Ich frage mich, was mit Liverpool passiert wäre, wenn die Beatles nicht passiert wären." Der Taxifahrer sieht die Lage nüchtern. In den Vororten von Liverpool wird es plötzlich unansehnlich. Reihenhäuser aus bröckelndem Ziegelwerk ziehen vorbei, Gardinen gilben hinter blinden Erkerfenstern. Die Straßen sind menschenleer. Die Legende, der der Tourist nacheilt, bedeutet dem alt gewordenen Hippie mit den langen, grauen Haaren nichts. "Ich war nie so für die Beatles", sagt der Mann, der aus Manchester stammt, gelangweilt vor dem berühmten roten Gitter. Strawberry Fields lässt sich gerade noch unter den Graffiti an dem Steinpfosten lesen. Ein Garten, nach dem die Fab Four eine ihrer Platten benannt haben. Aus der Nähe betrachtet sieht wahrscheinlich jeder Mythos so trostlos aus wie dieses verwilderte Trümmergrundstück.
Die Roaring Sixties sind lange vorbei in Liverpool, aber sie dürfen niemals untergehen. Und so betritt, wer die Spuren des Pop in Liverpools Mathew Street sucht, einen Ort von der Authentizität der Drosselgasse im rheinischen Rüdesheim. Der legendäre Cavern Club, ein feuchter Luftschutzkeller, in dem die Beatles am 9. Februar 1961 zum ersten Mal vor 300 Zuschauern aufgetreten sind, hat inzwischen drei Eingänge: einen historischen mit schwarz-weißer Fototapete zum Fotografieren; einen für den 1973 neu aufgebauten Club, über dem eine Neon-Reklame blinkt, und einen dritten für einen neuen Club gleichen Namens auf der anderen Straßenseite. Vor einer John-Lennon-Statue fotografieren japanische Touristen alles, was nach Pop oder Pilzkopf aussieht. Ein Straßenmusiker sägt auf einer Geige und wartet auf den Durchbruch.
Zeitgenössische Musiker meiden den erschütternden Ort. Die Jungs von Apatt, einer Liverpooler Elektro-Band treffen sich auf dem Flachdach eines heruntergekommenen Mietshauses am Rande des Zentrums und experimentieren mit ihren Keyboards. Wer die touristisch geronnene Nostalgie in der Mathew Street nicht aushält, flieht am besten in den Vivienne-Westwood-Laden gleich nebenan. Die Queen of Fashion mit dem schal gewordenen Mythos hat das einzig Richtige getan: ihn in einen genießbaren Aggregatzustand überführt. Rock´n´Roll heißt ihr aktuelles Sommerparfum, ein süßliches Opiat mit einer feinen Note muffigen Viktorianismus´. Eine Form ästhetischen Recyclings abgesunkener Kulturgeschichte, der man auch andernorts Nachahmer wünschte.
Was qualifiziert eine strukturschwache europäische Mittelstadt, für die Dauer eines Jahres zur Kulturhauptstadt Europas ausgerufen zu werden? Die Legenden von einst? Die Utopien von morgen? Oder beides? Man kann die 500.000-Seelen-Stadt am Ufer des Mersey als Mythenmuseum lesen. Liverpool bedeutet soviel wie Tümpel mit Schlammwasser. Aus dem Schlamm eines prähistorischen Urstromtals wuchs der Prototyp der industriellen Stadt, das "Tor zum britischen Empire" und die Metropole des europäischen Sklavenhandels. Wer das Wahrzeichen der Stadt, den goldüberzogenen Liver-Bird auf den viktorianischen Renommierkästen der Cunard-Reederei, der Hafenbehörde und der Royal Liver Line am Flussufer sieht, versteht, warum Daniel Defoe die Stadt einst eines "der Wunder Britanniens nannte". Doch schon einen Kilometer weiter rottet das größte Backsteingebäude der Welt vor sich hin. Heute ist Liverpool eine "schrumpfende Stadt".
Das Missverhältnis von einstiger Größe und heutiger Bedeutung ist in der wenig pittoresken Stadt quasi körperlich zu spüren. Gegen den steinernen Ozeandampfer der anglikanischen Kathedrale auf einem Hügel mitten in der Stadt wirkt der Petersdom wie ein Pfarrhäuschen. Und in der abgetretenen Lounge des Britannia Adelphi Hotels direkt neben dem Hauptbahnhof könnte man problemlos die Jahresversammlung des Commonwealth abhalten, so riesig ist der Saal. Samstags nutzen Inder und Pakistani die Halle mit dem fleckigen Teppich in Bordeauxrot als Hochzeitskulisse.
Liverpool lässt sich aber auch als Labor lesen. Wie in einer Petrischale ist hier der Versuch zu beobachten, sich am Schopf der Kultur aus dem Sumpf einer untergegangenen Epoche zu ziehen. Was im baskischen Bilbao mit Frank Gehrys legendärem Bau für die Dependance des New Yorker Guggenheim-Museum gelungen ist, soll auch in Großbritanniens Nordwesten klappen. Am Rande des alten Hafens baut das dänische Architektenbüro 3XNielsen das neue "Museum of Liverpool", einen kühn ausschwingenden Kasten mit einer Panoramafassade aus Glas, die den Blick auf den Mersey freigibt. Nirgendwo kann man die Ergebnisse des Großversuchs aber besser sehen als in den Albert Docks. In den trutzigen Quaderbauten aus Eisen, Stein und Ziegel - errichtet um ein riesiges Wasserbecken und 1846 von Prinzgemahl Albert feierlich eröffnet - haben die Flaggschiffe der Postmoderne Einzug gehalten. Wo früher das Pumpenhaus war, steht heute ein Ableger der Londoner Tate Gallery und wirbt mit einer Klimt-Retrospektive.
Nicht nur am alten Hafen werden die Fundamente für das postindustrielle Zeitalter gelegt. In die lausige Innenstadt haben die Stadtväter eine funkelnagelneue Shopping Mall gestellt. Liverpool hat eine futuristisch anmutende Schule für Kunst und kreatives Gestalten gegründet. Und die 1996 eröffnete Liverpool-Biennale hat sich zu Großbritanniens wichtigster Schau für zeitgenössische Kunst entwickelt. In der Arbeiterstadt setzt sich langsam ein neuer Geschmack durch. Im stickigen Pub der örtlichen Philharmonie mit den berühmten Porzellan-WCs schlingen die Liverpudlians samstagabends zwischen zwei warmen Bier fettige Fish and Chips aus Plastikschalen herunter. Schräg gegenüber, im neuen Feinschmeckerlokal The London Carriage Works, mutiert der Genuss des britischen Grundnahrungsmittels zur Inszenierung vor Glasskulpturen: Drei auf einer warmen Schieferplatte sorgfältig platzierte Kartoffelkeile krönt eine kostbare Scheibe in Bier marinierten Kabeljaus.
Ob der Aufstieg zum "Zentrum des kreativen Universums" - so die Parole des Kulturhauptstadtjahres - gelingt, muss sich aber erst noch zeigen. Rosig sind die Aussichten nicht. "Schließt Liverpool" - für diese Parole erntete vor kurzem der Tory-Think-Tank "Policy Exchange" einen Sturm der Empörung. In einer Studie kam das konservative Institut zu dem Schluss, die darnieder liegenden englischen Arbeiterstädte im Norden seien nicht mehr lebensfähig und hätten ihre Daseinsberechtigung verloren; die Bewohner sollten besser in den Süden Großbritanniens umziehen. Womöglich haben die neoliberalen Urbanisten die Rechnung ohne die Liverpudlians gemacht. Zwar sind eine Viertelmillion Einwohner in den letzten zwanzig Jahren aus der Stadt geflüchtet. Doch zu der proletarischen Volkskultur, die sich an jedem Wochenende in der Stadt entlädt, gehört auch ein unbändiger Überlebenswille.
Beim Wochenend-Karaoke im Irish Pub neben dem Adelphi steht eine Endsechzigerin auf der knarrenden Holzgalerie. Eine gerüschte Silbergardine bedeckt ihre Brüste nur halb. So wie sie da mit glasigen Augen und zerflossenem Lidschatten vom Bildschirm die Verse von Didos Liebeschnulze White Flag abliest, kann man etwas von der Hartnäckigkeit des Menschenschlags im britischen Nordwesten ahnen. Diese Frau aus Liverpool glaubt daran, dass ihre Zeit noch einmal kommen wird.
Wenn nicht, wird sie untergehen. Die Hand wie Discokönig John Travolta in die dunstige Luft gereckt, wiederholt sie inbrünstig den Refrain "I will go down with this ship and I won´t put up my hands to surrender/There will be no white flag above my top/I´m in love and always will be."
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