Bang-Bang-Berlin

Poetisch Die 4. Berlin Biennale öffnet neue Räume, krankt aber an einer engen Perspektive

Von Mäusen und Menschen. John Steinbecks Erzählung passt wie die Faust auf das Auge unserer Tage. Die beiden Wanderarbeiter Lenny und George, die da in der Zeit der großen amerikanischen Depression übers Land ziehen, haben zwar keine Arbeit, aber einen Traum: eine kleine Farm. Doch die Hand, die diesen Traum erschaffen soll, zerstört ihn schließlich. Ob Mäuse oder Menschen - was der tolpatschige Riese Lenny auch liebevoll anfasst, er zerdrückt es zu Tode. Steinbecks Buch handelt von dem Drama der missglückten Menschlichkeit. Was gut gemeint war, schlägt um in Verderben.

Lennys Hände findet der Besucher in der jüngsten, der vierten Berliner Biennale für zeitgenössische Kunst, die Steinbecks Titel trägt, nicht. Stattdessen drischt ein Mann auf einen Sandsack. Und die Maus, die während dieses Gewaltausbruchs durch ein Plexiglas-Labyrinth huscht, ist eine Ratte. Bruce Naumans Videoinstallation Rats and Bats kann man noch drastischstes Beispiel für die Steinbecksche Metapher lesen. Doch sonst balanciert diese Biennale erstaunlich subtil und poetisch auf dem Kippmoment, wo die Liebe in ihr Gegenteil umschlägt.

Unbedingt zu erwarten war das nicht. Misstrauen begleitete von Anfang an die Idee der drei Kuratoren Massimiliano Gioni, Ali Subotnick und Maurizio Cattelan, sich schon wieder auf einen sattsam bekannten Topos zu stürzen. Ausgerechnet in der Berliner Auguststraße, diesem Paradigma der Verwandlung von Kunst in Lifestyle, von Freiraum in Szeneghetto sollte nun zum dritten Mal der Mythos der kreativen Anarchie von Berlin-Mitte wiederbelebt werden, an den inzwischen nur noch Versicherungskonzerne und Touristen glauben?

Hinter den sympathischen Vokabeln des Dreigestirns von der Reduktion der Teilnehmer und der Konzentration auf einen Ort schwang immer die Gefahr der geistigen Beschränkung mit. Natürlich nervt der Wanderzirkus der internationalen Biennalen, wo sich die immergleichen Kuratoren und Künstler im Zweijahrestakt die Klinke in irgendeiner Metropole in die gut geschmierte Kunsthand geben. Doch die Biennalitis der letzten 15 Jahre hat auch ein neues ästhetisches Selbstbewusstsein der Peripherie von Havanna bis Istanbul befördert. Schien es da angezeigt, den Kopf der "Weltsprache Kunst" nun ausgerechnet in eine lokale Sackgasse zu stecken?

Doch dann ließ der flapsige Ton der Biennale-Macher aufhorchen. Einmal kein Kunstkauderwelsch von strengen Kuratorenhalbgöttern mit Heiner-Müller-Brillen, sondern subversive Ironie in kleinen Dosen von drei Italienern in Parkas und stets verfrorenen Nasen. Ihre fröhliche Guerilla-Attitüde wirkte zwar angesichts der 2,5 Millionen Euro, mit der die Bundeskulturstiftung die bislang mühsam privat finanzierte lokale Initiative plötzlich zum nationalen Ereignis aufdonnerte, ein wenig geborgt. Aber immerhin: Mit dem bis dahin unbekannten Institut einer "Raubgalerie" schienen das Trio den internationalen Kunstmarkt herausfordern zu wollen. Die im Vorfeld der Biennale in der Augustrasse installierte "Gagosian-Gallery" rief den nicht gefragten Namenspatron, den mächtigen New Yorker Kunst-Tycoon auf den Plan - vergebens.

Eine vergleichbare Strecke der Elementarstationen für die Geschichten zwischen Leben und Sterben, die Gioni schließlich aus einer aufwändigen Recherche-Arbeit in Berlin und anderswo destillierten, hätte sich gewiss auch in Marzahn oder Neukölln finden lassen, Berlins klassischen John-Steinbeck-Revieren. Doch gerade im durchgentrifizierten Terrain der Nobelruinen entlang der Auguststraße entfaltet dieses Panorama seine desillusionierenden Reize.

Corey McCorkles schockierend realistische Fotografien einer Geburt in den Kunst-Werken und Berlinde de Bruyckeres mit Pferdefell überzogener Kadaver im Lapidarium des wiederentdeckten Garnisons-Friedhofs markieren die Spanne dieser "ewigen" Kunstthemen. Die flüchtige Zwischenstation zwischen diesen beiden Polen heißt bekanntlich Liebe: Tino Sehgal lässt Paare in dem grandiosen Spiegelsaal des Ballhauses Mitte sich endlos umarmen und drehen - eine somatische Metapher der Liebe wie ein Bild, das die Tanzmarathons der amerikanischen Depressionszeit aufruft.

"Wir schnitzen eine Nische in die Stadt" so hatten die Kuratoren ihr einem Stadtmagazin vorab erklärt. Das klang nun arg abgestanden. Keine Biennale auf der Welt, die sich nicht brüstet, "neue Räume" zu öffnen. Meist sind es dann doch nur coole Locations. Wirklich überzeugend setzte dieses Prinzip vergangenen Herbst Charles Esche auf der Istanbul-Biennale mit dem alten Bürgerhaus Deniz Palas um. Doch dass in Berlin nach Klaus Biesenbachs legendärer Aktion "37 Räume" von 1992 und zwei weiteren Berlin-Biennalen die Kunst noch einmal zum Dosenöffner des Unbekannten und Vergessenen hätte werden können - das war nun eher unwahrscheinlich.

14 Jahre später findet man in den einstigen Kulissen des Umbruchs in drei Privatwohnungen auch wenig mehr als das Kontemplationsbedürfnis diverser Wendeprofiteure: subtile Zeichnungen, filigranes Textil; freilich in einem angenehm antimusealen Kontext: Doch dass dem Areal zwischen Prenzlauer Berg und Hackeschem Markt, Europas lebendigsten Luxus-Kunst-Leichnam tatsächlich noch ein paar Geheimnisse zu entlocken sind, zeigt sich am deutlichsten in der ehemaligen jüdischen Mädchenschule, schräg gegenüber den Kunst-Werken.

In dem historisch kontaminierten Gebäude schlägt das eigentliche Herz der Biennale. Wer das seit zehn Jahren geschlossene Gebäude mit seinen blätternden Lackschichten und vergilbten Tapeten betritt, fühlt sich in die Zeit unmittelbar nach der Wende zurückversetzt. Plötzlich liegen wieder die Schatten der Geschichte über der Designmeile draußen vor der Tür. Was hier Kunst ist und was die Zeit zu Kunst gemacht hat, ist in diesen Räumen schwer zu unterscheiden.

Die Stimmung in dem bedrückend authentischen Ambiente oszilliert zwischen Übermut und Furcht: In Viktor Alimpievs Video Summer Lightings sind Steinbecks Hände die kleiner Mädchen. Man weiß nicht, ob sie aus Angst oder kindlichem Übermut stakkatoartig auf den Tisch trommeln. Mal wird das Motiv der Kindheit melancholisch beschworen wie in Michael Borremans Stummfilm Wright, wo sich ein stummer Mädchenkopf langsam dreht. Mal wird ihr Potenzial zwischen Unschuld und Perversion ausgelotet wie in Nathalie Djurbergs schlüpfrigem Animationsfilm Tiger licking girls butt.

In der alten Turnhalle hat Paul McCarthy seine Installation seinen in der Luft hängenden Bang-bang-room gehängt, dessen vier Türen unmotiviert auf- und zu schlagen; in das Treppenhaus Pravdoliub Ivanov zehn lehmbedeckte Fahnen: Die großen Ideologien der Welt da draußen existieren nur noch als Lumpentücher. Wie die Kuratoren dieses schwierige Haus, eine Mischung aus Geister- und Traumhaus, Zuflucht und Falle, in Szene gesetzt, nirgends einen heiligen Ort konstruiert, zugleich aber nirgends den Respekt vor seiner Geschichte verloren haben, das kann sich sehen lassen in der Geschichte der Biennalen.

Vor dieser Leistung verliert man leicht das große Manko dieser Schau aus dem Auge - ihre enge Perspektive. Sage und schreibe einen Mann aus Südafrika und einen aus Mexiko trifft der Besucher auf dem rund 70 Künstler umfassenden Parcours. "Ich fühle mich erfrischt von dieser Andersheit" kommentierte ironisch Okwui Enwezor, der nigerianische Kurator aus New York, 2002 Chef der letzten Dokumenta, die sich zumindest rühmen konnte, den kolonialen Blick endgültig zu den Akten der westlichen Kunstgeschichte gelegt zu haben, diesen Rückfall in eine europäisch-nordamerikanische Horizontverengung auf hohem Niveau.

Vielleicht hat es damit zu tun, dass die Kunst auf dieser Biennale wieder so poetisch und individualmythologisch auftritt? Erleben wir mit den versponnenen Märchenzeichnungen der Polin Dorotha Jurczak die Vorboten einer Neuen Innerlichkeit? Wer Kai Althoffs und Lutz Brauns zermüllte Wohnung in einem Plattenbau am Ende der Auguststrasse gesehen hat, das klaustrophobische Gelass einer vierwöchigen Wohn-Aktion, könnte das glauben. Doch das Gegenstück zum introvertierten Weltschmerz bietet Pawel Althammer in den Pferdeställen des ehemaligen Postfuhramts. Dort liegt statt der angekündigten Skulptur ein leerer Turnschuh. In einem Brief macht der 1967 in Warschau geborene Künstler, der selbst als Flüchtling nach Berlin kam auf ein Immigrantenschicksal von heute aufmerksam.

Man hätte sich mehr außereuropäische Blicke auf eine friedliche Berliner Straße gewünscht. Wie hätten sie die Erfahrung gestaltet, die der Londoner Künstler Gillian Wearing in seinem beeindruckenden Video Drunk beobachtet? Die Betrunkenen, die da halb herzlich, halb brutal wie in einer Shakespear´schen Tragödie in einem White Cube gegeneinander torkeln, demonstrieren: Von der Menschlichkeit zur Gewalt ist es oft nur ein ganz kleiner Schritt.

Von Mäusen und Menschen. 4. Berlin-Biennale für zeitgenössische Kunst. Noch bis zum 28. Mai 2006. Auguststrasse Berlin, Kurzführer und Katalog, Verlag Hatje Cantz, 10 und 20 EUR; Publikation Checkpoint Charly 12 EUR


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