Gewöhnen Sie sich daran, die Realität für eine Fiktion zu halten". Der Spruch hängt als Ölgemälde in einem neuen Nobelrestaurant in Prenzlauer Berg. Lyotard als Szenephilosophie. Soviel antirealistische Chuzpe macht sich schick in einer Gegend, wo die unüberwindliche Schwerkraft des Vergehenden einen paradoxen Gegenbeweis für die postmoderne These vom Versinken des Wirklichen bildet. Wie die Faust ins Kontor der immateriellen Lebensstilavantgarde, die sich hinter dieser Fassade breit macht, schlägt die Ausstellung, die die französische Kunsthistorikerin Catherine David nicht weit davon in den Berliner Kunstwerken ausgerichtet hat, einem ihrer weiteren Stützpunkte. Schon im Titel "Der Stand der Dinge" behauptet die ehemalige documenta-Chefin trotzig Realität. "We are not in Germinal. We are not shooting films. We want real things", erklärt eine Immigrantin in Südfrankreich, die der Stadtverwaltung auf die Pelle rückt, um eine größere Wohnung für sich und ihre drei kleinen Kinder zu erschreien, in einem Dokumentarfilm.
David wird weiter viel gescholten. Weil sie mit eherner Konsequenz an Kunst als kritischer Gesellschaftsanalyse festhält. Man wundert sich ein bisschen über ihren ungebrochenen Glauben an das "dokumentarische Vorgehen" im Zeitalter der Bildmanipulation. Und verschleiert nicht die Flut der real-life-stories von Big Brother bis zu den Kohl-Memoiren die Realität mehr, als sie sie erklärt? Davids Film- und Videoprojekte riechen zunächst nach Sozialrealismus. "Ihr Intellektuellen habt die Situation nicht realistisch genug gesehen." Das Verdikt der zeitweilig inhaftierten kurdischen Parlamentarierin Leyla Zana in dem Dokumentarfilm Letter to my Enemy des deutschen Filmemachers Andreas Weiss, in dem sie mit der bekanntesten türkischen Journalistin Leyla Umer über die blutige Verfolgung ihres Volkes durch Regierung und Militär streitet, hört sich auch wie eine explizite Aufforderung dazu an die Kunst an. Das weckt zwiespältige Assoziationen. Und verstimmt, weil die bewegenden Bilder von den massakrierten Kurden in der Türkei über landflüchtige Chinesen am Rande der Großstädte bis zum gespenstischen Innenleben in amerikanischen Gefängnissen gleichsam immun sind gegen ästhetische Haarspaltereien. Aber sind sie Kunst? Natürlich braucht man sich nicht zu wundern, wenn sich dort ausdrückt, was die eigentlichen Medien trotz ihres Info-Overkills nicht sehen oder nicht sehen wollen. Die Ausstellung bricht den Blick des eurozentristischen L'art pour L'art auf. Doch schon der fiktive, vom Autor zusammengeschnittene Dialog der beiden türkischen Frauen, die sich real nie getroffen haben, belegt, dass die elf KünstlerInnen nicht naiv dokumentieren, sondern mit einem gebrochenen Realismus spannenden Ambivalenzen der Dinge herauskitzeln.
Kader Attias Fotos algerischer Transvestiten in Paris oder Santu Mokofengs Schwarz-Weiss-Fotos von den Schattenseiten des unabhängigen Südafrika bleiben noch ziemlich nahe dran an ihrem Objekt. Auch wenn schon hier vieles wie Inszenierung wirkt. Doch mit den Fotografien Alejandra Rieras, die die kleinen Dinge auf den großen Schauplätzen wie das Absperrgitter an der New Yorker Stock Exchange ablichtet, fängt man an, anders auf diese Standardbilder zu schauen. Harun Farocki, der brilliante Chronist der rumänischen Revolution hat sein Material aus dem Hochsicherheitsgefängnis im kalifornischen Corcoran mit dem Titel "I thought i was seeing convincts" neu montiert und mit Sentenzen unterlegt. Man kann den Realismus mit realistischen Mitteln verfremden, um seinen doppelten Boden auszuloten. Wie schnell sich verordneter Realismus in eine Fiktion reinsten Wassers verwandeln kann, zeigen die Überwachungsfilme aus dem Libanon, die der Medienwissenschaftler Walid Ra'ad aus Staatsbesitz aufgetrieben hat. Die Sonnenuntergänge anstelle der Menschen, auf die ein (daraufhin entlassener) Techniker die Kameras entlang der Beiruter Strandpromenade gerichtet hat, die während des libanesischen Bürgerkriegs in den achtziger Jahren rund um die Uhr überwacht wurde, verschwimmen zu abstrakten Farbkompositionen. Paola Yacoub und Michel Lasserres Skulptur auf einem Sockel in der großen Halle, eine Metapher auf Blockbildung und Abschottung, wirkt wie ein echter Stein aus der Grenzmauer gegen Israel im Südlibanon, bildet ihn aber nur aus Wachs und Lehm nach. Manchmal kann die Fiktion eben die Realität viel besser erklären.
Stand der Dinge (Teil 1), Kunstwerke Berlin, noch bis zum 4. Februar 2001, working text: 5,- DM
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