Angeln mit einem Mythos

Alleinstellung Lars Brandt hat seltsam wenige Probleme mit dem "Andenken" an seinen Vater Willy Brandt

Nein, er schreibe nicht über sich. Man will es dem freundlichen Mann mittleren Alters, der in diesen Tagen auf Lesereise durch Deutschland tourt, nicht recht abnehmen, wie er jeden Verdacht abwehrt, bei dem Buch über seinen Vater habe die Hoffnung auf späte Selbstfindung Pate gestanden. Dabei hätte der 1951 geborene Sohn Willy Brandts jede Chance auf ein lädiertes Ego gehabt. Schon zu Lebzeiten war sein Vater ein Mythos: Sozialist und Emigrant, Frontstadtkrieger und Friedensfürst, Hassobjekt der Rechten, Schwarm der Linken. Weniger spektakuläre Kontexte haben schon ganz andere Prominentenkinder in den Wahnsinn getrieben. Unfähig, im Schatten der Übergestalt ein eigenes Ich zu entwickeln, gelingt die Loslösung nur im ewigen Ausschlachten des Übermächtigen. Meine liebe Rabenmutter überschrieb Christina Crawford das bitterböse Erinnerungsbuch an ihre Mutter, den Hollywood-Star Joan Crawford. Unabhängig hat sie das nicht gemacht.

Bei Lars Brandt scheint all das keinen bleibenden Schaden hinterlassen zu haben. Nicht, dass es in dieser Familie kein subkutanes Schmerzpotenzial gegeben hätte: "Die Luft war oft so dick, dass man sie schneiden konnte, oder sie war zu dünn zum atmen. Ging es dort irgend jemandem gut? Ich bezweifle es". Der Sohn registriert genau, wie der Vater seine Familie trotzdem gern zur Schau stellte: bei Polizeifesten oder Auslandsreisen. Was empfindet man für einen Vater, den man nur über die Sekretärin erreichen konnte: "Es war immer erst noch etwas zwischen uns", erinnert sich Lars. Nach den Narben dieser Kindheit sucht man trotzdem vergebens in dem schmalen Bändchen. Cool, fast bürokratisch konstatiert Brandt: "Diese Ambivalenz zwischen privaten und beruflichen Absichten war immer gegeben".

Um biografische Bewältigungsarbeit geht es also nicht. Andenken ist weder eine "Abrechnung" à la Peter Weiss´ Abschied von den Eltern oder Christoph Meckels Suchbild. Dass der mäßig bekannte Künstler Lars Brandt, der sich im Klappentext mit der spartanischen Selbstdarstellung: "macht Filme, Texte, Bilder" begnügt, aus dem Nimbus des Vaters kulturelles Kapital schlagen wollte, dürfte als Motiv ausscheiden. Das hätte er früher haben können. Hier öffnet sich auch kein Schlüsselloch in die Dunkelkammern der Macht. Dass Helmut Schmidt auf den Sitzungen des SPD-Präsidiums in seinem Elternhaus gegen die Linken wetterte, hatte man schon gewusst.

Es gibt ein anderes Motiv für dieses Buch. Stets sieht sich der Sohn mit den Bildern von Menschen konfrontiert, die seinen Vater "nie persönlich gesehen haben". Mal war er ihre Projektionsfläche, mal die "Lokomotive ihrer Ambitionen". Seine Methode, diesen Mechanismus zu durchbrechen, schreibt er, sei es immer gewesen, "genau zu sein". Doch eine penible Gegenrechnung zu dem Wust aus Fiktionen und Heldenbildern um Willy Brandt ist sein Buch gerade nicht geworden. Dafür arbeitet sein Sohn zu sehr mit kurzen, surrealistisch anmutenden Bildern. Beim Auszug aus einer von Brandts Dienstvillen auf dem Bonner Venusberg blieb plötzlich ein Staatsgeschenk, eine Ladung Elefantenstoßzähne, herrenlos in der Auffahrt liegen: "angeschwemmte Ladung aus dem Bauch eines gekenterten Schiffs, letzte Ausscheidungen der verschlungenen Eingeweide eines Hauses, das sich aufgelöst hatte."

Andenken fasziniert durch seinen leisen, konzentrierten Ton. Die Mischung aus Miniatur, Aphorismus und literarischer Skizze bringt dem Leser Willy Brandt näher als die 500-Seiten Biographie seiner letzten Frau Brigitte Seebacher-Brandt. Die Pathologie des Politischen enthüllt sich Lars Brandt in unscheinbaren Details. Er erinnert sich, wie in den frühen Berliner Jahren "meinem Vater gelegentlich noch ein Markstück aus der Tasche gefallen war". Diese intime Perspektive verkleinert nicht das politische Phänomen Willy Brandt. Liebevoll, klarsichtig, notfalls gnadenlos porträtiert sein Sohn einen Mann, der "keine Schleimspur" hinterließ, aber gern ein "überflüssiges Geheimnis" um seine Herkunft machte. Und was bedeutet eigentlich die Erinnerung an einen legendären Mann, der privat einen erstaunlichen "Mangel an Anteilnahme" zeigte, öffentlich aber compassion predigte?

Vor allem aber wird man in Brandts experimentellem Kleinod Zeuge jenes erregenden Moments, wo biografische Genauigkeit in Poesie umschlägt: "Ich suchte in seiner unerwartet schneidenden, durch Erde und Äther gefilterten, heller gewordenen Stimme, wie sie mit mir durch die Gegend kutschierte, nach etwas mir wirklich Unbekanntem, Neuem. Wie nah sie war, und wie weit weg" schreibt er einmal, als er, Jahre nach dem Tod des Vaters, bei einer Autofahrt plötzlich dessen gepresste Stimme als Dokumentaraufnahme im Radio hört. Als Brandt-Sohn lebt(e) man immer mit einem Mythos, hinter dem der Vater so verschwindet wie hinter der entrückten Paraphe "V.", die Willy Brandt seinen Kindern auf Notizen hinterließ oder seinen "kulissenhaften Antworten".

Wenn etwas an diesen bemerkenswerten Text stört, dann, wie zielstrebig sein Autor auf Alleinstellung aus ist. In die Gründe für die innere Leere einer Familie, die jahrzehntelang als Modell liberaler Modernität vermarktet wurde, versucht Lars Brandt gar nicht erst einzudringen. Dem Sohn brachte das "Gas elterlicher Präsenz", wie er behauptet, "jede Menge Freiheit". Offenbar hat ihn diese Freiheit wirklich immunisiert gegen (Selbst)mitleid. Er muss nicht nachträglich im psychologischen Nebel stochern. Stattdessen präsentiert er das Exklusivbild zweier verschworener Angelfreunde. Selbst im Wahlkampf trat das ungleiche Duo seine stillen Fluchten aus dem Alltag an. Brandts zweite Frau Ruth, von der sich der SPD-Chef 1980 scheiden ließ, und Lars´ Brüder Mathias und Peter schrumpfen dabei zu gesichtslosen Randfiguren.

Und Lars Brandt stilisiert sich gern zum Intellektuellen. Aufdringlich streicht er seine Distanz zur Politik heraus. Obwohl er Politologie studierte, las er lieber Brecht, Mann oder ging ins Museum. Das Phänomen Masse und Macht jagt dem Verächter des politischen Betriebs aber keine Angst ein. "V. hatte den Mumm und die Selbstliebe dazu", "sich ihm überantworten, bejubeln und benutzen" zu lassen, schreibt er anerkennend über seinen Vater. Am Ende willigt er sogar ein, Reden für ihn zu verfassen. Seine Begründung, ihn habe fasziniert "wie man einen Bühnencharakter weiterdenkt", klingt so plausibel wie vorgeschoben. Schreibt der selbsternannte "Individualist und dadurch Anarchist" doch kurz zuvor: "Für mich zählte der einzelne mehr als jede Menge". Fasziniert von der Macht und doch ihr ewig die kalte Schulter zeigen zu müssen - mit diesem Bekenntnis ist nur ein Intellektueller mehr bei dem ewigen Dilemma seines Berufsstandes angekommen. Er mag weniger Probleme mit einem großen Vater gehabt haben, als man gedacht hätte. Aber wenn es um den politischen Vater geht, schreibt Lars Brandt eben doch über sich.

Lars Brandt: Andenken. Hanser, München 2006, 155 S., 15,90 EUR


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