Kalte Herzen in Ekstase

Ein Leben im Konjuntiv Über die Theaterstücke der Autorin und Regisseurin Ingrid Lausund

Ein Tanz- oder Speisesaal, in dem sich der Mief der sechziger Jahre erhalten hat. Schmutzig-graue Wandbespannungen, abgewetzte Lederstühle, holzverkleidete Pfeiler in gruseligem Braun. Vielleicht ein Kurhotel. Die Gäste, Menschen um die dreißig, vertreiben sich die Zeit so gut es eben geht. Es wird Sirtaki getanzt oder isländisch gelernt, Federball oder Theater gespielt.

Das "Als-Ob" ist hier zum Lebensprinzip geworden. Ein Mann redet mit seinem eingebildeten Hund und erzählt, dass er immer wieder "probeweise" Beziehungen mit Frauen eingegangen sei, nach dem Motto: kein Risiko, keine inneren Verletzungen. Die unterschwellige Aggression, die ein solches Verhalten produziert, entweicht zwar in kurzen Wutanfällen, ansonsten bleibt alles unverbindlich. Man redet rhetorisch versiert, aber absichtslos, unangestrengt, aber ichbezogen. Ingrid Lausunds neustes Stück Das Leben - ein Hobby, im Kölner Schauspiel uraufgeführt, zeigt gelangweilte, orientierungslose Menschen, die mit ihrem wie anprobierten Leben nicht mehr zurechtkommen.

Spezialisiert hat sich die Autorin in ihren Theaterarbeiten auf das Aberwitzige der zwischenmenschlichen Strukturen, auf die alltäglichen Verstörungen, die milden oder heftigeren Hysterien ihrer Mitmenschen, das Getue, die Heuchelei, das Konkurrenzgerangel, auf die Attitüden also, die Formen des Sozialen sind. Sie schaut ihren erbarmungswürdigen Fightern aufs Maul und trifft einen grotesk, geradezu verzweifelt klingenden Ton. Ihre Stücke spielen mit den Versatzstücken einer ökonomisierten Mediengesellschaft, die die Menschen überall erfasst und bis in die tiefsten Schichten des Unbewussten beeinflusst. Dabei überdreht sie auch allzu bekannte Verhaltesmuster hierarchischer Strukturen. In Bandscheibenvorfall, einem Stück, in dem der Kampf um die letzten Arbeitsplätze tobt, lässt sie die Angestellten zu Tieren werden, die als Hunde kläffen, knurren, beißen, denn die täglichen Schreibtischdramen sind inhuman geworden. Der aufrechte Gang ist unter diesen Bedingungen reinste Akrobatik.

In Hysterikon wird der Supermarkt zum Spiegel des Lebens. Vor dessen Regalen werden nicht die Gewinnspannen der Waren errechnet, sondern die emotionalen Verluste, die der Kunde erleidet, wenn er sich gegen den Ingwer- und für den Erdbeerjoghurt entscheidet: "Was die Dinge kosten, weiß man. Was sie wert sind, weiß man oft erst, wenn sie nicht mehr da sind." Ingrid Lausund füllt eine der fundamentalen Lücken unserer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Der Einkauf in ihrem Supermarkt, dient nicht der Befriedigung materieller, sondern seelischer Bedürfnisse. Ihre Grundthese dabei ist: Je voller die Regale im 21. Jahrhundert, desto leerer fühlt sich zumeist der Kunde. Der Werteverfall bei den Käufern ist dementsprechend: Selbstzweifel, Depression, Gefühlsleere, Beziehungswahn- und ängste werden unfreiwillig geoutet und vom allwissenden Kassierer einer schonungslosen Analyse unterzogen. Er fungiert als der liebe Gott in einem System, dessen erstes Gebot lautet: Du musst für alles bezahlen, erfüllte Träume werden schonungslos von der dreamcard abgezogen. Da entpuppt sich die Liebesdienerin in der Tiefkühltruhe als Seelchen. Jeder, dem sie ihres anbietet, nachdem er ihren Körper genossen hat, lehnt verlegen ab. Der Verkäufer kassiert und hängt mit Blick auf die Verfallszeit das Schild "Reduziert" hin.

Wie beim Meister der Langsamkeit Christoph Marthaler sind Lausunds Texte und Inszenierungen durch Wiederholungen und Auslassungen strukturiert. Doch während sich Marthalers Protagonisten nach jedem Satz von der Anstrengung des Sprechens erholen müssen, plappern, monologisieren oder schreien Lausunds Figuren wie von einem mechanischen Zwang getrieben. Der Rede- und Mitteilungsdrang wird zum leeren Reflex. Da kann die Welt der Subjekte und Objekte schon mal durcheinandergeraten. In Zuhause flüchtet ein Mann vor der Auseinandersetzung mit seiner Frau in einen Radiobeistellstisch und antwortet auf die Vorwürfe mit einer Collage aus Wetterbericht, Melodiefetzen und Nachrichten, während sich die Agaven in Das Leben, ein Hobby selbständig machen, beängstigend mit den Blättern wedeln und sie dann knarrend abwerfen. Lausunds Figuren repräsentieren nichts Individuelles mehr, sie sind nur Module eines Konformismus, Klischees aus Fleisch und Blut und späte Nachkommen von Becketts Existenzialclowns oder Ionescos Kleinbürgern.

"Ein Klischee, das ist in der Theaterethik das Verbotenste, was man machen kann", sagt Ingrid Lausund, "aber diese Oberfläche gibt es einfach, auch wenn es natürlich nicht die ganze Wahrheit ist. Und ich finde es verlogen auf der Bühne nicht damit umzugehen." Die Alltäglichkeit sichert sie sich mit ihrer ganz spezielle Theaterform. Zu Beginn der Proben gibt es nur ein Thema, eine Grundidee und dazu viele Fragen. Dann improvisieren die Schauspieler, wobei auch ihr autobiografisches Material einfließt. "Ich möchte ein lebendiges Theater" erklärt Ingrid Lausund, "wenn die eigene Biografie in den Text mit einfließt, wissen die Schauspieler einfach, wovon sie sprechen und bekommen auf der Bühne eine ganz andere Autorität."

Für sich entdeckt hat die 1965 geborene Ingolstädterin diese Theaterform nach ihrer Ausbildung als Schauspielerin und Regisseurin. Sie gründete vor vierzehn Jahren, gemeinsam mit ihrem Mann, eine freie Theatergruppe in Ravensburg und schrieb in sieben Jahren an die dreißig Stücke. Durch eine Produktion, die sie als Gastregisseurin in Kasachstan über Tristesse und Sehnsüchte in der Hauptstadt Almaty gemacht hatte, wurde Tom Stromberg auf sie aufmerksam. Seit sie den Sprung als Hausautorin und -regisseurin des Hamburger Schauspielhauses geschafft hat, erobern ihre Stücke auch die großen Theater.

In Konfetti - ein Zauberabend für politisch Verwirrte geht es um grotesk übertriebene Ängste vor Anschlägen und die Wirkung medialer Kriegsberichte. Die Darsteller treten in einer Art Nummernrevue als Zauberkünstler auf. Wie immer bei solchen Tricks, ist für deren Wirkung das Mittel der Ablenkung wichtig. Und Ablenkung, so das Thema des Stücks, ist auch die bevorzugte Methode der Medien wie der Politik. In Zuhause hat ein Mann in einem Möbelhaus sein Wunschsofa entdeckt - "gediegen, individuell, mit besonderem Flair" - und hasst sich dafür. Weil er genau dieses Zielgruppen-Sofa kaufen, seinen Rotwein darauf trinken und sich wohlfühlen wird. So wohlfühlen, dass er vor purer Zielgruppen-Identifikation in die Polsterung seines neuen, schwarzen Ledersofas kriecht. Individualität als Werbestrategie und Massenware als Identitätsstifter - darin liegt der Zwiespalt, dem die Menschen in Zuhause ausgesetzt sind.

Ingrid Lausunds Figuren sind autonome Einzelne. Ihre Texte erzählen vom Konsum- und Entscheidungsalltag des modernen Menschen, in denen das Absurde wie selbstverständlich dazu gehört. Doch hinter der witzigen Fassade verbirgt sich immer ein beschädigtes Leben. Und das Lachen, das diese Geschichten hervorruft ist sehr laut, fast wie ein Schrei.

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