Das große WIR. Als sich Jana Hensel vor zwei Jahren wehmütig an die gute alte DDR erinnerte und das "schöne warme Wir-Gefühl" darin beschwor, war die Aufregung groß. Zonenkinder - der Titel des Buches (Freitag 46/2002) schied fortan die Geister. Viele, meist um die 1970 geborene, klebten sich den Titel wie ein Identitätsamulett ans Rever. Andere wieder gossen Hohn und Spott über diesen Versuch pueriler Weichzeichnung eines verhassten Systems im Retrolook.
Nicht nur, weil in dem jüngst erschienenen Buch Geboren am 13. August so häufig "Ich" gesagt wird, kann man dieses Erinnerungsbuch des 1966 geborenen Jens Bisky an seine DDR-Kindheit getrost als späte Antwort auf eine Autorin sehen, die die prätentiöse Ehrenrettung ihrer Biografie und Herkunft längst gegen den geräuscharmen Alltag in den Westmedien getauscht hat. Gegen die gespielte Naivität, mit der Hensel weiland ihre Berufsbekleidung Ost re-inszeniert hatte, setzt der Kulturkritiker der Süddeutschen Zeitung den unmissverständlichen Satz: "Wer mit vierzehn Jahren ein Blauhemd anzieht, ist nicht mehr völlig hilflos." Im Zeugnisheft der 28. Polytechnischen Oberschule hatte er noch einmal seine positive Beurteilung als Mitglied im Jungpionierrat nachgelesen und konstatiert: "Harmlos und niedlich kann ich heute die Pioniere nicht mehr finden".
Nun hatten Hensels Zonenkinder natürlich trotzdem eine wichtige Funktion. Zum einen beschrieb sie den Bruch in den Generationenerfahrungen Ost: hier die nüchternen Jungen, die den Epochenbruch unsentimental zum Auf- und Ausbruch nutzten, da die zurückgebliebenen Eltern, die plötzlich abgehängt schienen. Man durfte zwar nicht jedes ihrer Idyllenbilder, das sie um dieses Grundmotiv drapierte, zum dürftigen Nennwert nehmen. Nach den Demütigungen des Epochenbruchs war der Band aber zum anderen ein Signal, eine andere Vergangenheit als den Mainstream West selbstbewusst behaupten zu können. Dass kritische Distanz aber die bessere Methode ist, um den Inhalt dieser Vergangenheit aufzuarbeiten, kann man nun an Biskys Buch studieren.
Diese Distanz beginnt schon bei der Wahrnehmung. Bisky verklärt das Mangelsystem DDR nicht zur romantischen Arte Povera. Die billigen Synthetikstrümpfe seiner Kindheit sind bei ihm nicht Vorschein einer verlorenen Einfachheit, sondern das, was sie waren: Symptom einer Unterentwicklung. Sie kratzten einfach. Und man merkt Bisky den geschulten Reporter an, etwa wenn er einfühlsam, aber keineswegs gefühlig seine Eltern zu Beginn ihrer Ehe als "Habenichtse" beschreibt und Lothar Bisky, den Kulturwissenschaftler und späteren Rektor der Babelsberger Filmhochschule, als "zu kurz geratenen Belmondo" im giftgrünen Trabant und seine Mutter als "Lollobrigida, die es ins Sächsische verschlagen hatte", charakterisiert. Die zeitweilige IM-Tätigkeit seiner Mutter Almuth, die Gespräche mit Erich Loest weiter gab, streift Bisky zwar nur kurz. Die angeblichen IM-Verstrickungen seines Vaters interessiert ihn gar nicht. Dennoch liegt die Stärke dieses gut geschriebenen Buches in dem Grundton großer Aufrichtigkeit.
Was Bisky an Hensels Buch damals vermisste: die "Individualität des Erwachsenwerdens" ist ihm in seiner Variante des systemübergreifenden Motivs vom "Ende der Kindheit" überzeugend gelungen. Er hat kein buntes Plastemodell einer DDR-Kindheit vorgelegt, das auf dem Ramschmarkt der Ostalgie reißenden Absatz findet. Er hat auch kein Monument trotziger Selbstbehauptung jener ominösen "Ost-Identität" aufgerichtet. Wirft sich aber auch nicht in eine tragische Mea-Maxima-Culpa-Pose a la Schabowsky, mit der man sich im Westen bei den Medien beliebt machen kann. So behende wie Bisky in der DDR "auf der Grenze zwischen Apparat und Gesellschaft" balanciert hat, so behende balanciert er jetzt die Erzählung seines Lebens zwischen starker Selbstkritik und schwacher Rechtfertigung.
Der Mensch Jens Bisky kommt darin in allen ambivalenten Facetten vor, ohne sich effekthascherisch zu entblößen: vom eifrigen Jungpionier, der Verse vor Margot Honecker aufsagt, bis zum bekennenden Homosexuellen, der tagsüber als Leutnant der NVA Dienst schiebt und nachts durch Berliner Schwulenbars zieht. Es gehört auch Mut zu einem Satz wie dem, dass er sein Abiturzeugnis heute wie auf eine "Urkunde des Opportunismus" schaut. Mit diesem Buch hat sich Bisky eine Urkunde der Zivilcourage erschrieben.
Keines der Bilder, das Bisky dabei Schritt für Schritt von dem untergegangenen Staat zeichnet, ist ganz neu: das von der Doppelbödigkeit des DDR-Alltags, der Kluft zwischen ideologischer Phrase und sozialer Realität, dem lähmenden Zwiespalt zwischen Hoffnung und Erstarrung und der Flucht in die Nischen. Der gläubige Schüler des Sozialismus merkt schon früh an seinen Klassenkameraden einen merkwürdigen Untergrund der Systemablehnung. Später wird er Offizier, liest aber im Kreise der Berliner Theater-Boheme, in die er gleichzeitig eintaucht, Rudolf Bahros Die Alternative. Auch das systemkonforme Milieu, dem er entwächst, entfremdet sich dem Staat. Seine Eltern propagieren wie Volker Braun einen Sozialismus mit "Genussfreude" und hoffen am Ende auf Gorbatschow.
Dergleichen hat man schon häufiger gehört. Doch kaum jemand in dem Boom der autobiografisch getönten DDR-Erinnerungsliteratur der letzten zwei, drei Jahre hat dieses langsame Reifen einer pandemischen Schizophrenie genauer beschrieben. In der DDR, erinnert sich Bisky, war am Ende alles doppelt da: "Es gab die ideale und die normale, die DDR, wie sie sein sollte, und die der Greise, die SU Gorbatschows und das Land, dessen Elend selbst wohlwollenden Intourist-Reisenden nicht entging."
Das soziale Elend war das eine, das individuelle das andere. Man wird einem Menschen, der nach der (Selbst-)Enttarnung seines Lebensgefährten als IM am "dritten Nullpunkt" angekommen ist und mitbekam, was in der DDR vom Waffenhandel bis zur Abschiebung von Behinderten alles vorging, nicht verübeln, dass ihm "der Erlösungstraum von der gerechten Gesellschaft verblasste". Biskys langjähriger Lebensgefährte Wolfram, Drehbuchautor von DDR-Filmemacher Heiner Carow, outete sich nach der Wende als IM.
Auch wenn man also verstehen kann, dass Bisky 1992 mit den Worten aus der Partei austrat: "Dass ich in der Partei war, hinterlässt ein Stück Selbsthass", fragt man sich gelegentlich, wo seine Ideale geblieben sind. An mehr als einer Stelle bezeichnet sich der Journalist im nachhinein als "authentischen Sozialisten", als Befürworter eines "Dritten Wegs" und eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz". Nach der Wende stößt sich Bisky an der "Lauheit des postideologischen Zeitalters" und sagt von sich in der Zeit zwischen der Volkskammerwahl und der Vereinigung: "Ich war ein Linker."
Bisky Buch ist nicht der erste Bildungsroman, in dem den Weg vom Wir zum Ich nachgezeichnet wird. Doch nur um diesem Genre noch ein Glanzlicht aufzustecken, hat Bisky dieses Buch sicher nicht geschrieben. Im Kern verfolgt der Kulturjournalist, der (wie im Fall der Berliner "Anonyma") nicht von ungefähr gern als Mythenzerstörer auftritt, mit diesem exemplarischen Beispiel eines Ausgangs aus der mitverschuldeten Unmündigkeit das Projekt einer antikollektivistischen Immunisierung: Kant statt Marx! Bisky hat die Wende als Befreiung empfunden, nicht als Kolonisierung. Gegen die ostalgischen Traumbilder des Spreewald-Sozialismus setzt er Bilder des schmerzhaften Abschieds, des ungewissen Neuanfangs und - des individuellen Freiheitsgewinns. "Furcht vor der Freiheit", jene Krankheit die er in seinem Essay Zonensucht vergangenes Jahr im Merkur seinen einstigen Landsleuten attestierte, scheint dieser junge Mann jedenfalls nicht zu haben.
So individuell gesehen ist die deutsche Vereinigung natürlich eine einzige Erfolgsgeschichte. Doch ob die intellektuelle Produktivkraft des skeptischen Individuums, Biskys Avantgarde der Ernüchterung, ausreicht, um eine neue Solidarität in Deutschland zu schaffen? Mit dem Marlboro-Spruch: "It´s a free country", der das Buch beschließt, nimmt er mit ironischem Unterton eine ideologische Reizvokabel auf. Da scheint einer gut "angekommen" zu sein. Man würde von einem Mann, den womöglich erst die sexuelle Abweichung vor einer Systemkarriere bewahrt hat, eigentlich etwas weniger Mainstream-Bewußtsein erwarten. Aber gehen wir einmal davon aus, dass ein so sensibler Seismograph kultureller Widersprüche davor gefeit ist, nun der Strahlkraft eines anderen großen WIR zu erliegen.
Jens Bisky: Geboren am 13. August. Der Sozialismus und ich. Rowohlt Berlin, Berlin 2004, 256 S., 17,90 EUR
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