Ich bin immer im Krieg. Ich bin der Krieg." Adolf Hitler steht morgens vor dem Spiegel und ekelt sich vor sich selbst. Das gelbe Gesicht, das "akkurate, borstige Quadrat" des Schnurrbarts. Am liebsten würde er sich den abrasieren. Darf er aber nicht. Er muss wieder "Worte wie Bombenteppiche" streuen, sich "drohend ins Blut der Deutschen eintätowieren." Die täglich neu niederzukämpfende "Angst vor der Lächerlichkeit", die der 1970 geborene Autor Jörg Matheis in seinem Erzählungstückchen Zu Gast bei Hitlers dem Diktator zu Tagesbeginn unterlegt, zeigte eine charakteristische Mischung. Wenn sich überhaupt noch Geschichte in die Stoffe der allerjüngsten Gegenwartsliteratur verliert, dann nur aus der alles bestimmenden subjektiven Perspektive. Der ehrenwerte Versuch des 29jährigen Autors, die Pathologie des Politischen offenzulegen, geriet selbst an den Rand der Lächerlichkeit, so zielstrebig, wie Matheis das Böse des Jahrhunderts banalisierte.
Geschichtsmächtigkeit, Weltoffenheit konnte man mit der Lupe suchen beim diesjährigen open-mike-Literaturwettbewerb der Berliner LiteraturWERKstatt. Der Offenheit und Rap-Motion suggerierende slam!poetry-Titel ist leider nur ein Mogel-Etikett. Drinnen geht es mit einer höchst schweigsamen Jury (in diesem Jahr: Kathrin Schmidt, Arnold Stadler, Birgit Vanderbeke), einem rigiden Zeit- und Auftrittsplan und null Diskussion keineswegs offen zu. Schaden würde es dem von einer literaturbegeisterten, jungen Meute zwei Tage schwer umlagerten Wettbewerb nicht, wenn er Platz liesse für öffentliche Kritik und ein, zwei spontan vorgebrachte Texte.
Sage übrigens einer noch etwas vom Tod der Literatur. Mit über 700, von den sechs Verlagslektoren Thorsten Ahrend, Urs Engeler, Edith-Ulla Gasser, Rebecca Göpfert, Wolfgang Hörner, Lo Lendle auf 24 Wettbewerbstexte heruntergesiebten Einsendungen, hat sich das Textaufkommen binnen Jahresfrist mehr als verdoppelt und den Nachwuchswettbewerb (Höchstalter 35 Jahre) in die erste Reihe der deutschsprachigen Literaturwettbewerbe katapultiert. Die Beliebtheit, die der open-mike bei den allerjüngsten Schreibern beiderlei Geschlechts als mutmasslicher Türöffner für den literarischen Betrieb erreicht hat, steht allerdings in reziproker Relation zur dargebotenen Qualität. Wahrscheinlich ist es dem Alter geschuldet, mindestens aber auch den Zeitläuften, dass die wenigsten Texte die beengte Brust des werdenden Ich so richtig zu sprengen vermochten und alle so brav erzählen, als hätte das Jahrhundert der literarischen Experimente nie stattgefunden. Es herrschte das Handwerk soliden Erzählens. Da ist man schon froh, wenn es einer wenigstens so bösartig gut beherrscht wie Preisträger Michael Stauffer aus der Ostschweiz, 1972 geboren. Der massakrierte mit seinem Text Schwan und Brot, das idyllenverdächtige Literaturthema der Liebe von Mensch zu Tier mit wunderbaren Beispielen von Schwanvernichtung.
Nicht, dass es gar keine Zeitgenossenschaft gäbe. Medien und Gewalt sind häufiger Focus als Geschichte und Politik. Wahrscheinlich erhielt deshalb Almut Tina Schmidt, 1971 in Göttingen geboren und bereits mit Preisen überhäuft, einen der Preise a 3000 Mark für die reichlich überelaborierte Geschichte einer Designerin, die digitale Identitätskosmetik entwirft. Und dass man Geschichte aus der Binnenperspektive erzählen kann, zeigte der dritte Gewinner, der 1970 geborene Jochen Schmidt aus Berlin. Harnusch mäht als wärs ein Tanz - sein unnachahmlich perfiden Leben abgeschauter, grossartiger Dialog zweier Alter in einem Dorf an der Oder, mit Blick auf die polnischen Grenze, war mit weitem Abstand der beste Text. Nicht nur, weil sie sich so unsentimental und boshaft ihrem einstigen Mitbewohner hinterhererinnern, dessen Grasmähen mit frisch geschärfter Sense immer wie Ballett aussah. Wenn dieser Harnusch es im Alter auf seinen Spaziergängen erst nur noch bis zum 1870/71-Denkmal, dann nur noch zu den Russengräbern schafft und schliesslich garnicht mehr aus dem Haus kommt, beschreibt wirklich gekonnt den historischen Radius des Individuums. Doch eine auffallend grosse Zahl von Texten klebte an den Mühen der Individuation. Erste Liebe, erstes Blut: die Menstruation, das, was "ins Klo plätscherte, aber kein Pipi war", kam dreimal vor. Überall suchte man den Ausgang aus der Kindheit. Die Ausflüge pubertierender Mädchen in Mutters BH mit pickligen, blondflaumigen Jünglingen enden da entweder unglücklich oder mit programmatischen Sätzen wie: "Gestern haben wir Himbeersirup ausgetauscht". Am Schluss ihres namenlosen Vorlebens auf dem namenlosen Land, wo im Stammbaum die Frauen fehlen, schaut die Ich-Erzählerin der 1965 geborenen Sybil Volk auf die Quadrate des Stadtplans einer grossen Stadt: "Ich wollte selbst einen Namen haben. Ich wollte weg." Immerhin wollte endlich mal jemand weg aus dem Literaturmagnet Berlin, wie in Anke Stellings Geschichte All you can eat - nach Wiesbaden.
Literatur können aber alle nicht genug fressen. Deshalb ist der open-mike eine Schüssel mit Gärteig. Der treibt noch manche Blase. Prätentiöse Sensibilität a la "In die letzte Zeile lege ich unser Schweigen" ebenso wie schweren Kunsthonig: "Ich lebe. Ich male. Ich werde sterben." Das heilige Pathos, das Gabi Blauert dem Held ihrer Künstlererzählung in den Mund legt, spiegelt das unbedingte Kunstwollen der ganz Jungen, die immer alle im ausgeleierten Pullover, stipendiensicher, aber mit hinreissend unsicherem Augenaufschlag, davon flüstern, "nur noch schreiben" zu wollen und "davon leben zu können". "Malen", spürt Blauerts immer wieder schmerzgeplagter Maler Person plötzlich, "war das Einzige, was half." Aber gerade das mitunter bombastische Quellen mehr oder weniger bedeutungsvoller Zutaten, die ungelenken Mischversuche zu noch nicht ganz durchgebackenen Texte haben ihren Reiz. Mehr als im etablierten Hochleistungsroutinebetrieb kann man hier noch das verzagte, tastende, freudestrahlend übers Ziel hinausgestaltende bei der Suche spüren, das sich erst allmählich zur Sicherheit von Büchner-Preisträgern verdichtet. Der 1972 in Bonn geborene Autor Michael Ebmeyer sagte: "Das Wort wurde Kruste".
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