"Ich erwarte so etwas wie den Halleyschen Kometen der Kunst." So wie Adrien Benepe, der High Commissioner des New Yorker Central Park, wenige Tage vor der Eröffnung des neuesten Projekts von Christo das Welt-Kunst-Ereignis 2005 beschrieb, so war auch die Stimmung in ihrer Hauptstadt. Mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis wartete eine polyglotte Fangemeinde auf eine weitere Heilserscheinung im Kosmos eines der berühmtesten Künstlerpaare der Moderne. Würde ihr neuestes Projekt wieder so großartig werden wie das letzte? Oder hieße es nicht, Eulen nach Athen tragen, im Central Park 7.500 Tore aufzustellen und mit orangefarbenen Stoffbahnen zu verhängen? Schließlich ist der 1853 angelegte Park schon eines der größten Kunstwerke der Welt. Was sollte da seine Verwandlung der Kunst noch Neues, Großes bringen?
Monat um Monat wurden im Vorfeld des Großereignisses namens The Gates die Superlative wiederholt, die diesmal zu vermelden waren: 5.500 Tonnen Stahl, zwei Drittel der Menge des Pariser Eiffelturms wurden verbaut. 190.000 Kilometer Nylonfaden wurden zu 100.000 Quadratmeter Vorhangstoff für das 20 Millionen Dollar teure Projekt verwoben. Angesichts solcher Dimensionen ließe sich auch Christo neueste Idee leicht als Prototypus von Guy Debords "Kunst des Spektakels" für den entertainmentsüchtigen Spätkapitalismus denunzieren. Die über den ganzen Globus verteilten Projekte des Paars wurden schon in den Jahren zuvor immer gigantischer und ließen Tourismus- und Medienindustrie wie Pilze nach dem Regen aufschießen. Und genau in diesem Tonfall bemühte ihr vehementester Unterstützer Michael Bloomberg, der republikanische Bürgermeister New Yorks, vergangenes Wochenende zur Begründung des Projekts nicht etwa ein ästhetisches Argument, sondern die 80 Millionen Dollar, die während des 16-tägigen Events in New Yorks leere Stadtkassen gespült würden. Eine "Stadt des Optimismus" beschwor der Multimilliardär und Medienzar als Signalwirkung von The Gates.
Auf einen gigantischen Marketing-Gag, ein kommunalpolitisches Antidepressivum oder ein ästhetisch induziertes Konjunkturprogramm lässt sich Christo Kunst dennoch nicht reduzieren. Dazu haben die beiden Jahrhundertgestalten eine viel zu eigenständige Formensprache entwickelt. Ihre Vorliebe für spektakuläre Interventionen in Raum und Alltag kann man auf die Avantgarde der russischen Revolution zurückführen. Als Schüler der Kunstakademie in Sofia interessierte sich der junge Künstler Christo Javacheff für die Dekorationen, die die russische Avantgarde für große Festivals entworfen hatte. Und bis heute wird die berühmte Episode kolportiert, wie er in den Semesterferien den Landwirten beibringen musste, Traktoren und Heuhaufen an den Berghängen effektvoll aufzustellen, zwischen denen der Orient-Express hindurch brauste. Die Fahrgäste aus dem Westen sollten blühende sozialistische Landschaften erblicken.
Etwas von der Avantgarde-Methode der großflächigen Draperie steckt noch immer in dieser Kunst. Genau so wie man immer noch die Spuren der Nouveau Realistes entdecken kann, zu denen die Kunstkritik Christo zählte, als er am Ende der fünfziger Jahre dem sozialistischen Realismus den Rücken kehrte und in Paris, dem neuen Zentrum der Avantgarde, den kapitalistischen Realismus und seine Frau Jeanne-Claude entdeckte. Die lose Künstlergruppe um Arman und César hing an Alltagsobjekten. Getreu ihrem Willen, die Kunst auf "das Wirkliche an sich" zu verpflichten, verfolgten auch die Christos mit ihrer Kunst eine antimuseale Stoßrichtung. Sie verpackten Telefone, Zeitungen und Stühle; 1968 in Philadelphia einmal sogar gar Menschen. Wenn man so will, ist die Eröffnung des Gates-Projektes die Antithese zur Eröffnung des Museums of Modern Art vor vier Monaten, sechs Straßenblocks vom Central Park entfernt. Wurden dort die unsterblichen Überreste der europäischen und amerikanischen Avantgarde in einem sündhaft teuren Glassarg aufgebahrt, kehrt die Kunst im Central Park vergleichsweise preiswert ins wirkliche Leben zurück.
Die orangenen Rechtecke der Gates nehmen die Form der Hochhäuser auf, die den Mitte des 19. Jahrhunderts von Frederick Olmstaed angelegten Park wie eine steinerne Armada belagern - Symbole der Dauer und Intransingenz. Die wehenden Vorhänge nehmen die Bewegung des Windes und des Spazierengehens auf - Symbole des Temporären und Vergänglichen. So werden zwei urbane Grunderfahrungen zu ästhetischen Zeichen abstrahiert und in einen (künstlichen) Naturzusammenhang überführt. Über die weite Fläche des elf Quadratkilometer großen Parks verteilt, hat das Werk dennoch keinen dominanten Fokus. Es muss diese Dialektik von Natur und Kunst, von Erhabenheit und Zerstreutheit, von Zugänglichkeit und Abstand, Vertrautheit und Rätsel sein, die das Ereignis für die begeisterten Besucher von der ersten Stunde an so faszinierend gemacht hat. Dazu ging das Kalkül auf, mit dem satten Safranorange der Vorhänge in dem entlaubten Park einen scharfen Farbkontrast zu erzielen. So schärften sie das Bewusstsein für die Oase eines unreglementierten Alltagslebens. Dem demokratischen Ideal Olmsteads, der Central Park möge ein "Ort der Würde und des Vergnügens für die Massen" sein und den "Geist der Menschen durch seine Imaginationen anregen" war der New Yorker Central Park womöglich noch nie so nahe wie ausgerechnet in diesen kalten Februartagen des Jahres 2005.
Wenn etwas ideologisch klingt an dieser Kunst, dann, wie hartnäckig die Künstler jede Idee weit von sich weisen, ihre Arbeit habe irgendeine politische oder soziale Bedeutung. "You don´t have to talk about it, just walk!", sagte ein sichtlich genervter Christo am Ende der Pressekonferenz auf die bohrenden Nachfragen nach "the meaning" von The Gates. In der Tat: Wer nicht selbst durch eins der fünf Meter hohen Tore lief, konnte das Gefühl nicht verstehen, das sich dabei einstellt. Den Weg durch das Viereck, durch das in Kopfhöhe sanft eine Stoffbahn weht, kann man nicht nur als Symbol für den 25 Jahre währenden Weg dieses Projekts lesen. Er vermittelt auch eine schwer kommunizierbare Passagenerfahrung, die eine Ahnung für den eigenen Lebensweg und das Transitorische aller Existenz weckt.
So kokett, wie die Christos die Diskursseite des ganzen Projekts aber zur quantité negligeable verniedlichen, ist das natürlich ein köstlicher Witz. Allein 1980, ein Jahr nach der ersten Vorstellung des Projekts, bestritten sie 41 öffentliche Hearings und Veranstaltungen, um für ihre Idee zu werben, bevor die Stadt New York ihnen auf 215 DIN A4-Seiten offiziell ihre Ablehnung mitteilte. Wenn man nach einem Beispiel suchte, wie man den Prozess der Realisierung einer Utopie oder Jürgen Habermas´ "Idee des kommunikativen Handelns" prototypisch darzustellen hätte - es fände sich kaum ein besseres als The Gates.
Es ist schon faszinierend, wie noch bei jedem ihrer Projekte der klassische Dreischritt funktioniert. Am Beginn steht eine kühne, am Rande des Unmöglichen angesiedelte Idee, die heftigen Widerstand hervorruft. Es folgt eine Phase hitziger öffentlicher Debatte. Änderungen werden zugestanden: Statt der elftausend Löcher im Boden sollen die Tore auf Stahlsockeln montiert werden. Auf der Gegenseite steht der Fall des konservativen CDU-Politikers und ehemaligen Bundespräsidenten Karl Carstens beim Berliner Reichstagsprojekt für die Kraft der Verwandlung durch den Diskurs. Christo Projekte beschreiben den Weg vom Zweifel zur Euphorie: Am Ende stehen die schärfsten Kritiker von einst auf der andern Seite der ästhetischen Barrikade. Rief 1981 noch ein bekannter amerikanischer Filmemacher: "Herr Christo, haben Sie es wirklich nötig, im Central Park auf 23 Meilen Duschvorhänge aufzuhängen, um berühmt zu werden?", standen 20 Jahre später amerikanische Künstler und Politiker Schlange, um in das Heer der 700 nach dem New Yorker Mindestlohn bezahlten Arbeiter aufgenommen zu werden, das The Gates aufbauen durfte.
Dieser Diskurscharakter der Vorgeschichte wiederholt sich im Projekt selbst. Auch in New York ließ sich in nuce die Konstruktion einer alternativen Öffentlichkeit beobachten. Nicht einmal bei der ziemlich spektakulären Eröffnung des MoMA schaffte die Kunst den Sprung auf die Titelseiten der amerikanischen Tageszeitungen und in die Breaking News der TV-Nachrichten. The Gates schaffte es. Und von der ersten Stunde an nahmen die New Yorker das Projekt, von dem die Künstler steif behaupteten, es sei einzig und allein "for our own pleasure" geschaffen worden, in Besitz. Hochzeitspaare ließen sich unter den Gates fotografieren, Naturschützer nutzten die Stunde, um für ein Autoverbot im Park zu werben. Schwarze Rapper fanden eine ideale Kulisse für ihre atemberaubenden Kunststücke. Genau wie beim Wrapped Reichstag 1995 in Berlin glich das New Yorker Ereignis bei gutem wie bei schlechtem Wetter einem großen ästhetischen Diskurs.
Überall im Park bildeten sich spontan Gruppen und Grüppchen. Sie diskutierten die Farbe der Gates und der Vorhänge: Mal glühten sie von fern aus dem Unterholz wie Feuersäulen, mal glänzten sie im Mittagslicht wie Fischschuppen, mal schimmerten sie im Gegenlicht wie Tücher der Transzendenz. Man tauschte Erinnerungen und Projektionserfahrungen aus. Die Menschen stritten und staunten. Und als es Abend wurde und dunkel, zogen doch alle wie erleuchtet von dannen. Wer miterlebt hat, wie sich nach dem 11. 9. 2001 der amerikanische Blickwinkel gefährlich patriotisch verengte, wird dankbar sein für diese temporäre Bewusstseinserweiterung. Noch vor Jahresfrist sah man weit und breit nur die blau-weiß-roten Stars-and-Stripes-Banner der einzig verbliebenen Hegemonialmacht der Erde. Jetzt dominierten die orangefarbenen Stoffbahnen der ästhetischen Weltbürger. Wie anders soll man das, was sich in diesen Tagen im Herzen der Stadt der Twin Towers abspielte, anders werten denn als Manifestationen einer antiideologischen Diversität und kosmopolitischen Offenheit?
Man muss die Kunst von Christo als letzten großen Triumph der Avantgarde vom Beginn des vergangenen Jahrhunderts lesen. Doch ihre Arbeit unterscheidet sich von der der künstlerischen Heroen der Russischen Revolution grundlegend. Ihre Spätformen ästhetischer Mobilisierung verfolgen eine Art Propaganda ohne Ideologie. Sie sind spektakulär wie Projekte Tatlins oder die Zeichen El Lissitzkys. Doch weder am politisch wie historisch ungleich heikleren Symbol des Berliner Identitätsmöbels Reichstag noch von den New Yorker The Gates klebten Parolen oder Spruchbänder. Und auch Christo oft wiederholte Formel von nichts als "beauty and joy" war keine Ablenkung von den Hässlichkeiten der Welt. Im Gegenteil: Ihr positivistisches Agitwrap schärfte die Sinne für Unterschiede und Nuancen. Die Stoffbahnen, die sich hier wie dort im Wind bewegen und die Farben wechseln, strahlen keine Botschaft ab. Sie sind Übungsfelder chromatischer Differenzierung. Sie bieten Flächen, die man mit den ureigensten Projektionen füllen kann. Zusammen mit den Erinnerungsbildern, die jeder von den Projekten mit sich trägt, wenn sie längst beendet sind, schaffen sie eine Art ästhetischer Nachhaltigkeit.
The Gates sind ein Triumph der Kunst. Christo und Jeanne-Claude haben das 21. Jahrhundert mit einer Utopie für alle in Orange eröffnet. The Gates symbolisieren, dass es sich lohnt, eine Utopie beharrlich zu verfolgen. Dass man sie aber auch den sozialen und ökologischen Bedürfnissen anpassen kann, ohne ihre Kernidee aufzugeben. Wenn es schon eine Botschaft dieses geglückten Projekts gibt, dann heißt sie: Zukunft ist möglich. Sie bringt, was jeder von uns in ihr sieht. Wenn man es wirklich will.
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