Schon als junger Mensch, im Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren, kam ich zum ersten Mal mit der großen deutschen Literatur in Berührung. Dies war ein Zufall, wohl ein segensreicher Zufall, denn ihm ist es zu verdanken, dass ich schon damals die mich umgebende Welt anders zu beurteilen anfing. Dies war selbstverständlich nicht einfach, um so größer das Verdienst dieser Lektüre. Denn zu dieser Zeit liefen die Deutschen wie Verrückte in Warschau herum.« Spricht hier Marcel Reich-Ranicki? Nein, es ist Andrzej Szczypiorski, der sich an die finsterste Phase der deutsch-polnischen Beziehungen erinnert. Bemerkenswert ist es schon, dass der polnische Schriftsteller, Teilnehmer des Warschauer Aufstands, in seiner Rede vor der Hamburger Bürgerschaft zum 60. Jahrestag des Überfalls der Deutschen Wehrmacht auf Polen, das Faszinosum deutsche Kultur mit seinem Kritiker Marcel Reich-Ranicki teilt.
»Wohin ich kam, war deutsche Literatur« - der Spruch, mit dem der Verlag in diesen Tagen, wo die deutsch-polnische Aussöhnung beschworen wird, breitflächig für die Memoiren des wohl bekanntesten deutschen Literaturkritikers wirbt, macht aus Reich-Ranicki eine Art Ersatz-Bubis, einen assimilierten Vorzeigejuden, der den Deutschen wieder kulturelle Reife attestieren und stolz auf die unbeschadete Seite der deutschen Kulturtradition verweisen darf. Dabei ist seine Autobiographie eines der erschütterndsten literarischen Dokumente über das unbeschreibbare Leid, das Deutsche an ihren Nachbarn begangen haben. Gegen alle diese Tradition. Allein wegen der Schilderungen der Tragödie im Warschauer Getto steht sein Buch in einer Reihe mit den großen literarischen Dokumenten der Holocaust-Literatur.
In dem Moment, in dem sich im Januar 1940 der jüdische Geschäftsmann Langnas in Warschau aufgehängt hat, nachdem ihn ein deutscher Soldat geohrfeigt hatte, wie das nach der deutschen Usurpation Polens täglich passierte, greift der kaum zwanzig Jahre junge Marcel zitternd nach der Brust von dessen Tochter Teofila, genannt Tosia - der ergreifend obszöne Beginn einer unmöglichen Liebe von Todgeweihten, die ein Leben lang hielt. Wie hier der Ineinsfall von Leben und Morden, Liebe und Tod beschrieben wird, ergreifend, knapp, schwulstlos, muss man ohne falsches Pathos oder rituellen Tribut an die Floskelwirtschaft des literarischen Lebens von dem Buch-Ereignis des Jahres sprechen. Von dem sich makabre Einzelheiten ins Gedächtnis brennen. Reich-Ranickis Klatschsucht, die stete Frage: »Was gibt es Neues« ist keine deformation professionelle. Im Getto musste man über alles, auch das unwahrscheinlichste informiert bleiben. Dass sich der Frankfurter Kritiker noch heute zweimal rasiert, ist keine Eitelkeit, sondern war im Getto überlebensnotwendig, um den schwarzen Bartwuchs, an dem die Deutschen den Juden glaubten erkennen zu können, vom Leibe zu bekommen. Ausnahmsweise ist man einmal über den Bestsellerboom dankbar, der jetzt dieses Buch an die Spitzen der Charts spült. Noch scheint nicht alles Erinnerungsinteresse verloren in Deutschland.
Doch neben dem natürlichen Interesse an der eigenwilligen Medienikone erklärt den Erfolg des Buches auch das in dem Werbezitat versteckte Weimar-Syndrom, der Unterton der Ambivalenz, das Bild des janusköpfigen Deutschen - hier Klassik, da Hitler - in dem wenigstens ein Rest von Hoffnung für eine deutsche Kulturzukunft glimmt. Denn in Reich-Ranickis Buch stecken neben den nicht endenden Lobeshymnen auf die deutsche Literatur Beispiele von Deutschen zwischen 1920 und 1944, die sich nicht ohne weiteres mit der These des - im Buch nicht genannten - Daniel Jonah Goldhagen vom »eliminatorischen Interesse« der Deutschen deckt: von den »anständigen« Lehrern seiner, schon vom Nazismus und Antisemitismus überschatteten Gymnasialzeit in Berlin bis zu deutschen Soldaten im Getto, die sich »wie zivilisierte Menschen verhalten« haben. Damit wäscht er die Deutschen nicht rein. Noch Jahrzehnte später, als er bereits Literaturkritiker der FAZ und der Zeit ist, spürt und geißelt der gelernte Außenseiter noch den leisesten Anschein von Antisemitismus oder Ausgrenzung in scheinbar liberalen Redaktionen. Und mit dem ehemaligen FAZ-Herausgeber Joachim Fest, dem Förderer des NS-Relativierers und Auslösers des Historikerstreits, Ernst Nolte, oder mit Martin Walsers Paulskirchenrede rechnet er gnadenlos ab. Doch es ist ein ähnlich unbestechlicher, erinnerungskritischer, wenn auch nicht gleich erbarmungsloser Stil wie der von Ruth Klügers skeptischen Blicken auf die Widersprüche ihrer jüdischen Familie in Wien in weiter leben. Für Ranicki liegt die Wurzel des nationalsozialistischen Übels weniger in einer angeborenen kriminellen Energie der Deutschen, sondern darin, dass »Millionen weggesehen« haben. Trotzdem bleibt offen, welche Schlüsse Reich-Ranicki aus der Gleichzeitigkeit von deutscher Kulturgröße und NS-Verbrechen zieht. Er wird nicht müde, jene »deutsche Gegenwelt« der Kunst zu beschwören, die er in seiner Jugend fand. Dieses Wunderland des Geistes wurde ihm nicht ein für alle Mal unter den Trümmern des Warschauer Gettos begraben. Andere wollten von Deutschland nie wieder etwas wissen. Ruth Klüger kann deutsche Sprichwörter nicht mehr aussprechen, ohne sie sich am Querbalken einer KZ-Baracke zu denken. Aber als Ranicki nach dem Krieg wegen seiner Distanz zum kommunistischen Regime aus dem polnischen Geheimdienst entlassen wurde, bat er die sozialistische Partei ausdrücklich darum, in einem Verlag arbeiten zu dürfen, der deutsche Literatur verlegte. Auch wenn ihn »die Angst vor der deutschen Barbarei«, wie er schreibt, ein Leben lang nicht verlassen habe, hinterlässt er doch den Eindruck, als ließe sich einfach auf diesen Kulturfundus zurückgreifen.
Literatur als Lebensgefühl heißt eines der Kapitel Reich-Ranickis. Schön gesagt. Aber was soll das nun tatsächlich heißen? Sie war für ihn, das ist eine der bestechendsten Erfahrungen dieses Buches, der Katalysator autonomer Geschmacksbildung. Von der Deutschland gegen jede bessere Einsicht bis zu ihrer Deportation nach Auschwitz liebenden Mutter früh mit den Klassikern in Berührung gebracht, steht Reich-Ranicki zu seiner jugendlichen Liebe zum süßlichen Rilke. Oder zur pathetischen Prosa aus Schillers Don Carlos. Ohne Rücksicht auf Konventionen entscheidet er sich und bekennt sich zu seinen Vorlieben. Shakespeares Sturm liebt er bis heute nicht. Zwar macht sich Ranicki keine Illusionen über die ewige Frage, ob Literatur die Welt verbessern kann. Aber mehr als einmal hat ihm diese Liebe doch das Leben in ihr gerettet. Das vernutzte Schlagwort von der Literatur als Lebensmittel gilt bei Reich-Ranicki sogar in dem noch überstrapazierteren Sinne des Überlebensmittels. Jean Amery schreibt in seinem Essay An den Grenzen des Geistes über seine Erfahrungen als KZ-Häftling, dass der Intellektuelle »nicht mehr an die Wirklichkeit der geistigen Welt geglaubt« habe. In Auschwitz stand er »allein mit seinem Geist, der nichts war als barer Bewusstseinsinhalt und sich nicht aufrichten konnte an einer gesellschaftlichen Wirklichkeit.« Gedichte lieferten beim Häftlingsappell, wie Ruth Klüger beschreibt, höchstens ein Rhythmusgefühl, mit dem man sich (beim Appell) höchstens aufrecht halten konnte. Reich-Ranicki dagegen schöpfte, zwar nicht im KZ, aber im Getto, Kraft aus der unsentimentalen Lyrik Erich Kästners. Als er nach der Flucht aus dem Getto von dem polnischen Ehepaar Bolek und Genia versteckt gehalten wurde, halfen ihm und seiner Frau während der dunklen Nächten in dem kleinen Häuschen, in dem man nicht auffallen durfte, die Fabeln der Klassiker von Wilhelm Tell bis Effi Briest. Mit ihnen hielt er seine in ihrer Hilfsbereitschaft schwankenden Helfer bei Laune. Später, nach der Übersiedlung in die Bundesrepublik, ist die Liebe zur Literatur manchmal so groß, dass man die, die man stürmisch liebt, heftig attackieren muss. Und dann flüstern einem die über alles Geliebten, wie der Freund und Helfer Heinrich Böll, »Arschloch« ins Ohr. Reich-Ranicki beschreibt die Einsamkeit des Kritikers, der in den Differenzräumen, die er aufreißt, allein zurückbleibt, ohne Wehmut.
Mehr noch gellt sein Buch von überschwenglichen Fanfarenstößen für die »Liebe zur Literatur«. Dem zeitgenössischen Avantgardeskeptiker geht am Ende dieses Jahrhunderts, da man auf dem Trümmerfeld der Ideen der ganz großen Kunst steht, dieser Überschwang kaum noch über die Lippen. Und trotz des Glücks ob des »extremen«, ja »unheimlichen« Gefühls, das ihn in frühester Jugend bei der Lektüre überwältigt hatte, wird man zunächst nicht recht schlau, was genau der Inhalt dieses Lebensgefühls denn nun ist. Immer wieder drückt er extreme Lebenssituationen in Zitaten der Klassiker aus. Erst wenn Reich-Ranicki gesteht, dass ihn die Lesefrüchte seiner Pubertät, Romeo und Julia oder Madame Bovary darauf gebracht hätten, man könne in der Literatur »sich selber finden«, erkennt man darin einen der letzten großen Versuche, Literatur als verschlüsseltes Leben zu sehen. Die muss sein Ganzes, die großen Gefühle und Kämpfe, die erregende Spanne von Liebe bis Tod abbilden. Die textuelle Coolness der Postmoderne, ihr zynisch-ironischer Umgang mit ästhetischem Spielmaterial, das sich selbst genügt, ist Ranickis Sache nicht. Doch für den überzeugten Atheisten, der die Literatur zu einer Ersatzreligion stilisiert, bleiben seine Kriterien für gute Literatur merkwürdig unklar. Man erfährt mit Blick auf Tucholsky die banale Erkenntnis »dass das Unterhaltsame Belehrend sein kann und dass das Belehrende nicht aufdringlich sein muss«. Ungenau lobt er Wolfgang Koeppens »suggestiven Rhythmus«. An Max Frisch stört ihn zunehmend das »präparierte«, der Verlust an »Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit«. Bei Kästner gefällt ihm die »Authentizität der Alltagssprache«. Zur Totalität kommen nach und nach die Schemen realistisch und erzählen. Mein Leben ist deshalb keine einfallslose Titelverlegenheit, sondern programmatisch: ein epischer Entwurf, mit einer Stimme, die alles im Blick hat. Dass Reich-Ranicki dabei die Geschichte der deutschen Literatur anekdotisch aufarbeitet, sich an berühmten Personen entlanghangelt und nicht strukturell oder stilgeschichtlich, muss bei Memoiren wohl so sein. Da gibt es lustige Funde und Einschätzungen, wie die Martin Walsers als Deutschlands »intelligentester Plaudertasche«. Mit dem Ranicki übrigens das Schicksal des erfolglosen und lethargischen Vaters teilt. Marcel Reich-Ranicki ist längst ein öffentliches Bild, ein massenkulturelles Logo geworden. Zugleich bleibt er doch immer ein archaischer Antityp, der alle paar Wochen wie ein bizarrer Tiefseefisch unberührt von allen Trends aus den Traditionsgründen des Kulturozeans aufsteigt. Doch wer ist dieser eruptive Zeitgenosse wirklich? Trotz aller Offenheit in Punkten wie der kommunistischen Vergangenheit, hat er seine Psyche nicht wirklich offenbart. Verzweifelte Lebenssituationen, wo alles verloren war, gab es nicht wenige. Und doch hat er sich hinter einer Erzählerstimme verschanzt, die das, vor allem im zweiten Teil des Buches auf Distanz hält. Hat er mit seinem lange engsten Freund Walter Jens immer nur über Literatur geredet, hat er sich mit seiner geliebten Frau einmal richtig gestritten? Trotzdem gefällt seine frische, direkte Sprache. Weniger allerdings die Selbststilisierung. Die Nachricht vom Tode Thomas Manns ereilt Ranicki im Urlaub im Strandkorb. Dem in Sachen Liebe sympathisch Ehrlichen, den selbst die ernste Schönheit Ulrike Meinhofs beeindruckt, leuchtet kein Lagunen-Tadzio, sondern eine Ostsee-Blondine: »Der hellblaue Rock, dünn und weit, flatterte hoch« schreibt der vom Todes-Telegramm respektvoll Erschütterte. Na, ja! Das sind so die Nebenwirkungen der Mann-Schwärmerei. Diese Schilderungen der Zeit ab 1958 mit ihrem endlosen name-dropping und der eitlen Selbstbespiegelung gehen einem gehörig auf den Geist. Andererseits zeigt sich hier sein personalistischer, emphatisch-naiver, vorwissenschaftlicher Literaturbegriff am sinnfälligsten.
Doch bei aller strukturkonservativen Haltung - so wie er das Genre popularisiert, eine literarische Massenkultur etabliert und sich am »Publikum« orientiert hat - ist Reich-Ranicki sozusagen der Hilmar Hoffmann der Literatur. Man mag sich über seine zum Automaten leergelaufene Urteilskraft aufregen. Das Autodidaktentum, das manche naserümpfend an ihm loben, war erzwungen. Die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität verweigerte Marcel Reich im Frühjahr 1938 die Immatrikulation als Germanistikstudent. Um so schwerer wiegt sein Verdienst. Wenn jetzt darüber diskutiert wird, wann Polen nach Europa zurückkehren darf, schadet es vielleicht nicht, daran zu erinnern, dass der polnische Jude deutscher Geistesnation dem Land, das ihn demütigte, stigmatisierte, auswies und ihn umbringen wollte, mitgeholfen hat, seine Literatur zurückgegeben.
Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999, 566 S., 49, 80 DM.
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