Deine blauen Augen

Unter Männern Vor siebzig Jahren starb der Begründer der modernen Türkei. Nun sind über Atatürk und seine Frau Latife zwei höchst unterschiedliche Biografien erschienen

Einer ist überall. Ob man in einer Dönerbude am Goldenen Horn in Istanbul steht, ob man in den Designerläden im vornehmen Nisantasi shopt oder beim Traditionskonditor Inci auf Istanbuls Flaniermeile Istiklal nach Baklawa ansteht. Wo man auch geht und steht in der Türkei. Stets schaut den Menschen auf einem Foto ein hoch aufgerichteter Mann über die Schulter.

Mal trägt er eine Lammfellmütze, mal einen Zylinder. Mal Frack, mal Uniform. Stets geht der Blick entschlossen in die Weite. Doch in den herrischen Zügen der Respektsperson sieht man auch Züge eines melancholischen Dandys. Mensch, Stratege, Visionär, General, Salonlöwe - jeder kann sich das Passende aus diesem allgegenwärtigen Gesicht herauslesen. Während Stalin, Lenin und Mao in das Schattenreich der Erinnerung wandern, ist Mustafa Kemal Pascha, genannt Atatürk, der lebendigste Tote in der Ahnenreihe der großen Revolutionäre des 20. Jahrhunderts. Selbst an dem nach ihm benannten Flughafen der türkischen Hauptstadt reißen sich die Touristen die Plakate mit den kolorierten Bildern des stattlichen Staatsmannes aus den Händen. So wie sich diese Ikone in den feinsten Verästelungen des türkischen Alltags festgesetzt hat, gewinnt die abgenutzte Floskel von dem "Übervater" der Türkei einige Plausibilität.

Der Vollkommene

Eigentlich erstaunlich. Denn dem Mann, den man in der Biographie des Bamberger Turkologen Klaus Kreiser kennenlernt, schien dieses Schicksal nicht vorausbestimmt. Der im Winter 1880/81 in Saloniki geborene Mustafa entstammte als Sohn des verarmten Zollbeamten Ali Riza dem, was man heute "bildungsferne" Schichten nennen würde. Zwar zeichnete ihn ein Lehrer an der militärischen Vorschule wegen guter Leistungen in Mathematik mit dem Beinamen "Kemal" aus, was soviel wie Vollkommenheit bedeutet. Aber als Kadett pflegte er mehr die Leidenschaft für Frühling, Liebe und Kahnfahrten als für theoretische Konzepte, wie Kreiser schreibt. Er galt als bildungshungrig, lernte französisch und interessierte sich für Poesie. Doch schon als kaum Zwanzigjähriger hing er einer Leidenschaft an, die ihm knapp fünfzig Jahre später zum tödlichen Verhängnis werden sollte. Am 10. November 1938 starb er an Leberzirrhose."Ich trank aber regelmäßig" zitiert Kreiser aus einem Brief Kemals an einen Freund - kein Stoff für Heldenlegenden also.

Der junge Mustafa passte auch wenig zu den Klischees, die man gemeinhin mit Türken verbindet. Denn er stammt nicht aus dem Anatolien, das er später zum "Kernland" der neuen Türkei machen sollte. Sondern aus einer Provinzhauptstadt Rumeliens, dem südosteuropäischen Teil des osmanischen Imperiums. Das Saloniki Kemals bezeichnet Kreiser wegen seines Vielvölkergemischs als "Turm zu Babel". Aus diesem Humus hätte eigentlich eher ein Prophet der Multikultur hervorgehen müssen als der Begründer eines rigorosen Nationalismus. Der junge Mann, der mit 16 Jahren gegen den Willen seiner Mutter zum Militär ging, hatte auch keine pechschwarzen, sondern rotblonde Haare. Und jeder, der ihm begegnete, war von einem unübersehbaren Merkmal beeindruckt, dem auch 1922 eine 23 Jahre junge Frau namens Latife Hanim erlag, als sie im Haus ihres Vaters in Izmir zum ersten Mal dem legendären General der Befreiungskriege und angehenden Staatschef der Türkei begegnet: "Ich bin zwei schönen blauen Augen begegnet", zitiert die Istanbuler Journalistin Ipek Calislar in ihrer Biografie von Atatürks zweiter Frau aus einem Brief an ihren Onkel.

Wer den aberwitzigen Atatürk-Kult am Bosporus mit seinen Mythen und Legenden kennt, ist dankbar für die nüchterne Akribie, mit der sich Kreiser seinem "Helden" nähert und sich nur auf Quellen verlässt. Die Gründung der Türkei am 29. Oktober 1923 wird in seiner Lesart nicht die Tat eines einsamen Genius. In Atatürks Politik kulminierten weit verbreitete Denkströmungen der damaligen Zeit. Wie viele seiner Zeitgenossen verschlang er den liberalpatriotischen Dichter Namik Kemal. In der Kadettenschule bewegte er sich im intellektuellen Umfeld der Jungtürken, etwa der Geheimgesellschaft "Osmanische Freiheit". In Damaskus und Jaffa gründete der junge Hauptmann 1905 selbst eine mit dem Namen "Vatan" (Vaterland). Sie propagierte die Unverletzlichkeit des osmanischen Territoriums, wandte sich gegen den Interventionismus, mit dem die europäischen Großmächte das zerfallende osmanische Reich unter sich aufteilen wollten, verachtete aber dessen Herrscher wegen ihres Reformunwillens. Auch die Führungsrolle für die osmanischen Türken, die Atatürk schließlich in der neuen Republik durchsetzte, hatten schon die Jungtürken gefordert.

Nach Kemals legendärem Sieg über die Briten an den Dardanellen 1915 wächst dem jungen Kriegshelden in dem Machtvakuum nach dem Scheitern der Jungtürken unter Kriegsminister Enver Pascha die politische Führungsrolle zu. Der energische Analytiker, "dessen Urteile", so Kreiser, "kein Wenn und aber enthalten", spitzte deren Ideen dann radikal zu. Doch zum Kulturrevolutionär, der das alte System, dem er dient, so radikal umstülpt, dass einem noch heute der Atem stockt, mausert sich der Mann, der 1919 die Uniform auszieht, erst nach und nach. Eine Ahnung von dem, was man visionäre Größe nennen könnte, spürt der Leser in dem Moment, wo Kemal nach dem Kongress von Erzurum, einem Vorläufer des ersten türkischen Parlaments, nächstens einem Freund seine geheime politische Agenda ins Tagebuch diktierte: Republik, Ausweisung des Sultans, Verbot von Schleier und Fes, lateinisches Alphabet. Der ließ entgeistert sein Buch sinken und stammelte: "Pascha, Sie neigen manchmal zu Fantasien". Hier sieht man zum ersten Mal jenen "resolute moderniser", dessen Erbe der britische Historiker Perry Anderson kürzlich in zwei brillanten Essays resümierte.

Der Oberlehrer

Das Urteil beider Historiker fällt gemäßigt aus. Anderson spricht von Atatürk als dem personifizierten "moral luck", also dem moralischen Glück eines, dessen Hände von den großen Verbrechen der damaligen Zeit - zufällig - unbeschmutzt geblieben seien. Auch Kreiser sieht Kemal in der Reihe der großen Autokraten des vergangenen Jahrhunderts weniger in der Rolle des Schlächters, der er auch war. Er ließ Verschwörer im Eilverfahren hinrichten, verfolgte Kommunisten wie Nazim Hikmet, führte Krieg gegen die Kurden. Der Historiker verweist aber auf die "breite Kulturschicht" der Jahre 1920-1938. Als prägender sieht er die Rolle des "Oberlehrers", der mit der Landbevölkerung vor der Schiefertafel lateinische Buchstaben paukte. Freilich benennt er auch die Schattenseiten dieses Mannes so deutlich, wie es sich kein türkischer Historiker trauen würde. Kemals Haltung zur Armenierfrage, an deren Deportation in den Kriegswirren 1915 er wohl nicht beteiligt war, sind für den Historiker "von erschütternder Einfachheit". Atatürk hielt das Volk im Südosten für geschichtslos und bestritt vehement dessen Recht auf einen eigenen Staat.

Die Empathie, mit der Kreiser geizt, führt Calislar überreichlich im Biografengepäck. Während der Historiker seinen Helden immer durch das historische Panorama Südosteuropas und des Nahen Ostens wandeln lässt, sieht man bei der Istanbuler Journalistin oft nur das Nächstliegendste. So ist man bei ihr zwar hautnah dabei, wenn ihre "Heldin" Latife Hanim als erste Frau das türkische Parlament betritt, ihrem Mann vor versammelter Mannschaft eine Szene wegen seiner Trunksucht macht und sich um die gestärkten Bettlaken in der Präsidentenvilla Cankaya in Ankara kümmert. In der Unzahl von Anekdoten sieht man aber oft nicht über den historischen Tellerrand.

Es hat etwas von einer feministischen Binsenweisheit, wenn Calislar zu Beginn ihres Buches feststellt: "Latife ist ein unverzichtbarer Teil von Mustafa Kemals Biografie. Wer sich mit Atatürk beschäftigt, muss auch Latife erwähnen". Trotzdem ist die Geschichte Kemals und seiner Frau mehr als eine verunglückte Liebesgeschichte. Denn nirgends kam der grundlegende Zwiespalt der türkischen Gesellschaft zwischen der von oben verordneten Modernität und einer im Untergrund weiterwirkenden Archaik besser zum Ausdruck als in der "Scheidung" der beiden. Kemal trennte sich von der Frau, die seiner Türkei als role-model der Emanzipation dienen sollte, nach der islamischen Tradition: Er verstieß sie. Eine kurze Mitteilung des Präsidialamtes am 5. August 1925, zwei Jahre nach der Heirat, genügte. Latife musste Ankara verlassen.

Um die Hintergründe des Streits, der zur Trennung führte, ranken sich viele Gerüchte. Es muss mehr im Spiel gewesen sein als nur das emanzipierte Auftreten Latifes. Schließlich gehörte zu den Kernstücken der Kulturrevolution, mit der Atatürk das Land seit 1923 überzog, die Gleichstellung der Frau. Kreiser widmet diesem Teil der Kemalschen Reformpolitik ein eindrucksvolles Kapitel. Ob der zeugungsunfähige Mann aber jemals intim mit (s)einer Frau geworden ist - darüber gibt keiner seiner Biografen Auskunft. Das Wort Homosexualität wird zwar nirgends ausgesprochen. Doch Kreiser und Anderson sind sich einig, dass Atatürk kein Mann der Ehe war und sich nur unter Männern wohl fühlte. Seit seiner Zeit als Teenager in der Armee war er durch und männerbündisch sozialisiert. Calislar verweist auf nachgelassene Briefe Latifes, die Aufschluss über den Vorfall geben könnten, der die Trennung auslöste. Doch sie werden in der Türkei als Staatsgeheimnis unter Verschluss gehalten. Nichts darf den Mythos des Republikgründers beschmutzen.

Auf der einen Seite gelingt Capislar mit ihrem Buch eine Art Ehrenrettung der Frau, die bis zu ihrem Tod in Istanbul am 12. Juli 1975 totgeschwiegen wurde und es sich sogar gefallen lassen musste, dass ihr Ex-Mann ihr einen Nachnamen verordnete. Bei Kreiser schrumpft dieses aufschlussreiche Kapitel im Leben Kemals auf eine kurze Episode. Leider liest sich Capislars Buch in seiner Mischung aus emphatischer Parteinahme und naivem Entzücken über weite Strecken wie ein Groschenroman der Marke: Der große Staatsmann und die junge Intellektuelle. Sätze wie: "Zu den wunderbarsten Vergnügungen des Ehepaars gehörten die gemeinsamen Ausritte. Latife tat alles, damit er sich entspannen konnte. Sie fasste die Bücher, die sie tagsüber gelesen hatte, für ihn zusammen und erzählte amüsante Anekdoten" verwandeln das faktenreiche Buch immer wieder in eine feministische Soap-Opera a la turca.

Der Charismatiker

Das persönliche Dilemma Atatürks ließe sich auf den von ihm gegründeten Staat übertragen. Der Republikaner wollte ihn auf die (abstrakten) Prinzipien der westlichen Verfassungstradition gründen. Doch so selbstherrlichwie er ihn "liebte", ist es kein Wunder, dass er dem charismatischen Modell politischer Führerschaft im Sinne Max Webers noch immer mehr entspricht als dem institutionell-rationalen. So gesehen wäre der charismatische Premier Erdogan von der islamischen AKP, der die Türkei heute regiert, ein legitimer Nachfolger seines säkularen Gründervaters. Das Porträtbild Atatürks oder die rote Fahne mit dem weißen Halbmond entfalten noch immer größere Integrationskraft als der Artikel 2 der türkischen Verfassung, der die Republik als "demokratischen, laizistischen und sozialen Rechtsstaat" definiert. Um so spannender wird die Frage: Was passiert mit diesem Land, wenn die Bilder des Mannes mit der Lammfellmütze eines Tages abgehängt werden?

Klaus Kreiser Atatürk. Eine Biographie. Beck, München 2008, 334 S., 24,90 EUR

Perry Anderson Kemalism. After Kemal. London Review of Books, 11./25. September 2008

Ipek Calislar Mrs. Atatürk. Latife Hanim. Ein Porträt. Aus dem Türkischen von Constanze Letsch. Orlanda, Berlin 2008, 272 S., 17,90 EUR

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