Das Vaterland der Schatten

Doppelter Aussenseiter In ihrem ersten Roman "Alle Tage" übt sich Terèzia Mora in der literarischen Moderne

Wie muss eine Romanfigur heute beschaffen sein? Wie plastisch darf sie aussehen, ohne dass wir sie als biederen Realismus abtun? Wie schemenhaft darf sie aussehen, ohne dass wir das Gefühl haben, ein Phantom zu jagen? Auf der schmalen Grenze zwischen dem klaren Bild und der imaginationsfördernden Andeutung, zwischen Charakterdarsteller und Schlossgespenst ist der erste Roman Terèzia Moras in ein seltsames Vakuum gerutscht.

"In der Welt leben und nicht in der Welt leben. So einer ist er", heißt es gleich zu Beginn von Alle Tage über den Übersetzer und Autor Abel Nema, den drei Arbeiterinnen eines Tages auf einem verwahrlosten Spielplatz im verwahrlosten Randbezirk einer namenlosen Stadt finden. Der Mann ist tot. Kopfüber baumelt er aufgeknüpft an einem Spielgerüst. Ein Anfang vom Ende her, eine Beschreibung vom Nicht-Sein her. Der Auftakt ist stark in dem ambitionierten Buch, für das sich Mora fünf Jahre Zeit gelassen hat. Das könnte ein Tanz auf Messers Schneide werden. Die Zwitterhaftigkeit, die hier aufgerufen wird, birgt ein großes poetisches Potential. Doch statt, dass sie einen produktiv irritiert, treibt sie einen in die Verzweiflung.

In Grenzbereichen ist die 1971 im ungarischen Sopron geborene Schriftstellerin Terèzia Mora zu Hause. Seit 1990 lebt sie in Berlin. In ihrem ersten Erzählband Seltsame Materie von 1999 hat sie die Welten ihrer Imagination noch nahe an ihrer eigenen Herkunft angesiedelt. Dort leben die Menschen an einer zwar unsichtbaren, aber doch bestimmbaren Grenze: in den kleinen verschlammten Dörfern Ungarns am Neusiedlersee, nahe dem Westen, in einer desolaten Welt, wo die Geborgenheit der bäuerlichen Gemeinschaft blitzschnell in Brutalität umschlägt.

Man darf die Wanderbewegung, die der Held ihres neuen Buches macht, nun durchaus als Zeichen für die anhaltende Sogwirkung nehmen, die der Westen auf "den Osten" ausübt. Zwar spielt auch Moras neues Buch auf eine südosteuropäische Grenzgegend an. Doch Abel Nema hat diese Grenze überschritten. Vor zehn Jahren hat er sein auseinanderfallendes Land verlassen. Man ahnt, dass er im Westen lebt. Könnte aber nicht sagen, wo genau. Das ist auch nicht so wichtig. Ein Glück, dass Mora nicht die Liebe zum postsozialistischen Heimatroman kultiviert hat. Und einfach im Westen da weiter macht, wo sie im Osten aufgehört hat. So wie sie von allzu erkennbaren Umrissen der Gestalt und der Geographie abstrahiert, geht es ihr um etwas Grundsätzlicheres und nicht um noch ein schmerzensreiches Ost-West-Grenzschicksal. So nervös, ruhelos und zugleich seltsam abwesend wie Mora selbst oder andere ihren Protagonisten schildern, lebt dieser sonderbare Mann eigentlich in einer imaginären Transitzone.

Diese Wendung zum Allgemeinen ist nun einerseits ein Zeichen der Reifung eines schriftstellerischen Talents, das aus seinen autobiographischen Bezügen herauszuwachsen beginnt. Genau da beginnen aber auch die Probleme. Denn leider konstruiert Mora ihren Nema doch sehr rasch und aufdringlich zum entrückten Prototypus jener Trias aus Heimatverlust, Identitätsbruch und Fremdheit, die zum Merkmal der Post-1989-er-Ära geworden ist. Als sich seine geschiedene Frau Mercedes an Nema erinnert, kam er ihr schon immer wie "ohne Ort" vor, roch sogar "Fremdheit an ihm". Schon als junger Mann macht er sich auf die Suche nach dem Vater, der die Familie verlassen hat, als er zwölf war. Der Mann verliert seine Identität. Sein Pass ist abgelaufen. Der Staat, aus dem er kommt, existiert nicht mehr. Er hat ihn als Deserteur verlassen. Jetzt lebt er in einer Sackgasse am Rande eines herunter gekommenen Industrieviertels. Nirgends kann er bleiben. Überall muss er fortgehen. Kein Wunder, dass dieser Mensch sein Spiegelbild eintreten muss.

Doch als ob dieses Kreuz des ewigen Fremden nicht schon ausreichen würde, muss Abel Nema auch noch schwul sein. Der Grenzgänger wird also zum mehrfachen Außenseiter. Die metaphorische Tünche ist dick aufgetragen in Alle Tage. Dass Nema manchmal etwas riecht und leicht schwitzt, ungewöhnlich hübsch und schweigsam ist, wie Mercedes einmal bemerkt, gibt dieser lebenden Metapher wenig Kontur, mit der er sich gegen seine Zurichtung zum Symbol wehren könnte. Es gibt Ansätze einer individuellen Geschichte: Die große Enttäuschung mit Ilja etwa, seinem Schulkameraden, dem er eines Tages beichtet: "Ich liebe dich!" Der sagt nur lapidar: "Ich weiß" und weist ihn kühl zurück. Er selbst sieht sich manchmal von "Liebe und Hingabe ganz erfüllt". Da flackert etwas von dem Herzblut eines sonst sehr papierenen Mannes auf. Zwar darf er später ab und an ein paar hübsche Knaben aus einer kleinen Schwulenkneipe namens Klapsmühle abschleppen, die ihn dann natürlich beklauen. Richtig leben darf er seine eigene Geschichte aber nicht. Am Ende in einem "Delirium" genannten Kapitel muss er dann eine Art Manifest der Heimatlosen abgeben: "Wovon ich rede, sage ich nun, nicht zu leise, klar, ist mein neues Vaterland: die Scham. Jetzt und hier habe ich den Frieden praktiziert, alle Tage, ja. Und wenn der Preis dafür war, meine Geschichte, also meine Herkunft, also mich zu verleugnen, dann war ich mehr als bereit, diesen zu bezahlen." So vagabundiert er unerlöst zwischen den Welten - der realen und der ihm zugedachten. Und wird am Ende weder als Sinnbild, als Spielfigut noch als Mensch fassbar.

Das klingt nun so, als ob man die scheinbare Klarheit des herkömmlichen Erzählens vermisst. Keineswegs. Es ist ein großes Glück, dass sich Terèzia Mora mit Alle Tage in der Moderne übt. Das ist kein Roman der abgezirkelten Umrisse und Perspektiven. Es gibt kein happy-end, sondern ein ziemlich düsteres Ende. Alle Tage ist ein in vielerlei Hinsicht offenes Erzählprojekt. Korrekturstimmen fallen den wechselnden Erzählerstimmen so oft ins Wort. Auch wenn man mitunter den letzten Anschein eines roten Fadens verliert, so ist man froh über jedes Talent, das den billigen Verlockungen des naiven Erzählens nicht auf den Leim geht. Mora entzieht sich dem literarischen Mainstream, ohne dass diese Haltung zur aufgesetzten Schrulle wird oder zu einer trotzigen Geste der Verweigerung. Trotzdem nervt es, dass man nicht weiß, wohin Abels seltsame Reise gehen soll.

Aus dem Osten führt Mora einerseits eine interessante Gestalt herüber: nicht den unkultivierten Trickdieb, Autoknacker und Turnhosenmacho, sondern den hochbegabten Antihelden. Abel ist von der Realität in die Welt der Kunst gefallen. Nach einem Krankenhausaufenthalt wacht er als Sprachgenie auf und trainiert sich eine "zehnsprachige Zunge" an. Sie schickt den armen Mann aber unmotiviert in zu viele erzählerische Sackgassen. Zum Beispiel in einem Roadmovie: Nach einer undurchsichtigen Mordgeschichte mit den Mitgliedern einer Rockband steht Abel am Ende allein auf einem Kohlfeld. Der kleine Ausflug hat ihm zwar einen Pass mit einem gültigen Visum verschafft. Nun hat er zwar eine neue Identität, aber er benutzt sie nicht. Auch über Abels Beruf, in dem Mora ihre eigene Existenz reflektiert - sie hat bereits Peter Esterhazy und Istvan Orkeny ins Deutsche übertragen und dafür Preise erhalten - erfährt man herzlich wenig. Zu viel ist unausgegoren und unentwickelt in diesem Roman-Labyrinth. Kein Wunder, dass man viele Episoden schnell vergessen hat, kaum, dass man dieses Buch wieder zuklappt.

Es geht einem damit so wie Abels Frau Mercedes mit ihrem Scheinehemann: "Irgendwann hatten sich einfach zu viele Merkwürdigkeiten angesammelt, da geht man besser auf Distanz." Wir sagen es mit einer gewissen Ratlosigkeit: Wer sich gerne über Vitrinen voller Merkwürdigkeiten beugt, in einem Labyrinth verliert oder durch ein Spiegelkabinett der Stimmen und Andeutungen irrt, der wird in diesem Buch auf seine Kosten kommen. Doch auf der Suche nach den Menschen trifft man darin nur auf Schatten, Schemen und Schablonen.

Terèzia Mora: Alle Tage. Roman. Luchterhand. München 2004, 430 S., 22,50 EUR


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