Das Prinzip Kiosk

Ironisch Hugo Loetschers Essays zur literarischen Schweiz

Mit den Augen der Touristen, Alpen und Tulpen - neben den Niederlanden ist die Schweiz vielleicht das abschreckendste Beispiel dafür, wie sich ein zählebiges Klischee so verselbstständigt hat, dass die Betroffenen inzwischen vermutlich selbst daran glauben, dass ein einziges Symbol sie ausmacht. Der schweizerische Autor Peter Bichsel hat einmal gespottet, dass seine Landsleute in einer Legende leben, die andere für sie gesponnen haben. Und wie, um ihm recht zu geben, hat jüngst der kanadischstämmige Stardesigner Tyler Brulé, Erfinder des Life-Style-Magazins Wallpaper, das etwas angestaubte Symbol des Schweizer Kreuzes zum neuen Renner im internationalen Markenartikelwettbewerb gemacht. "Die Schweizer" leben nicht nur real in den Alpen, sondern auch metaphorisch: Einerseits ist die Schweiz ein Synonym für alles Hinterwäldlerische, das man Bergbewohnern gern unterschiebt. Gleichzeitig ist das Alpine eine spezifische Denkungsart: Die Alpen sind auch eine philosophische Metapher: für das Beständige, ja Ewige, das Unerreichbare, das Erhabene. Um so fassungsloser nimmt das Publikum dann die Abstürze daraus wahr: Christoph Marthalers Desaster am Zürcher Schauspielhaus etwa oder den Bankrott der Swissair.

Die Versuche, die Blickverengung in Sachen Schweiz aufzubrechen, sind Legion. Meist ist die Korrektur eines Images nur von außen zu erreichen. Dass sie aber auch von innen gelingen kann, dafür gibt Hugo Loetscher das vielleicht beste Beispiel. Wo andere wütend gegen das engstirnige Spießertum anrennen, kehrt der 1929 in Zürich geborene Schriftsteller und Kritiker ohne großes Getöse einfach den Blick um. Natürlich weiß auch Loetscher, dass die Alpen einen zentralen Platz im Imaginationshaushalt der Schweizer und ihrer Literatur haben. Als Loetscher wenige Tage nach Friedrich Dürrenmatts Tod 1990 zur privaten Trauerfeier nach Neuchatel fährt, schaut er vom Arbeitsplatz seines berühmten Kollegen in die Berner Alpen: "seine Alpen, wie Dürrenmatt sagen würde." Doch Loetscher hat eine Sammlung seiner literarischen Essays aus knapp vier Jahrzehnten programmatisch Lesen statt klettern überschrieben. Dem Kompendium hat er einen unveröffentlichten Aufsatz vorangestellt. Darin lässt er die Geschichte der deutsch-schweizerischen Literatur nicht mit Albrecht von Hallers Gedichtband Die Alpen beginnen, sondern 200 Jahre früher, mit den Erinnerungen des Walliser Geißbubs Thomas Platter (1499-1582). Für Loetscher verklärte Haller die Alpen zur antizivilisatorischen Gegenwelt. "Grausig der Fels", sagte Platter und floh sie. Mit den Worten: "I wott id Schuel - ich will in die Schule", zog er nach Basel und brachte es bis zum Professor, Internatsleiter und Druckereibesitzer. Der Perspektivwechsel ist bewusst gewählt. Er soll zeigen: Die Schweiz ist für Loetscher eben auch urbane Intellektualität.

Erst als Kritiker, dann als Autor trug er selbst immer zu diesem intellektuellen Leben bei. Dabei bevorzugte Loetscher nie die Vogelperspektive des entrückten Weltendeuters. Die Perspektive von unten war immer ein Merkmal seiner Literatur und Essayistik. Vielleicht hat Loetscher die kleinbürgerlich-proletarische Herkunft davor bewahrt, der Kunst als Ersatzreligion und dem Künstler als Halbgott zu huldigen. Der Kiosk am Paradeplatz in Zürich ist das Symbol seines Kunstverständnisses. Erotik, Motorsport und große Oper hängen da Blatt an Blatt nebeneinander. Vielleicht hat Loetscher diese Herkunft auch vor jenem hoch gestimmten moralischen Ton verschont, an dem sich Intellektuelle schnell vergreifen. Obwohl selbst ein bekennender Intellektueller von hohen Graden, bleibt er reserviert gegenüber seinesgleichen. "Er hatte nie dazugehört" lässt Loetscher den autobiographisch grundierten Helden seines Romans von 1975 Der Immune sagen. Bei Adolf Muschg, der kürzlich zum Präsidenten der Berliner Akademie der Künste gewählt wurde, macht sich Loetscher über dessen Positionswechsel und Schuldkomplex lustig. Die "erschwerte Verehrung" Max Frischs rühre aus dessen "männerhaftem" Gebaren her. Loetschers Interesse reicht vom schreibenden Bergbauern bis zum marxistischen Kunsthistoriker Konrad Farner. Doch nirgends verfällt er in Idolatrie. Jeden Autor, den er porträtiert, entfaltet er in seinen biographischen und ästhetischen Ambivalenzen. Sanft konfrontiert er Max Frisch mit seinen "patriotischen" Texten aus den fünfziger Jahren. Wie im Intellektuellen, so im Privaten: Der Genießer Loetscher hielt es mehr mit der kulinarischen Geselligkeit des selbstironischen Friedrich Dürrenmatt. "Frisch suchte Jünger, Dürrenmatt hielt Hof. Ich hielt es mit dem Hof." Zu den besten dieser Essays zählt der Text, in dem Loetscher, der geübte Reporter, die private Totenfeier des großen Dramatikers beschreibt. Es mischt sich nicht die leiseste Pietätlosigkeit in den Bericht darüber, wie Charlotte Kerr-Dürrenmatt den Abschied von ihrem Mann theatralisch zum Solo für eine Witwe umfunktioniert.

Wer einmal Hugo Loetscher gelesen hat, kommt von ihm nicht los, kehrt immer wieder zu ihm zurück. Mit jedem seiner neuen Bücher widerlegt er das Vorurteil, die Schweiz sei ästhetisch und intellektuell nicht so ganz satisfaktionsfähig. Hier schreibt ein Weltbürger mit Regionalbewusstsein Essays von gelassener Prägnanz. Loetschers pflegt eine menschenfreundliche Ästhetik: nirgends überhöht, nirgends unter Niveau. Sein Scharfsinn ist ausgeprägt, aber niemals verletzend, er ist frei von modischen Attitüden und doch immer am Puls der Zeit, ein Musterbeispiel geistig-literarischer Beweglichkeit. In Lesen statt klettern wechselt er vom klassischen Essay zum fiktiven Interview, von persönlichen Erinnerungen in einen "helvetischen Chatroom", in dem er eine Diskussion Schweizer Intellektueller simuliert. Der Weltenbummler schreibt nie als lautstarker Ankläger des Prinzips Unbeweglichkeit namens Schweiz, sondern immer als uneitler Statthalter der gezielten Ironie. Loetscher sucht die Aperçus nicht um ihrer selbst willen, in ihnen verdichtet sich eine genaue Beweisführung: "Das war nicht zuletzt gegen ein Land gerichtet, das die Kleinheit als Entschuldigung dafür nimmt, nichts Großes leisten zu müssen und den Nicht-Mut als Bescheidenheit auszugeben", fasst er sein Porträt des "großen Unbekannten der Schweizer Intellektualität", des expressionistischen Lyrikers und Geschichtsphilosophen Adrien Turel (1890-1957), zusammen. Wer den etwas anderen Blick durch die Schweiz auf die Welt und wieder zurück sucht - er blicke durch die Augen Hugo Loetschers.

Hugo Loetscher: Lesen statt klettern. Aufsätze zur literarischen Schweiz. Diogenes, Zürich 2003, 436 S., 22,90 EUR

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