorius‘ Planer“ fürchteten, „dass Tariferhöhungen im Öffentlichen Dienst den Spielraum für Investitionen in die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr schmälern“ würden. Noch weiter ging unweigerlich der bereits zitierte Spiegel-Kolumnist Nikolaus Blome, der den Arbeiterinnen und Arbeitern, die in Frankreich ihre Rechte verteidigen, vorwarf, sich „zur fünften Kolonne des Kreml [zu] machen“ – nach dem Motto: Arbeitskonflikte sind die neue Wehrkraftzersetzung.Es ist aber nicht nur die Aufrüstung, sondern der Ukrainekrieg selbst, der für die Gewerkschaften und ihre tarifpolitischen Forderungen relevant ist. Der relativen Verarmung breiter Bevölkerungsschichten wird man nicht allein mit den klassischen Mitteln der Gewerkschafts- und Tarifpolitik Einhalt gebieten können. Dies zeigen die aktuellen Tarifauseinandersetzungen. Die klassischen tarifpolitischen Ziele der Gewerkschaften bilden eine Trias: Inflationsausgleich, Beteiligung am Produktivitätszuwachs und eine Umverteilungskomponente. Der Tarifabschluss der IG Metall in der Tarifrunde Metall und Elektro hat im vergangenen Jahr ein Lohnplus von 5,2 Prozent ab Juni 2023 und von 3,3 Prozent ab Mai 2024 sowie eine Einmalzahlung von 3.000 Euro erzielt. Das ist kein schlechtes Ergebnis, zumal die IG Metall auch durch die Corona-Pandemie geschwächt worden ist und damals noch Betriebsräte im Homeoffice waren etc.Gewerkschafter für WaffenstillstandDer Tarifabschluss zeigt aber, dass selbst die mächtigsten Beschäftigtengruppen von der tarifpolitischen Trias bestenfalls den Inflationsausgleich erzielen konnten, aber kaum eine Beteiligung an dem Reichtum, der durch die gewachsene Produktivität der Beschäftigten zustande gekommen ist, geschweige denn eine Umverteilung in dieser unser krass ungleichen Gesellschaft. Daraus folgt aber, dass Gewerkschaftsarbeit neben dem tarifpolitischen Kerngeschäft heute auch ein gesellschaftlich-politisches Mandat einfordern und ausüben sollte, so wie dies nach 1945 in der Bundesrepublik immer auch Teil des gewerkschaftlichen Selbstverständnisses gewesen ist. Den festgefahrenen Krieg in der Ukraine und seinen unfassbaren Blutzoll durch die Bemühung um einen Waffenstillstand zu beenden, ist für die ukrainische Zivilbevölkerung, für die Soldaten, die heute als Kanonenfutter in einem Abnutzungskrieg verheizt werden, dringend notwendig, es muss dann aber auch eine der obersten Prioritäten für die Lohnabhängigen aller Länder sein, die für Krieg, Sanktionen und Gegensanktionen und auch für die sich anbahnende neue Blockkonfrontation die Zeche zahlen.