We want Moor

Gelände Ludwig Fischer erklärt, warum Nature Writing es hierzulande so schwer hat
Ausgabe 09/2019

Feld-Wald-und-Wiesen-Bücher: Schon Alexander von Humboldt schrieb über die Natur mit einem Blick, der sie weder vermenschlichte noch als unberührten Sehnsuchtsort verkitschte. Das Nature Writing hat eine lange Tradition, die es in Zeiten, in denen uns unser Handeln aus der Natur immer deutlicher zurückgespiegelt wird, neu zu entdecken gilt, meint der Biologe und Literaturwissenschaftler Ludwig Fischer.

der Freitag: Herr Fischer, in anderen Ländern erlebt das Nature Writing seit einiger Zeit eine Renaissance. Hierzulande hat man oft den Eindruck, die Menschen wissen gar nicht, was das überhaupt ist.

Ludwig Fischer: Einer der fundamentalen Irrtümer in Deutschland besteht darin, Nature Writing beschäftige sich mit der sogenannten unberührten, wilden Natur und mit nichts anderem. Wer aber die Werke aus der Nature-Writing- Tradition kennt, weiß, dass es seit den Anfängen, seit Gilbert White, seit Thoreau, immer um das Verhältnis der Natur zum wahrnehmenden Subjekt, dem Menschen, ging und um Natur als eine vom Menschen bewohnte oder besiedelte Umgebung.

Der deutsche Buchmarkt wird derzeit überschwemmt mit Büchern über die Natur, in der großen Mehrzahl handelt es sich dabei aber nicht um Werke des Nature Writing ...

Dieser ganze Naturbücherboom geht genau in die falsche Richtung, nach dem Motto: Wir verstehen Natur, indem wir sie vermenschlichen wie Peter Wohlleben (mit seinem Buch Das geheime Leben der Bäume): Der Wald ist wie ein Freundeskreis, die Bäume verständigen und helfen sich gegenseitig. Das tilgt genau das Problem, das wir mit Natur haben: Auf der einen Seite sehnen wir uns nach ihr, auf der anderen entfernen wir uns immer mehr davon, indem wir sie unterwerfen und ausnutzen bis zu ihrer Zerstörung. Doch irgendwann sind wir wieder mit den Folgen unseres Handelns konfrontiert, wie etwa dem Klimawandel in Form einer übermächtigen Katastrophe. Diese Spannung, die noch in unserem Naturbegriff und unserer Naturwahrnehmung steckt, die muss präsent sein, sonst machen wir uns etwas vor. Natur ist immer auch das Befremdliche, das Unverständliche oder sogar das Bedrohliche. Es ist bezeichnend, dass Nature Writing auch diese Komponente enthält: Wenn Thoreau in Maine den Mount Katahdin besteigt, dann kommt er an eine Grenze seiner Erfahrungsmöglichkeiten und kehrt um, und das gehört auch dazu.

Also ist es das gesellschaftliche Spannungsfeld zur Natur, das Nature Writing im Gegensatz zu der hierzulande so populären Naturliteratur auszeichnet?

So ist es. Und wenn Nature Writing gut ist, dann ist das so erzählt, dass man etwas von dieser Spannung wissen will. Das grandiose Buch von Henry Beston: Das Haus am Rand der Welt. Ein Jahr am großen Strand von Cape Cod, ist ein Beispiel dafür. Darin ist alles gegenwärtig: Da ist die unglaublich genaue, anrührende Naturerfahrung, und da ist die Gewalt, da sind die Schiffbrüche, und da sind die ertrinkenden Menschen! In vielen Nature-Writing-Büchern wird diese Spannung nicht direkt zum Thema gemacht, aber sie wird auch nicht weggedrückt wie in vielen der Bücher, die jetzt in diesem Naturhype erscheinen: Die sind alle gut und schön, aber reichen noch nicht an das heran, was unser Naturproblem ist. Und genau damit beschäftigt sich Nature Writing. Zum Beispiel die aktuelle Kontroverse in England über Rewilding, über Renaturierung: Das brauchen wir gerade jetzt in unseren Diskussionen über die Zukunft der Landwirtschaft!

Aber diese Debatten gibt es bei uns doch auch?!

Natürlich gibt es die, aber hauptsächlich in Form von wissenschaftlicher Literatur. Der ganze Schlussteil meines neuen Buches handelt von Renaturierung, in diesem Falle eines Moores. Das Thema ist auf der Tagesordnung! Diese Auseinandersetzung wird hier unter Naturschützern, Ökologen und Landschaftsplanern geführt, sie kommt aber leider viel zu wenig nach draußen. Wir haben noch keine Bücher, die solche Themen mit einem literarischen Anspruch aufgreifen. Esther Kinsky ist eine der wenigen, die sich daran versucht hat.

Kinsky bezeichnet ihre Bücher lieber als Geländeromane als als Nature Writing …

Geländeroman ist ja im Prinzip auch eine der Traditionslinien des britischen Nature Writing, das klassische Place Writing. Kinskys Buch Am Fluss besteht aus einzelnen Erkundungsgängen in die Außenbezirke von London. Das ist für mich sehr genuines Nature Writing. Wenn man das vergleicht mit zeitgenössischen britischen Autoren, etwa Roger Deakin oder Robert Macfarlane, dann ist das ganz dicht dran. So berichtet Deakins Buch Logbuch eines Schwimmers fast ausschließlich von seinem „Wilden Schwimmen“ in den Grenzzonen von Zivilisation und Naturlandschaft.

Zur Person

Ludwig Fischer , geb. 1939, studierte erst Biologie, dann Literatur- und Medienwissenschaft. Von 1978 bis 2004 war er Professor für Neuere deutsche Literatur in Hamburg. Fischer lebt seit 50 Jahren auf dem Land, gärtnert und ist im Naturschutz aktiv. 2017 kam in der Reihe Naturkunden des Verlags Matthes & Seitz sein Porträt der Brennnessel heraus. Sein neues Buch heißt Natur im Sinn – Naturwahrnehmung und Literatur

Alexander von Humboldt war einer der Begründer des Genres Nature Writing, aber in Deutschland ist nicht viel daraus gefolgt …

Tatsächlich haben die großen naturkundlichen Werke Alexander von Humboldts ab etwa 1840 die Herausbildung von Nature Writing in den USA und indirekt auch in Großbritannien wesentlich befördert und beeinflusst. Warum das in Deutschland nicht der Fall war, ist noch näher zu erörtern. Einige deutsche Vertreter gibt es jedoch: Der verstorbene W. G. Sebald hat sich in Nature Writing versucht, wenn auch in einer sehr schwierigen, weil gebrochenen Weise. Er schrieb über die englische Landschaft, in der er gelebt hat; es gibt so wenig Beispiele, die wirklich in dieser Linie liegen, und wenn, dann sind sie unbekannt wie das wunderbare Buch von Helmut Schreier über Bäume: Streifzüge durch eine unbekannte Welt. Das wird dann nicht als bedeutende Literatur gehandelt, weil es sich ja vermeintlich nur mit der Natur beschäftigt. Oder der Anfang der 90er Jahre verstorbene Helmut Salzinger, der Beatpoet, der dann aufs Land gegangen ist und nichts anderes gemacht hat, als Moore zu erkunden, und der darüber das Buch geschrieben hat: Moor, ein Versuch, nicht zu erzählen – vergessen! Das ist Provinzliteratur, die hat keinen interessiert. Das ist das Schicksal solcher Bücher in Deutschland!

Wie sieht es aus mit Sarah Kirsch? In ihren Naturgedichten spielt das Subjekt ja durchaus eine starke Rolle.

Sarah Kirsch ist wirklich eine sehr gute, schätzenswerte Lyrikerin. Sie hat ja – wie ich auch 20 Jahre – da oben in Schleswig-Holstein gelebt, und sie beschreibt diese Landschaft auch ganz feinsinnig und manchmal wirklich extrem genau. Insofern kommt das hie und da an das heran, was Nature Poetry in den USA oder England ist. Aber wenn man John Clare nimmt, diesen berühmten englischen Lyriker, der konzentriert sich noch viel mehr auf die Naturerscheinungen. Oder bei uns Wulf Kirsten, der nichts anderes getan hat, als eine Ecke von Sachsen mit unglaublicher Intensität lyrisch aufzuarbeiten: Er ist für mich ein genuiner Nature Writer, ist aber als solcher kaum bekannt. Das ist sperrig. Das ist nicht gefällig. Oder auch Volker Braun oder Thomas Rosenlöcher, viele dieser DDR-Lyriker, die dort die Konfrontation mit der gesellschaftlichen Vernutzung von Natur noch härter erfahren haben, die kann man schon ein Stück weit als Nature Poets bezeichnen.

Sie haben ja daran mitgewirkt, den Deutschen Preis für Nature Writing ins Leben zu rufen, der 2018 zum zweiten Mal verliehen wurde: Wie entstand die Idee dafür?

Der Auslöser war eigentlich eine Verlagspräsentation, die Andreas Rötzer, der Verleger von dem Verlag Matthes & Seitz, bei einer Tagung bei den Naturschützern gemacht hat. Da entstand das Bedürfnis, über die Verbindung von Naturerkundung und Literatur, wie sie Nature Writing ausmacht, ein weiteres Publikum zu erreichen.

Bewegt sich denn sonst in Deutschland etwas in diese Richtung?

Positiv sehe ich dieses enorme Interesse an dem Naturthema in der Gesellschaft. Das zeigt ja, dass da gesellschaftlich etwas brodelt. Nature Writing hat dabei eine Aufgabe. Vor allem müssen wir unterscheiden lernen: Nicht in allem, wo Natur draufsteht, ist Nature Writing drin. Einige Verlage leisten mit großartigen Büchern Pionierarbeit, und sie haben Erfolg. Das zeigt doch: Die Bereitschaft des Publikums, das Thema unseres Naturverhältnisses anzunehmen, ist da. In Deutschland wird aber auch von anderer Seite etwas in Gang gesetzt: So hat der British Council auch in Deutschland Seminare zu Nature Writing organisiert und unterstützt mit einem Stipendium junge deutsche Autoren. Insgesamt bin ich gar nicht so pessimistisch: Wir sind zwar noch weit davon entfernt, den Engländern und Amerikanern große Nature-Writing-Autoren an die Seite stellen zu können, aber wir sind auf dem Weg.

Um Nature Writing geht es auch in Ihrem neuen Buch ...

Dabei handelt es sich um ein Grundlagenwerk, ein Diskussionsangebot für die Verständigung über die Naturkonzepte und die Ziele von Nature Writing. Außerdem sind darin Erzählungen und unterschiedliche Spielarten von Nature Writing enthalten. Insofern fühle ich mich nicht nur als Theoretiker und Betrachtender, sondern auch als einer, der die unterschiedlichen Sprech- und Erzählweisen von Nature Writing erprobt. Das wird hoffentlich die Debatte im deutschsprachigen Raum weiter anregen.

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