Dämonen

Linksbündig In Leipzig schossen sich alle auf Russland ein

Vermittler dringend gesucht. Auf diese Formel könnte man bringen, was sich derzeit im europäisch-russischen Verhältnis anbahnt. Auf der einen Seite mehren sich die beunruhigenden Zeichen in Putins "gelenkter Demokratie", besonders solche gegen kritische Geister. Da war der weltweite Lesetag im Gedenken an die ermordete russische Journalistin Anna Politkowskaja ein ermutigendes Zeichen der Solidarität von Intellektuellen. Auf der anderen Seite mehren sich aber auch die Anzeichen einer unguten Dämonisierung dieses vielschichtigen Landes.

Jüngstes Beispiel war ausgerechnet die Leipziger Buchmesse. Deutschlands größtes Lesefest poliert gern sein Image einer Drehscheibe gen Osten. Seit ein paar Jahren gibt es sogar einen "Buchpreis für europäische Verständigung", der an Autoren und Übersetzer verliehen wird, die den Austausch mit Osteuropa fördern. Doch in diese hehre Absicht mischte sich dieses Jahr ein merkwürdiger Tonfall. Sonst wird bei der feierlichen Eröffnung im Leipziger Gewandhaus gern das Hohe Lied der europäischen Mission Bulgariens, Rumäniens oder der Ukraine gesungen - auch nicht gerade mustergültige Demokratien. Russland jedoch zeigte man dieses Mal den großen Stinkefinger.

Zur Verständigung gehört, dass man deutlich ausspricht, was ihr entgegensteht. Nichts dagegen also, dass der diesjährige Preisträger, der russische Philosoph Michail Ryklin der Festgemeinde noch einmal minutiös schilderte, wie in seiner Heimat eine von ihm konzipierte, religionskritische Kunstausstellung vandalisiert und er und seine Frau juristisch verfolgt wurden. Zumal der Präsident der russischen Duma in der Ehrenloge saß, Chef jener Institution, die den Auftrag zu der bizarren Strafverfolgung gab. Doch was kommt nach der Anklage?

Bei Russland steht die europäische Zivilgesellschaft vor einem ähnlichen Problem wie mit der Türkei. Wie verhindert man, dass trotz notwendiger Kritik an den undemokratischen Zuständen das Land zur Gänze in die Schmuddelecke der europäischen Zivilisation gestellt und damit den Hardlinern überlassen wird? Zwei veritable Intellektuelle wussten in Leipzig keine Antwort auf diese Frage, als von einer neuen "Eiszeit" zu faseln. Wer Ryklins Laudatorin Kerstin Holm, Moskau-Korrespondentin der FAZ zuhörte, musste den Eindruck gewinnen, dass in Russland nichts als der nackte Terror tobt. Sie malte das grobe Bild einer rückständigen Zivilisation mit einer "fadenscheinigen Kulturschicht", hinter der eine brutale Großmacht zum großen Schlag ausholt: "Aus der nach Westen ausgestreckten Hand ist eine mächtig geballte Faust geworden". Abgesehen davon, ob dieses Horrorszenario stimmt. Gerade wenn die "engagierte Öffentlichkeit" dabei so abstirbt, wie Holm es beklagt, hätte man sich dringend gewünscht, zu hören, welche kulturellen Potenziale Russlands man wie stimulieren könnte, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten.

Doch auch der andere Preisträger, der Publizist Gerd Koenen, goss Öl ins Feuer. Der Autor des aufschlussreichen Buches Der Russland-Komplex (Freitag 42/2005) warnte, mit Blick auf die DDR, vor einer Neuauflage der "Freundschaft mit dem großen Bruder". Als ob diese Gefahr in Leipzig drohen würde. Wie anders klang da der Stoßseufzer der deutschen Übersetzerin Friederike Meltendorf, die tags darauf schwärmte, dass sie einmal im Jahr nach Petersburg müsse, um "hier weiterleben zu können". Ihr Wort von der "Seelendusche" in der Heimat Puschkins mag übertrieben klingen, aber es zeigt doch, dass dieses Land auch für Intellektuelle faszinierend bleibt und nicht nur für die Mafia. Angesichts dieser widerstreitenden Russland-Bilder wird klar: Es ist höchste Zeit für einen neuen großen Anlauf im europäisch-russischen Kulturaustausch.

Bis dahin bleibt es Einzelnen vorbehalten, den symbolischen Faden zu dem Land und seiner Kultur nicht abreißen zu lassen. Der deutschen Übersetzerin Swetlana Geier beispielsweise, die in diesem Jahr mit einem der drei Preise der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Als Opfer des Stalinismus hätte sie sich auch andere Betätigungsfelder suchen können. Doch die 83-Jährige lebt für die und in der russischen Kultur. Stundenlang stand die gebrechliche Frau mit schlohweißem Haar und gekrümmtem Rücken vor dem Leipziger Publikum und redete mit geschlossenen Augen über Dostojewski, dessen Romane sie neu ins Deutsche übertragen hat. Sein bislang unter dem Titel Dämonen geführtes Werk hat sie in Böse Geister umbenannt. Das klingt nicht ganz so reißerisch. Ist aber genauer. Welche Differenzierungskraft manchmal in einer einzigen Vokabel liegt.


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