Abschied vom Paradies

Vision Die Ausstellung "Die neuen Hebräer" im Berliner Martin-Gropius-Bau

Schon der Titel ist eine kleine Provokation. Neue Hebräer klingt modern, offen, zukunftsweisend, irgendwie nach einer Art israelischem Pendant zu "Neuer Mitte". Doch historisch gesehen befindet man sich mit dem Obertitel der Ausstellung zu "100 Jahre Kunst ins Israel", die derzeit im Berliner Martin-Gropius-Bau gezeigt wird, in durchaus zweifelhafter Gesellschaft. Denn der "neue Hebräer", eine Gedankenfigur des frühen Zionismus, war das Gegenbild zu dem Juden der Diaspora, der Verkörperung des Passiven und Schwächlichen.

Der blonde, blauäugige Pionier, der den Verächtern des jüdischen Exils vor Augen schwebte und der das neue Palästina erschaffen sollte, war auch ein Held zwar nicht von Blut, aber doch von Boden: "Ihr wisst", lässt Samuel Agnon, jüdischer Nobelpreisträger von 1966, in seinem Roman Schira, der das Schicksal deutscher Immigranten im Jerusalem der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts beschreibt, seinen Erzähler die Lesenden ermahnen, "dass das Heil Israels im Heiligen oben und im Boden unten gründet ist".

Natürlich meint Doreet LeVitte Harten, Berlin-Düsseldorfer Kunsthistorikerin und Kuratorin der imposanten Überblicksschau von über 900 Objekten, mit den "neuen" und "alten" Hebräern den Brückenschlag von den biblischen zu den modernen Zeiten. Nicht umsonst wurde in einer spektakulären Aktion die Tempelrolle aus Qumran, die Beduinen 1946/1947 in einer Höhle am Toten Meer fanden, restauriert und nach Berlin geschafft. Die sonst in einem Schrein im Jerusalemer Israel-Museum verwahrte Rolle ist das Fundament des israelischen Nationalmythos. Jede Zeile der drei Meter langen Rolle im schützenden Dämmerlicht des Gropiusbaus soll historische Kontinuität verbürgen: Dies war immer unser Land! Das ändert freilich nichts an den zwiespältigen Untertönen des Begriffs der "Neuen Hebräer".

Der rechtsnationalistische Revisionist Vladimir "Zeev" Jabotnsky aus Odessa, geistiger Vater des Likud und der Erez Israel-Bewegung, sprach 1910 von einer "neuen psychologischen Rasse der Juden" und von Israel als "Wolf unter Wölfen". Rechte und linke Zionisten waren sich da ideologisch nahe. Was Max Nordau, ein Weggefährte Theodor Herzls, mit dem "Muskeljuden" meinte, kann man sich vorstellen, wenn man die Fotografien des ungarischstämmigen Fotografen Zoltan Kluger sieht, zwei Jahre vor der Staatsgründung Israels: Die athletischen jüdischen Sportler sind alles andere als gebeugte Talmudjuden aus dem Schtetl. Schwimmer und Leichtathleten stehen da in Reih und Glied, die Brust gereckt, die Hände an einer imaginären Hosennaht, mehr Formationskämpfer als entspannte Repräsentanten der schönsten Nebensache der Welt.

Doch so sehr man sich fragen kann, ob Harten den Titel wirklich gut gewählt hat, zeigt er doch die ganze Ambivalenz des Projektes Israel auf. Denn die Idee des "Neuen Menschen", die sich in Bildern wie denen Klugers oder dem Plakat Pesach Irsays mit einem stilisierten "Pionier" aus den späten vierziger Jahren niederschlägt, offenbart, wie stark die Leitideen des neuen jüdischen Staates in den großen Ideologien des 20. Jahrhunderts gründen. Was man sonst eher aus dem spätrevolutionären bis stalinistischen Russland kannte, findet man auch im frühen Israel: Das ganze Arsenal der propagandistischen Formensprache in der Alltagsästhetik: aufbaubereite Werktätige, die die Sense und das Gewehr schultern. In einem Saal kann man zwar auch den funktionalistischen Humanismus an Modellen von Bauhaus-Architekten wie Richard Kaufmann und Erich Mendelsohn bestaunen. Doch die Wiege dieses Staates umweht auch ein Hauch von ästhetischem Totalitarismus.

Es steht nicht in Gegensatz dazu, dass Israel gleichzeitig die faszinierende Idee eines Staates als ästhetischem Projekt ist, wo die Kunst als Vorwegnahme des Staatlichen fungiert. Herzls Idee vom "Judenstaat" war ebenso eine politische wie eine ästhetische Vision. Seine ersten ungelenken Entwürfe für Details der künftigen Staatssymbolik, über die man sich in der Schau beugen kann, eine israelische Nationalfahne etwa oder die Sitzordnung des Obersten Gerichts, wurden jedoch nie verwirklicht. Geistig wurde Israel mit der Bezalel-Akademie auf dem Mount Scopus in Jerusalem gegründet. Diese Einrichtung im Stil der englischen Kunstgewerbeschulen, deren Einrichtung der litauische Bildhauer und Herzl-Zeitgenosse Boris Schatz betrieb, nahm im Januar 1906 ihren Lehrbetrieb auf. 42 Jahre vor der Gründung des imaginierten Staates sollte sie eine zionistische Zivilisation antizipieren und deren ästhetische Kronjuwelen in einem "Dritten Tempel" versammeln.

Die ersten Produkte dieser programmatischen Bilderwerkstatt, die 1929 vorübergehend schließen musste, weil sie gegen die kulturelle Kraft des aufblühenden Tel Aviv nicht ankam, gehören zu den interessantesten Entdeckungen der Berliner Ausstellung. An ihnen lässt sich die Euphorie studieren, mit der die "Neuen Hebräer" Ost und West in Palästina zu verschmelzen gedachten. In den Teppichen, Wanddekors oder frühen Silberschmiedearbeiten spiegelte sich ebenso der Ansatz, biblische Motive mit orientalischem Ornament zu verknüpfen wie in den Fotografien des galizischen Künstlers Ephraim Moses. Auf seinen Bildern posieren Juden des Jahres 1915 in orientalischen Gewändern. Die Geschichte der israelischen Kunst ist zu einem nicht geringen Teil die Geschichte des Scheiterns einer Ost-West-Integration. Spätestens mit den Aufständen der Araber um 1929 scheiterte Ben Gurions ursprüngliche Idee, die Juden "zu einem orientalischen Volk zu machen".

Hartens rund zwei Millionen Euro teure, offiziöse Schau ist ein imposanter Bildungs-Parcours mit legitimatorischer Funktion: Man passiert entscheidende Wegmarken des israelischen Selbstverständnisses vom heimatlosen Ahasver bis zum modernen Staatsbürger. Und natürlich den Holocaust. Gleich zu Beginn empfängt den Besucher Shmuel Hirszenbergs Gemälde Der wandernde Jude von 1899. In einem Glaskasten ähnlich dem, in dem Adolf Eichmann 1962 seine Anklage vor einem israelischen Sondergericht erlebte, verfolgt der Betrachter wenig später Tonaufnahmen des spektakulären Prozesses. Erst mit den Schilderungen der bis dahin verachteten Holocaust-Opfer bildet der Völkermord an den europäischen Juden den Kern der israelischen Staatsidentität.

Für eine offiziöse Schau unter der Schirmherrschaft des israelischen Staatspräsidenten Moshe Katzav, eröffnet zum 40. Jahrestag der deutsch-israelischen Beziehungen, weist Harten vergleichsweise offen auf die Diskrepanz zwischen dem einstigem Ideal und der Wirklichkeit heute hin. Sie konfrontiert historische Exponate mit solchen der zeitgenössischen Kunst. Auf einer Grußkarte zum Neujahrstag aus den vierziger Jahren paradieren auf dem Schwarzweiß-Foto ein Soldat und eine Soldatin mit aufgepflanztem Karabiner und heroischer Miene vor der israelischen Nationalfahne. Auf Nir Hos Gemälde Verlorene Jugend aus dem Jahr 2004 sieht man die jungen Kämpfer der israelischen Armee von heute weinend in die Fäuste beißen. Deutlicher lässt sich die Ernüchterung des israelischen Selbstverständnisses kaum darstellen.

Gerade angesichts solch markanter Diskrepanzen verwundert es, dass die Kuratorin im Katalog-Vorwort davon spricht, dass es "trotz widriger Bedingungen im Lande glückte, den Traum zu verwirklichen". In Bezug auf die pure Staatlichkeit Israels mag das gelten. Doch auch in Bezug auf die innere Verfasstheit? Die "widrigen Umstände", die Allgegenwart von Krieg, Tod und Unterdrückung, kann man ahnen, wenn man die Bilder zerschossener Lastwagen sieht, die Gilhad Ophir fotografiert hat. Sogar das bizarre Verhalten israelischer Grenzposten ist Gegenstand eines Kunst-Videos. Doch selbst kritische Perspektiven wie ein beklemmendes Bild der Mauer im Jerusalemer Stadtteil Abu Dis spiegeln ausnahmslos die israelische Sicht. Bilder arabischer Opfer sind nicht zu sehen. Und in der ganzen Schau sieht man keinen Künstler aus der Kategorie "arabischer Israeli".

Doch wenn der Besucher Ariel El Hananis idyllisches Wasserfarbenbild Paar am Strand aus den zwanziger Jahren mit Bary Frydlenders Fotografie eines überfüllten russischen Kiosks in Tel Aviv von 2000 vergleicht, wird der Abschied vom Paradies deutlich, den die "Vision Israel" eben auch beinhaltet. Damit ist nichts Schlechtes über Israel gesagt. Dass die zionistischen Einheitstypen des "Neuen Menschen" im schwer dechiffrierbaren Kuddelmuddel eines postzionistischen Alltags angekommen sind, ist vielleicht noch die beste Nachricht, die uns 100 Jahre Kunst in Israel zu überbringen haben.

Die neuen Hebräer. 100 Jahre Kunst in Israel. Martin-Gropius-Bau Berlin, noch bis zum 5. September 2005, Katalog, nicolai-Verlag, 588 S., 24 EUR


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