Ich traf ihn in den Bergen. Und er sprach von der Welt. Zum ersten Mal traf ich Hugo Loetscher vor ein paar Jahren in Solothurn, bei den Schweizer Literaturtagen, die dort jedes Frühjahr zu Himmelfahrt stattfinden. Auf Lesungen und Festivals wird die individuelle Stimme vergöttert. Und plötzlich hörte ich in dem mittelalterlichen Landhaussaal des klitzekleinen Barockstädtchens zwei Stimmen. Hugo Loetscher, der Schweizer Autor, im poetischen Dialog mit Jeroen Dewulf, dem Germanisten aus Portugal. Das Wechselspiel von Autor und Interpret, das virtuose Spiel aus Kunst und Analyse, das sie darboten, hat mir damals mehr als viele Untersuchungen klar gemacht, was man abstrakt längst weiß: wie wenig man in der Literatur, wie in jeder anderen Kunst, Produktion und Rezeption voneinander trennen kann. Zwei Jahren später lasen die beiden in Leukerbad, in einem stillgelegten Schwimmbad in den Walliser Bergen. Das hat mich dann nicht mehr gewundert. In seinem Roman Saison von 1995 war das Schwimmbad eine Bühne der feinen Unterschiede - ein Badetheater. Irgendwann einmal wird Hugo Loetscher noch im Stadtbad Oderberger Straße in Berlin-Prenzlauer Berg lesen müssen!
Das sind nun alles mitnichten Schweizer Skurrilitäten. Ein Kritiker hat Loetscher einmal den "kosmopolitischsten aller Schweizer Schriftsteller" genannt. Nicht zu Unrecht. Von einem anderen, jüngeren Schweizer Schreiber, von dem Popliteraten Christian Kracht kann man in seinem berüchtigten Roman Faserland lesen, dass er beim Fliegen und bei Flughäfen das Gefühl der Wichtigkeit und des Erhabenen so schätze. Weltläufigkeit schrumpft bei diesem Autor zur Prätention. Die Welt dient dem blasierten jungen Mann nur als passable Kulisse für den Stil-Dandy. Bei Loetscher, das zeigen nicht nur seine Bücher über Portugal, Brasilien oder Kalifornien ist die Welt wirkliche Erfahrung, Lebenserfahrung. Um 1969 gab er sein Existenz mit sicheren Stellen als Literaturredakteur beim Züricher Tagesanzeiger, der Weltwoche und der Kulturzeitschrift DU auf, um die Welt zu erkunden. Er wurde zu einem der besten Kenner der lateinamerikanischen Politik und Kultur überhaupt.
Jedem der Theoretiker, die heute über Globalisierung reden, sei zur Lektüre Loetschers Werk Wunderwelt - Eine brasilianische Begegnung von 1983 empfohlen. Der Fremde, eine wiederkehrende Figur in seinem Werk, der da durch Brasilien reist, verirrt sich eines Tages durch Zufall in ein Nest in der nordbrasilianischen Provinz. In dem Flecken wird er Zeuge eines Kinderbegräbnisses. Das Bild des kleinen Mädchens in dem schäbigen kleinen Holzsarg lässt ihn nicht los. Er beginnt, dem Kind ein Leben anzudichten, das es nie geführt hat, aber wahrscheinlich geführt hätte. Das Bild von den Lebensbedingungen der einfachen Menschen, das dadurch entsteht, das er aus den Augen eines toten Kindes erzählt, ist ein Requiem für die Namenlosen der Peripherie. Ein Requiem ohne Pathos. Unkonventionell in der Perspektive, getragen von einem Gefühl der Solidarität mit den Verlierern - zärtlich, aber illusionslos genau. Wunderwelt ist eine sozialrealistische Fiktion und zugleich eine frühe Prophetie: "Die Zeichen stehen auf Alarm. Bald wird es überall sein wie im Hafen der Armut: Dort bettelte eine Frau bei einem Händler um ein paar schwarze Bohnen, der aber meinte, wenn sie kein Geld habe, soll sie die Fingernägel kauen; da zeigt die Frau ihre Hände, und es waren keine Nägel mehr dran und kaum mehr Finger, sie hatte sie schon längst ihren Kindern hingehalten."
"Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?" fragte der deutsche Autor Rüdiger Safranski vor Jahresfrist in einem seiner Werke. Allzuviel rasante Globalisierung, das zeigt sich zur Zeit wieder einmal dramatisch, schadet den einfachen Menschen. Aber allzu wenig Globalität bekommt dem Autor nicht. Nehmen wir uns in Sachen Welterfahrung einfach Hugo Loetscher zum Maß: "Nur wer zu Hause bleibt, weiß wie die Welt ausschaut" beschied er einst die Selbstgewissheit der Provinzfürsten aller Nationen.
Man kann mit Hugo Loetscher wunderbar schweizerisch essen gehen in der Züricher Altstadt, nahe dem Hotel Storch, wo er seit Jahrzehnten wohnt und Luftwurzeln geschlagen hat. Doch man lasse sich von dem Corpus der Gemütlichkeit, von der bodenständigen Jovialität Loetschers nicht täuschen. Dieser Mann ist ein Muster an Modernität. Loetscher ist der Autor der Simultaneität. Er vermischt in seinen Werken Reportage und Erzählung, er vermischt Autor, Erzähler und Protagonist. Er wechselt die Perspektiven. Er sieht Identität als Netzwerk. Nirgends hat er das beispielhafter vorgeführt als in seinem Hauptwerk Der Immune von 1975 und dem Nachfolgeband Die Papiere des Immunen 1986, elf Jahre später. Mit seiner Idee von der Dialektik von Weggehen und Bleiben, von Dazugehören und Fremdsein, von Erkenntnis und Darstellung, von der Zweisprachigkeit aus Mundart und Hochsprache hat sich Loetscher als eminent postmoderner Autor gezeigt - Pionier einer umstrittenen Epoche vor ihrer Erfindung. Loetscher hat die Struktur seiner Werke selbst einmal mit dem Brüsseler Atomium verglichen. Für die Megastadt Los Angeles hat er das Bild von der großen, kernlosen Orange geprägt. Und über fünfhundert Jahre nach Galilei muss man offenbar doch noch mal die Konsequenzen eines weltstürzenden Fakts auf den Punkt bringen, die man eigentlich als akzeptiert wähnte: "Globales Denken", schrieb Loetscher jüngst in seinem Aufsatz Im Helvetischen Chatroom, "stützt sich auf die Erkenntnis, dass es auf einer Kugel keinen Mittelpunkt gibt".
Loetscher ist einer der frühesten Autoren der Pluralität, des Nebeneinander und der Ambivalenz. Die Erfahrung von Brasilien hat sein Verständnis von der Hybridität jeder Kultur geprägt. Und er hat es schon vor Jahrzehnten geschafft, all diese heute als Modeworte gehandelten Vokabeln zu einem ästhetischen Erlebnis, nicht zum Codewort einer avantgardistischen Verschwörung zu machen. In jedem seiner Werke will er mit seiner Geschichte auch Das Erzählen erzählen. So lautet der Titel seiner 1999 erschienenen Poetik-Vorlesungen.
In Bezug auf seine Tier-Fabeln hat Loetscher einmal von der "Literarisierung der Moral" gesprochen. An anderer Stelle davon, Moral und Stil zu verbinden. Wir leben, wie allenthalben posaunt wird, in der Endmoräne der Popmoderne. Nun sei wieder die neue Ernsthaftigkeit angesagt. Man darf hoffen, dass alle, die sich jetzt auf diesen undankbaren Stil werfen wollen, um reich und berühmt zu werden, vorher ein, zwei Loetscher-Bücher lesen. Ich kenne nämlich kaum einen Autor, der es geschafft hat, das Weltbewusstsein der Literatur mit der Lust des Autors am Spielerischen und der Ironie so zu verbinden.
Und ich kenne kaum einen Autor, dem es gelungen ist, Ästhetik und Engagement so zu verbinden, dass keines der Elemente das andere erschlägt - wie leider so oft bei der engagierten Literatur. In seinem Werk Abwässer von 1963 beispielsweise sieht man die Welt aus der Perspektive der Produzenten von Exkrementen, eine Stoffwechselfunktion, die alle gleich macht, eine Perspektive von unten. Demokratie und Ästhetik gehen bei Loetscher eine - fast könnte man sagen - bekömmliche Verbindung ein. Bei ihm müssen wir nicht wie bei Martin Walser die Ironiekeule fürchten. Bei ihm lernen wir die lachende Wahrheit schätzen. Hugo Loetscher pflegt die konstruktive Ironie. Literatur ist bei ihm implizite, verpackte" Moral. So unsichtbar wie das schaumbildende Ei in der Zabaione. So locker geschlagen und doch so komplex, eine nahrhafte Luftspeise. Vielleicht ist es diese literarkulinarische Köstlichkeit, die Loetscher der, wie der heimatverbundene Nichtpatriot sagen würde, Literatur deutscher Ausdrucksweise gegeben hat.
Am 22. Dezember ist Hugo Loetscher 75 Jahre alt geworden. So jung möchte man einmal werden, wenn man selbst alt wird. Wer diesen Autor liest, entdeckt einen der zeitgenössischsten Autoren im deutschen Sprachraum. Es ist höchste Zeit für eine Hugo-Loetscher-Renaissance.
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