Abgrund

Abkehr vom Ich Der 11. Open-Mike-Wettbewerb

Ich ist ein Anderer. Den Satz schrieb Arthur Rimbaud 1871. Und so tot zitiert, wie er seitdem wird, sollte man eigentlich meinen, dass der Geistesblitz zur unhintergehbaren Voraussetzung der Kunst geworden wäre. Doch dann kam die junge deutsche Literatur und bewies: Der narzisstische Regress ist möglich. Als ob wir unter der neuen Subjektivität der achtziger Jahre nicht genug gelitten hätten, rief sie nach dem Epochenbruch wieder: Ich! Ich! Ich! Ihr asoziales Subjekt wohnte vorzugsweise in Berlin-Mitte. Von Welt und Geschichte kannte es die Oberfläche. Die aber gut. Und den Horizont vermutete sie in jenem kreisrunden Loch knapp über der Hüfte.

Eine der wichtigsten Stationen, um diesem selbstverliebten Patienten den Puls zu fühlen, heißt seit 1993 Open-Mike. Der allherbstliche Literaturwettbewerb der Berliner LiteraturWerkstatt hat sich nach Klagenfurt zum zweitwichtigsten Preis für die deutschsprachige Literatur der 20 bis 35jährigen gemausert. Kein Wunder. Denn Kritik haben die jüngsten Schreiber hier nicht zu befürchten. Wahrscheinlich saß die drei Köpfe der diesjährigen Jury: Ingomar Kieseritzky, Karen Duve und Ferdinand Schmatz, in diesem Jahr deshalb geradezu symbolisch hinter einer Säule. Beim open-mike zählt der Auftritt in einem auratischen Umfeld. Die Szene ist da, der Mythos Prenzlberg lockt, wie komme ich an? Open-mike ist nicht zuletzt ein Synonym für die Arbeit am Ich! Doch auch, wenn das juvenile Schlüsselwort in den 18 Wettbewerbs-Texten, die sechs Lektoren aus den rund 600 Einsendungen fischten, wieder aufblitzte. In diesem Jahr war alles anders.

Man wusste es nicht: Lag es an dem Professionalisierungsschub durch die neuen Literaturschulen von Leipzig bis Tübingen, dass sich immer mehr Schreibende vom Mainstream des traditionellen Erzählens aus beschaulicher Perspektive entfernten? Plötzlich avancierten Randzonen wie ein brackiger Hafen am Ende der Stadt oder das Grenzgebiet zwischen Bayern und Tschechien zu Schauplätzen. Die Geschichten wurden komplexer, die Motive raffinierter. Und die 1975 in Bremen geborene Petra Lehmkuhl pirschte sich in ihrer Siegergeschichte dosenpfand haarscharf an eine von Grund auf veränderte Gegenwart - ihr Staccato zwischen SMS und Liebesgeflüster spiegelte ernüchtert die Erosion der Liebe und der Sprache. Und dann diese ganz neue, mitleidlose Ironie, in dem die soziale Zuspitzung wahrgenommen wird! Noch ein Novum. Perspektivwechsel, wie sie die 1977 in Karl-Marx-Stadt geborene Kirsten Fuchs für ihre preisgekrönte Story Die Titanic und Herr Berg, eine schnoddrige "Liebesgeschichte" zwischen einem Sozialarbeiter und einer seiner Klientinnen, wählte, sind nichts Neues. Doch der kalt-rasante Ton ohne moralische Tränendrüse begeisterte Jury und Publikum: "Ich habe mein Mitleid verbummelt. Ist mir in den Gully gefallen und unter den Teppich gerutscht. Vielleicht habe ich es einer Frau geborgt und nicht wiederbekommen."

Nur weil eine schreckensgeneigte Autorin die Otter im Zoo Wachteln fressen lässt, wollen wir noch nicht von einer "partisanenhaften Literatur" sprechen, wie sie sich Lektor Martin Hielscher, Ziehvater des Pop-Dandys Christian Kracht, gewünscht hatte. Aber der Wagemut ist gewachsen. In Renatus Deckerts Erzählung Die Haarnadel liebäugelt ein Pärchen sogar mit dem "Kamikaze-Sex" einer seltenen Spinnenart. Zwar siedeln die jungen Schreibenden ihre Geschichten noch immer in sehr engen Welten an. Doch die wichtigste Nachricht entnehmen wir Veronika Reichls Siegergeschichte 33 funktionierende Maschinen. Ihre Skepsis gegenüber einem statischen Fixpunkt kleidet sie darin in die schönen Worte: "Am beunruhigendsten aber bleibt der Bauchnabel." Endlich!

In philosophisch-poetischen Vignetten unterläuft die 1973 in den USA geborene Autorin die Schnapsidee vom einheitlichen Ich. Von den zwei verschiedenen Ichs, die einem jeden Morgen vor und im Spiegel begegnen, über das jede Nacht mit Millionen Neuzellen neugeborene Ich dissoziiert sie eine als Einheitswährung genommene Schimäre. Eine ihrer Protagonistinnen heißt Marlene. Die hat, heißt es umstandslos, "keinen Kern". Und als sie sich einmal in einem Meditationskurs auf die Suche nach ihrem Selbst macht, findet sie in der Mitte der Zwiebel namens Ich einen leeren senkrechten Tunnel, "in dem nichts war ... und in dem sie abstürzte". Ich ist ein Abgrund.

11. Open Mike. Internationaler Literaturwettbewerb junger deutschsprachiger Autorinnen und Autoren. Alle Wettbewerbstexte. Allitera-Verlag, München 2003,
184 S., 12,80 EUR


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