"Tempo liquido - Flüssige Zeit" - so heißt eine Arbeit des Videokünstlers Fabrizio Plessi. In ein fünf Meter hohes Mühlrad aus rostigem Stahl hat der Venezianer 21 Fernsehmonitore eingelassen. Auf jedem der Bildschirme sieht man das gleiche muntere Bächlein sprudeln. Das Rad insgesamt dreht sich durch einen Strom echten Wassers, der direkt vor dem Mühlrad in einem 18 Meter langen Bett aus Stahl fließt.
Erfunden hat Plessi die "Bilderflut", vor der Kulturkritiker seit einiger warnend die Zeigefinger heben, mit seiner 1993 entstandenen Skulptur nicht. Diese Ehre gebührt dem amerikanischen Bildtheoretiker W. T. Mitchell und dem Basler Kunsthistoriker Gottfried Böhm. Seit 1983 firmiert die Springflut visueller Kommunikation in unseren Lebensalltag unter ihrem Slogan des pictorial oder iconic turn. Aber kaum einer hat ein anschaulicheres Bild dafür gefunden, um was es bei dem eleganten Anglizismus wirklich geht als Plessi: die Überschwemmung unseres Lebensalltags mit immer neuen Bildern, die Verwandlung von Natur in Kunst.
Das Entsetzen, mit der manche Wissenschaftler seitdem eine Zukunft dämmern sahen, in der statt diskutiert nur noch (gefälschte) Bilder angebetet würden, ist einer deutlich nüchterneren Einschätzung der Lage gewichen. So muss man wohl die Stimmung eines Symposiums vergangenes Wochenende im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) über "Das Bild in der Gesellschaft" interpretieren. Auch wenn die Pegelstände der Bilderflut eher weiter steigen. Das Ende der Aufklärung steht - noch - nicht zu befürchten.
Das Stirnrunzeln der frühen Jahre machte sich an Phänomenen wie dem Vormarsch von Computerspielen, dem Einzug von Bildgebungs- und Simulationstechniken in den Naturwissenschaften oder der Inflation von Überwachungskameras fest. Bilder schleichen sich in die scheinbar entlegensten Regionen des Wissens. Stünde die neuere Hirnforschung heute in der Öffentlichkeit auf demselben Podest der Bewunderung, wenn sie nicht mit ihren schönen Chromatographien hausieren ginge? Täglich kommen bizarrere Verbildlichungen hinzu: In den USA kann man seit kurzem "Fernjäger" werden. Der Waidmann sitzt zu Hause auf dem Sofa, beobachtet den äsenden Hirsch in einer Waldlichtung per Kamera und kann ihn virtuell erlegen. Doch statt weiter ewig die "Agonie des Realen" zu bejammern, hat sich die Wissenschaft nach dem ersten Schock mit Visualisierungen wie dieser abgefunden und beginnt das neue Strukturprinzip gesellschaftlicher Kommunikation so präzise wie kritisch zu analysieren.
Größer als die Sorge um immer neue Anwendungsmöglichkeiten von Bildern ist inzwischen eher die Sorge über ihre schiere Masse. Rund 18 Millionen Bilder, so rechnete es der Rektor der "Europäischen Hochschule für das Bild" im französischen Angouleme, Hubertus von Amelunxen, vor, lagern ungesichtet in Berliner Archiven. Kurz vor seinem Tod entdeckte der schweizer Ausstellungsmacher Harald Szeemann 1 Million Aufnahmen in einem bislang unbekannten Bilderkonvolut der Anarchisten.
Historische Delikatessen wie diese sind jedoch nur Peanuts gegen die rund zwei Milliarden Bilder, die in Netzachiven wie dem Internet-Bilderdienst "flickr" frei zugänglich sind - eine von vielen Auffangstationen für die Millionen schnell erzeugter und in sekundenschnelle transferierbarer Handybilder der globalen "Knipserfotografie", die die professionelle Fotographie zunehmend überflüssig macht. Jeder kann sich bei flickr das passende herunterladen, jeder kann hier neue einstellen - 50.000 sind es derzeit angeblich jeden Tag. Jeder Gedanke eines Überblicks dürfte hier zum Scheitern verurteilt sein: "Kontrollverlust" konstatierte der Münchener Medientheoretiker Florian Rötzer in Karlsruhe so ratlos wie unwidersprochen. Niemals in der Geschichte der Menschheit gab es so viel frei verfügbare Bilder, die rund um den Globus gleichzeitig eingesehen und bearbeitet werden können. Bilder sind heute bekanntlich nicht mehr einfach "Bilder" sondern "Rechengrößen".
Dass die Schere zwischen dem Konsum der Bilder und der kritischen Reflektion über sie eher weiter aufgeht, liegt angesichts solcher Dimensionen auf der Hand. Dass diese beängstigende Quantität nun aber schon in eine neue, posthumane Qualität umgeschlagen sei, wollte Horst Bredekamp nicht gelten lassen. Dass in flickr ein Stichwort oder eine ungelenke Graphik, an entsprechender Stelle eingegeben, genügt, um in Sekundenschnelle tausende ähnlich strukturierte Bilder aufzurufen, wollte der Berliner Kunsthistoriker nicht als Argument dafür gelten lassen, dass sich die Bilderwelt zu verselbstständigen beginnt. "Diese Assoziationsfähigkeit des Gehirns hat schon Lukrez in seiner Schrift De natura rerum beschrieben", beschied der Berliner Kunsthistoriker mit einem Hang zur Technikgeschichte lakonisch einen allzu losgelösten Kollegen, der von der Bilderwelt im Internet als "semantischen Raum" schwärmte, die die "Fähigkeit zur Kommunikation" besitze.
Und den Hinweis der Frankfurter Medienforscherin Birgit Richard, dass Enthauptungen vor laufender Kamera in den zeitgenössischen Terroristenvideos den feindlichen Körper allmählich im Bild "auflösten" machte ihn besonders zornig: "Sie können dem Original nicht entkommen" schmetterte der Ritter wider die Derealisierung seiner Kollegin an den Kopf, die sich zu der Schlussfolgerung: "Das Band scheint gerissen" hatte hinreißen lassen. Nicht wirklich falsch war aber ihre Analyse, dass das Motiv zu töten, in solchen Kontexten immer weniger von den politischen Einstellungen des Gekidnappten abhängt, sondern sich aus den Strategien eines globalen Bilderkrieges ableitet: Man tötet, weil man Bilder braucht.
So weit, so real - jedenfalls noch. Ganz wird man einer kleinen, relativierenden Einschätzung von Technikfreak Peter Weibel freilich nicht widersprechen können. Angesichts der Plastizität visueller Simulationen von Krankheitsherden, die heute etwa vor schwierigen Operationen gemacht werden, sprach der ZKM-Direktor von neuen Erscheinungen visueller Darstellung, die "nicht mehr Zeichen aber noch nicht Objekt" sind. Man braucht sich nur im Alltag umzusehen, um feststellen zu können: Ganz offenbar leben wir in einer nicht nur politisch sondern auch ästhetisch äußerst spannenden Übergangszeit.
Wie gefährlich das Eigenleben, das die digitalen Zwitter darin mitunter entfalten, aber werden kann, zeigte Susanne Regener von der Kopenhagener Hochschule für Erziehung. Sie verwies auf den Fall einer dänischen Managerin, die sich eines Morgens in einer unerwarteten Rolle in der Tageszeitung wieder fand. "Kennen Sie diese Frau?" fragte das Blatt und interpretierte ihr Porträtfoto als Beweis für einen ungeklärten Scheckbetrug. Bis heute konnte die Polizei der Frau nicht erklären, wie sie an ihr Foto kam, das sie der Zeitung weitergab. Im Vertrauen auf eine staatliche Instanz hatte diese es kritiklos und ungeprüft übernommen.
Und wie soll man den Fall bewerten, dass zwei amerikanische Tote quasi täglich neu "auferstehen"? 1989 zersägte die US-National Library of Medicine in Maryland in ihrem Projekt "Visible Human Project" den Kadaver eines (zum Tode verurteilten) Mannes und einer bis heute unbekannten, (an Herzversagen gestorbenen) Frau millimeterweise, photographierte die Teile und scannte sie. Hunderte wissenschaftliche und kommerzielle Lizenznehmer in über zwanzig Ländern, Forscher ebenso wie Hersteller von Computerspielen, rufen seitdem die Dateien dieser Menschen auf, prüfen und verwerten sie - digitale Zombies auf ewiger Wanderschaft.
Anonyme "Bilderwanderungen" wie diese zeigen, dass die oft abstrakt beschworene Gefahr der "Enteignung" und der "Entmündigung" in der neuen Bildkultur nicht ganz von der Hand zu weisen, von der Peter Weibel oder der Kunsthistoriker Willibald Sauerländer schon länger sprechen. Das Heil wird allerdings nicht darin zu finden sein, dass man die Bilder verteufelt. Den "Ikonoklasmus der visuellen Wahrnehmung", den Sauerländer noch vor wenigen Jahren lauthals propagierte, erreicht man womöglich auch dadurch, dass man in Zukunft den Umgang mit den Bildern frühzeitig lernt. Die großen Wissenschaftsmagazine in den USA haben nach den vielen Skandalen mit gefälschten digitalen Bildern bereits kunsthistorisch und medientheoretisch geschulte Bildspezialisten eingestellt. Vorboten einer "Bilderpolizei" der Zukunft?
Wer die Gefahr verringern will, dass wir zu fremdbestimmten "elektronischen Ikonodulen" (Sauerländer) mutieren, könnte schon in der Schule beginnen. Nirgendwo ließe sich die in Zukunft unerlässliche Technik der Bilderkennung, Bilddeutung und Bildkritik besser lernen als im (vernachlässigten) Kunstunterricht. Gerade Jugendliche sind süchtig nach Identität und deshalb besonders anfällig für die verlockenden Suggestionen der kommerziellen Bildersprache - von H bis zum "Rebellen"-Kanal bei MTV. In ihrer spontanen Bilderpolitik kopieren sie gern anderweitig vorgegebene Muster wie den hippen Hüftschwung der Skater, den Nike zum sportiven Logo erhoben hat, und stilisieren es zu dem vermeintlich "Eigenen". Von der Grimasse bis zur Selbststilisierung als Gothics, Punks oder sonstwie deviante peer-group machen sie aber auch vor, wie man mit den verteufelten Handys Gegenbilder, Gegenrituale inszenieren kann.
Bildkritik ist die eine Seite der Viskurse der Zukunft, die dem klassischen Diskurs an die Seite treten werden. Wenn "die Linke" in ihnen bestehen will, wird sie aber auch eine intelligente Bildsprache und Bildpolitik benötigen. Das Gruppenbild mit Rosa, wie sie die Führer der Linkspartei jetzt jedes Jahr Mitte Januar an der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Lichtenberg inszenieren wollen, wird da vermutlich nicht reichen.
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