Kampfplatz der Erinnerung

Ton der Versöhnung Christa Wolfs neue Erzählung "Leibhaftig"

Das Wort "verletzt", mit dem Christa Wolfs neue Erzählung unvermittelt einsetzt, weist zurück auf ihren ersten Roman Der geteilte Himmel (1963), wo "in jenen letzten Augusttagen des Jahres 1961" die Protagonistin Rita Seidel in einem Krankenhauszimmer aus ihrer Ohnmacht erwacht, um den Zusammenhang von politischer Teilung und persönlicher Trennung schmerzhaft zu realisieren. Zugleich erinnert es in seiner harten Setzung an den grandiosen Auftakt der Kassandra-Erzählung (1983), die mit dem apodiktischen Satz "Hier war es" beginnt. Es weckt aber auch die Erinnerung an jene zwei "Verletzten" - an Heinrich von Kleist und Karoline von Günderrode -, die Wolf als Leidensgenossen im Jahre 1804 in ihrer Erzählung Kein Ort. Nirgends (1979) aufeinandertreffen läßt. Der ›Schmerzton‹, der sich seit jener Erzählung durch die Wolfsche Prosa zieht, steigert sich in dem neuen Text zu einem "höllischen Lärm", der die Protagonistin zu zerreißen droht.
Eingeliefert in die Klinik mit einem Blinddarm-Durchbruch gerät das Ich der Erzählung in einen lebensgefährlichen Zustand, in dem es einem entsetzlichen "Getöse", unerträglichen Schmerzen, wirren Fieberphantasien, Halluzinationen und alptraumhaften Erinnerungen schutzlos ausgeliefert ist. Die verschiedenen Zeitebenen überblenden sich, greifen wie in Medea. Stimmen (1996) ineinander, so dass es zunächst schwierig ist, sich in dem Labyrinth des Textes zurechtzufinden. Erschwert wird die Orientierung dadurch, dass die namenlos bleibende Protagonistin, deren nach und nach preis gegebene Lebensdaten mit denen der Autorin weitgehend identisch sind, sich in ein leidendes und in ein beobachtendes Ich spaltet und erfahren muss, "welch ein schwankender unscharfer Begriff" das "Selbst" ist.
Aus dieser Spaltung des "Selbst" entwickelt sich die Dynamik des Textes: Mal nähern sich die beiden Ichs einander an, dann driften sie wieder auseinander, um sich am Ende der Erzählung, als die Protagonistin dem Tod glücklich entronnen ist, wieder zu vereinigen. Diese Spaltung verweist nicht nur auf den Riß, den Büchner in seiner Lenz-Erzählung zur Metapher der zerrissenen Existenz des Menschen in der Moderne gemacht und der im geteilten Deutschland seine politische Symbolisierung gefunden hat, sondern spielt darüber hinaus auf jene Trennung von Geist und Körper an, die in der Stunde des Todes zur existentiellen Erfahrung vieler Sterbenden wird.
Die Protagonistin Wolfs befindet sich auf eben dieser Grenze zwischen Leben und Tod. Als Grenzgängerin zwischen den Welten entwickelt sie eine erhöhte Sensibilität für die Verletzlichkeit und Sterblichkeit des eigenen Körpers und für den "fatalen Doppelsinn" der Sprache. Wörter wie "verlassen", "aufgegeben", "schneiden", "beschneiden", "einen Schritt machen" gewinnen eine Doppelbedeutung, die den einfachen Sinn verschiebt und vervielfältigt. Zugleich wird das Ich von einer tiefen Verunsicherung darüber erfasst, was das "Menschenglück" und der "geheime Sinn des Leidens" eigentlich sei. Es drängen sich ihm Fragen auf, die von Religion, Philosophie und Kunst in sehr unterschiedlicher Weise beantwortet worden sind. Die Hinwendung zu dem kleinen blauen Buch mit Goethe-Gedichten markiert deutlich das Bedürfnis des von Schmerzen und Ängsten gemarterten Ichs nach einer "Sinnhaftigkeit" des eigenen Leidens. In den am eigenen Leibe erfahrenen Schmerzen wiederholen sich für das Ich in seinen Fieberphantasien die Leiderfahrungen vergangener Epochen und Generationen.
Der Text bleibt bei dieser problematischen Ineinanderspiegelung der Geschichte des Schmerzes, der Folter und des Martyriums mit dem Leiden des Ichs jedoch nicht stehen. Über die Erinnerung des Ichs an seine eigene verdrängte und verschüttete Geschichte entsteht ein Netz von Schuld und Verantwortlichkeit, in das auch das Ich verstrickt ist. Dieses Netz ist erzählerisch so fein gewirkt, dass die Fäden sich erst beim wiederholten Lesen verknüpfen. Zunächst einmal werden wir in die Endphase der DDR versetzt, deren letales Kollabieren in den verschiedenen Krankheitszuständen des Ichs gespiegelt wird. Das Krankenhaus, in das die Protagonistin eingeliefert wird, fungiert als Spiegel, in dem die "Mangelgesellschaft" der untergehenden DDR ironisch gebrochen wird: Es fehlt nicht nur an Bettwäsche, Nachthemden, Spritzen und den lebensrettenden Medikamenten, die auf illegalen Wegen aus dem Westen beschafft werden müssen, sondern die zur Operation notwendigen "Plastehandschuhe" sind von so schlechter Qualität, dass sie immer wieder zerreißen. Auf der anderen Seite ist das Krankenhaus aber auch ein Ort der Menschlichkeit, der sich gegen die Kälte und Anonymität der Institution behauptet. Die Ärztin Kora Bachmann (nomen est omen) versorgt das Ich nicht nur liebevoll als Anästhesistin, sondern begleitet es auch auf seinen Traumflügen durch das nächtliche Ostberlin, das als gespenstische Unterwelt ausphantasiert wird. Der geöffnete, mit Eiter gefüllte Bauchraum der Protagonistin findet seine Entsprechung in den aufgerissenen Straßen der Stadt, die mit ihrem freigelegten "Gewirr von Kabeln und Röhren" bloßgelegten Eingeweiden ähneln.
Diese morbide Szenerie, in der sich die Erinnerungen an die untergegangene DDR mit der Vorwegnahme des Baubooms nach 1989 verschränken, wird konterkariert durch die Erinnerungen, die die Protagonistin an bestimmte Orte und Plätze in der Stadt hat: Am Grenzübergang in der Friedrichstraße war das Ich einst jenem Mann begegnet, mit dem es seit der Studentenzeit in Jena und dem legendären Goethe-Seminar durch eine widersprüchliche Geschichte von anfänglicher Freundschaft und zunehmender Entfremdung verbunden ist: Urban, eine schillernde, diabolische Figur, ist ein Gegenentwurf und zugleich Doppelgänger des Ichs. In der Erzählung wird er zum ›Leibhaftigen‹ und zugleich zu einer tragischen Figur, die am Mangel an Talent und dem ihr noch verbliebenen Rest von Anstand zugrunde geht. Die unrühmliche politische Rolle, die der "Freund und Genosse" Urban einst bei dem Verbot eines Filmes der Protagonistin gespielt hat - die Assoziation an die massiven Auseinandersetzungen um die Verfilmung von Christa Wolfs Der geteilte Himmel drängen sich geradezu auf -, wird in gewisser Weise durch den Selbstmord relativiert, mit dem sich Urban als später Aussteiger aus einem System zu erkennen gibt, zu dessen Profiteuren er lange Zeit gehört hat.
Die Erinnerungen des Ichs reichen aber über die wechselseitigen Verstrickungen der ursprünglichen Studienfreunde in die Geschichte der DDR und der geteilten Stadt Berlin zurück. Als letzte und tiefste Erinnerungsschicht taucht in den Fieberträumen des Ichs die Kindheit auf, in der die Familie zu einem rätselhaften Tableau gruppiert ist: "Meine Mutter auf dem Schoß ihrer Mutter in einen Eisblock eingefroren, mein Vater über sie gebückt, vergeblich versuchend, sie loszueisen. Ich, ein Kind, auf dem Rücken meines Vaters." Dieses Bild bleibt unkommentiert und unaufgelöst in der Erzählung. Es wird überlagert von einer anderen Erinnerung, die ebenfalls auf Tabuisiertes verweist. Auf seinen nächtlichen Streifzügen durch die Hadeslandschaft Berlins gerät das Ich in ein Haus, in dem es auf ein "aufs äußerst bedrohtes Liebespaar" stößt, die Tante Lisbeth und ihren Freund, den jüdischen Arzt Dr. Leitner, den sie vor den Nazi-Häschern verbirgt und mit dem sie ein uneheliches Kind hat.
Gegen die "Archäologie der Zerstörungen", zu der das Ich durch seine lebensgefährliche Erkrankung veranlasst wird und die es "leibhaftig" am eigenen Körper erfährt, setzt die Erzählung - ungeachtet der düsteren Hadeswelten, die sie entwirft - auf die heilenden Kräfte einer "wahrhaftigen" Erinnerung. In dieser Erinnerung wird das Ich unterstützt durch ein "Du", das als Lebenspartner in unverbrüchlicher Treue an seiner Seite steht. Nicht zufällig ist es das Du, das dem Ich die geliebten Goethe-Gedichte bringt und es am Ende der Erzählung ans Fenster geleitet, von dem aus sich ein weiter Blick über Stadt und Gärten auf einen See eröffnet, der in der Sonne blinkt. Die Erzählung endet mit einem Zwiegespräch des Paares, in der der gemeinsame Rekurs auf die Schönheit der Natur und die Vollkommenheit der Dichtung ein Band des Vertrauens und des Einverständnisses zwischen Ich und Du stiftet. Es ist sicherlich übertrieben, dieses Ende als Hohelied auf die eheliche Liebe zu deuten, es hellt jedoch den düsteren Gesamteindruck des Textes auf und schafft einen bescheidenen Platz für zaghafte Hoffnungen: Das Segelschiff, mit dem das Ich im Traum über den See fährt, trägt den Namen "Esperanza".
Das Ende der Erzählung bringt jenen ›Schmerzton‹ der Verletzung, mit dem die Erzählung so abrupt eingesetzt hat, zum Verstummen und eröffnet einen Goetheschen Raum der "Stille", in dem das "höllische Getöse" der Politik zur Ruhe kommt und jener Gesang der "Fülle" ertönen kann, der als frühkindliche Erfahrung mit dem Singen der Mutter verbunden ist. Der Gesang der Mutter verweist jedoch zurück auf den Körper als mütterlichen Resonanzboden und erinnert zugleich an den Körper der Tochter als Kampfschauplatz einer Identitätssuche, in der das Ich seinen Platz in der Geschichte nur unter Schmerzen behaupten kann. "Das Talent selbst - war es nicht Schmerz?" - diese Frage aus Thomas Manns Novelle Schwere Stunde steht am Anfang der Entfremdung zwischen dem Ich und seinem alter ego Urban. Der Schmerz aber ist untrennbar verbunden mit dem Körper als ›absoluter Örtlichkeit‹, der wir nur um den Preis des Todes entkommen können. Mit der Betonung des Körpers und seiner "Leibhaftigkeit" greift Christa Wolf aktuelle Körperdebatten auf und erinnert in Zeiten von Gen- und Repro-Technologie an jenen ›peinlichen Erdenrest‹, den wir alle so gern abzustreifen suchen. Allein diese Erinnerung macht die Lektüre der Erzählung - jenseits ihrer politischen Bedeutung im Ost-West-Diskurs - zu einem faszinierenden Leseabenteuer, dem viele Leser und Leserinnen zu wünschen sind.
Mit ihrer neuen Erzählung meldet sich Wolf bei ihrem Publikum in "Doppeldeutschland" mit einem Text zurück, der in seiner Dichte, Vielschichtigkeit und in seinem Anspielungsreichtum an ihre bisherige Textpraxis kongenial anknüpft. Leibhaftig stellt sich als eine Summe des bisherigen Schreibens dar, in dem sich zunehmend Politisches, Mythisches und Persönliches in kunstvoller Weise vermischt haben. Mit ihren Verweisen auf die eigenen früheren Texte und die Texte anderer Autoren zieht Wolf Bilanz nach mehr als einem halben Jahrhundert Lesen und Schreiben. Zugleich erweitert sie den Kreis der als Vorgänger und Vorbilder geschätzten "Außenseiter" um die großen "Repräsentanten" des literarischen Lebens Goethe und Thomas Mann, die in der Erzählung deutliche Spuren hinterlassen haben. Es scheint, als habe die Autorin zu jenem Ton der Versöhnung gefunden, der Alterswerke so häufig auszeichnet.

Christa Wolf: Leibhaftig. Erzählung. Luchterhand-Literaturverlag, München 2002, 192 S., 18 EUR

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