Eugène Boudin taucht nur am Rande auf. Genauer gesagt: zwei Mal. Ein Paar aus Paris, das im Januar im Hotel St. James in Trouville absteigt, will sich im Nachbarort die Boudin-Ausstellung ansehen. Zwei Kunststudentinnen verspotten ihren Lehrer, er vergrabe sich zu sehr in dem kleinen Küstenort und hänge sklavisch an dem Vorbild Boudin. Es gibt ein paar Anspielungen auf die impressionistische "Schule von Honfleur", auf Claude Monet und Johan Barthold Jongkind, die Weggefährten Eugène Boudins. Das ist es aber auch schon. Fast könnte man meinen, Undine Gruenter wolle es in ihrem letzten Buch Sommergäste in Trouville vermeiden, die Aufmerksamkeit allzu sehr auf den "Impressionisten der ersten Stunde" zu lenken. Kann man von Trouville sprechen und von Boudin schweigen? Kein anderer Künstler hat das kollektive Bild des Seebads an der französischen Atlantikküste so geprägt wie der 1824 geborene Maler. Doch auf eine frappierende Weise ist er präsent in den 15 ungewöhnlichen Erzählungen.
Außenseiter, Melancholiker und Einzelgänger - die traurigen Zeitgenossen, die Undine Gruenter in und um Trouville platziert, waren nicht gerade die bevorzugten Gestalten Eugène Boudins. Der hielt es mit fröhlicheren Figuren. Bekannt geworden ist der Maler durch seine heiteren Szenen vom Strand in Trouville. Boudin kam von der realistischen französischen Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts und ebnete mit seiner plein-air-Malerei dem Impressionismus den Weg. In Hunderten seiner Strandbilder hielt er den historischen Moment fest, in dem die Bourgeoisie sich für das Element Meer, eine neue Körpererfahrung öffnete und den Strand als Bühne für sich entdeckte - damals freilich noch züchtig zugeknöpft.
Ganz anders Undine Gruenter. Die Menschen, die sie heute nach Trouville schickt, interessiert der Strand kaum. Sie streifen in der Nach- und Nebensaison durch die Stadt, picknicken im Hinterland, langweilen sich, haben sich in Hoffnungslosigkeit und Trennungsschmerz eingerichtet oder warten auf den Tod. Das Licht und seine Reflexionen auf dem Meer, das Boudin so liebte, zieht sie nicht an. Sie schauen eher landeinwärts, so wie das Standbild Gustave Flauberts im Zentrum von Trouville. "Das Meer war weit" heißt es in einer Erzählung, es ist "kein Trost und kein Genuß" an einer anderen. Nicht von ungefähr schickt Gruenter in der Erzählung Impasse du Bon Secour einen Junggesellen aus Paris, der sich eine Zweitwohnung am Meer sucht, durch eine Stadt von innen. Strebten Boudins Bürger ins Freie, verkriechen sich Gruenters depressive Kleinbürger. "Es gilt als inhuman, sich den Gegenständen, den Orten zu widmen, wenn nicht die Krone der Schöpfung im Zentrum der Darstellung steht", lässt sie ihren Darsteller ein Bekenntnis zur "Tradition der Leere" ablegen. Bevölkerte Szenerie und Lichtwirkung hier, düstere Sackgassen und entvölkerte Räume da - gerade in der Negativform wird Gruenters sanft morbides Tableau zum zeitgenössischen Spiegelbild von Boudins luftigen Sittenbildern.
Gruenters Arbeiten sind im Zeitalter des icon turn - der Wende zum Bild und der Abkehr vom Text - ein aufregender Versuch, Literatur mit malerischen Mitteln zu betreiben. Sie habe angefangen zu schreiben, um ein bestimmtes Ziegelrot an einer Mauer festzuhalten, hat die Autorin einmal erklärt. Boudin malte unter freiem Himmel erst ein paar lockere Untermalungen auf die Leinwand, deren skizzenhafte Frische Claude Monet faszinierte. Dann vollendete er sie im Atelier. Gruenter setzt auf einen Hyperrealismus. Den Erzählern ihrer Geschichten entgeht keine stockfleckige mittelalterliche Fassade, keine welke Geranie und nicht das längliche Pferdegesicht eines jungen Mannes in der Kneipe. Boudin malte eher den Umriss, den man im Kopf behielt, nachdem man flüchtig auf eine Strandszene schaute, eher ein kollektives als ein individuelles Bild. Vergleichbar sind die ungleichen Künstler aber in dem Nuancenreichtum. Vermochte es Boudin die "tendresses des nuages" so festzuhalten, dass ihn Camille Corot den "König der Himmel" pries, schafft Gruenter einen reichen Mikrokosmos atmosphärischer Stimmungen.
Die 1952 in Köln geborene und im Herbst letzten Jahres verstorbene Frau des Philosophen Karl-Heinz Bohrer, die abseits vom Literaturbetrieb in Paris lebte, ist in den letzten Jahre zu einem Geheimtipp der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur avanciert. Auch Sommergäste in Trouville wurde von der Literaturkritik mit ergebenem Enthusiasmus aufgenommen. Nicht ohne Grund. Denn Gruenter baut faszinierend komplexe Geschichten. Sie bevölkert sie mit eigentümlichen, verwinkelten Charakteren. Selbst dem unscheinbaren Hoteliersehepaar, das sich im neuen Appartement in Trouville auf den verdienten Ruhestand freut, gibt sie in ihrer differenzierten Sprache eine beneidenswert vielschichtige Geschichte mit psychologischem Tiefgang.
Das Meer der Alltagsrequisiten und Stimmungstupfer, in denen sie ihre Geschichten wortreich badet, ist aber nur eine geschickte Tarnung. Schon in ihren früheren Romanen Vertreibung aus dem Labyrinth (1992) und Das Versteck des Minotaurus (2001) hat Gruenter einen raffinierten postmodernen Realismus entwickelt. In ihrem neuen Band kommt er im biederen Kleid konventioneller Genrestückchen daher. Denen allerdings an allen Ecken und Enden der Bauplan ihrer Dekonstruktion eingeschrieben ist. Wie es der erzählerische Zufall so will, ist unser wohnungssuchender Junggeselle Schriftsteller von Beruf. Während er sich ein Appartement nach dem anderen anschaut, überlegt er sich, wie die Geschichte seines Aufenthalts als "Offenes Kunstwerk" beschrieben werden könnte. Hier wird ein Wiedergänger Umberto Ecos durchs verschlossene Gelände geschickt! Vielleicht, so streut der Erzähler noch, könnte sich diese scheinbar so klare Geschichte auch ganz anders entwickeln. Und, so lässt er den Autor räsonieren, wäre es nicht ein gelungener Schluss für eine "moderne" Erzählung, "wenn der Schriftsteller wieder abreiste, ohne sein Ziel erreicht zu haben"?
Den Ausweg aus der geschlossenen Erzählform findet Gruenter dann mit einem ganz anderen Leitbild der Malerei. Schon in der ersten Geschichte stellt sie es unübersehbar heraus: Das kleine Mädchen mit Nickelbrille und steifen Zöpfen, das sich in den letzten Ferientagen in Trouville in der Ville Méridienne langweilt, vor dem Spiegel Posen übt oder allein durch den Supermarkt irrt, fühlt sich magisch von einem Bild René Magrittes angezogen. Am Schluss der Erzählung posiert es wie die tote Nackte auf dem Bild, von der man nicht weiß, ob der Mann im Mantel ihr Mörder ist oder der Gendarm mit Schnurrbart vor dem Fenster. Dieser surrealistische rote Faden zieht sich durch alle Geschichten bis hin zu Claudette, der Kunststudentin. Die schätzt eigentlich mehr Magrittes "phantastisch verfremdeten Realismus" als den "kalkulierten Infantilismus" in dem sie und ihre Freundin sich in der Pariser Kunstszene inszenieren. Nicht zufällig steht auch der Junggeselle gleich am Anfang der Geschichte Impasse du Bon Secour vor einem verschlossenen weißen Gittertor, das "in der Dämmerung leuchtet wie die Grenze zu einem unbetretbaren Teil der Stadt".
Mit dieser unterschwelligen eingewobenen Textur entfernt sich Gruenter noch weiter von Boudins duftigen Idyllen. Fast scheint es, als fürchte sie, mit ihrem Stapel Erzählungen das Schicksal Boudins zu wiederholen, dem Kritiker am Ende wegen seines immensen Ausstoßes an Strandbildern vorwarfen, als "peintre de commerce" harmlose Passepartouts zu produzieren. Doch abgesehen von dem Makel, dass Gruenter ihre ästhetische Programmatik den wehrlosen Protagonisten sehr offensichtlich in den Mund legt: Durch die Falltür, die sie unversehens unter der Normalität öffnet, purzelt man am Ende auch in einen sehr konfektioniert wirkenden Abgrund. Plötzlich steht der Schriftsteller wieder vor einem der leeren Arbeiterhäuser, in dem er schon an einem der ersten Abende ein einsames Kind vor einer erleuchteten Weltkugel erblickt hatte. Diesmal sitzt es vor einem verkohlten Globus - Surrealismus für Touristen. So beunruhigt dieses kunstvolle Buch einer eigensinnigen Autorin seine LeserInnen denn doch nur mit einem - absolut urlaubstauglichen - sanften Schrecken.
Undine Gruenter: Sommergäste in Trouville. Erzählungen. Hanser, München 2003,
216 S., 17,90 EUR
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