Der Geist kehrt wieder

Thor Kunkels aufschlussreicher Roman "Endstufe" Rechte Steilvorlage

Wie bannt man ein Gespenst? In Horror-Filmen kommt man bösen Geistern bekanntlich am besten dadurch bei, dass man sie ans Tageslicht lockt. Vampire, Klopfgeister, Zombies, Racheengel - alle zerfallen sie im hellen Licht des Tages zu Schall, Rauch und böser Erinnerung. Bestenfalls ein Häufchen Asche bleibt auf dem Teppich vor dem Kamin des Spukschlosses zurück. Den ganz hartnäckigen macht man mit Knoblauchzehen oder Holzkeilen den Garaus.

Wenn es mit der Gedankenwelt des Thor Kunkel nur so einfach wäre wie im guten alten Okkultismus. Auf der einen Seite ist man froh, dass sein jüngst skandalisiertes Buch Endstufe endlich das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat. Jetzt kann sich jeder selbst ein Bild machen, ob hier die Freiheit der Kunst gemeuchelt wurde. Doch wohin man auch den Lichtstrahl der Aufklärung lenkt in diesem, von einem unsichtbaren Wahn getriebenen Buch: Zunächst zeigen sich nur die üblichen Verdächtigen, wenn auch in ungewöhnlicher Form. Karl Fußmann, ein junger Karriere-Wissenschaftler von der Abteilung "Insektenabwehr" des Berliner NS-Hygiene-Instituts ist zwar ein schwarz uniformierter SS-Scherge wie sein dandyhafter Vorgesetzter Ferfried Graf Gessner. Doch lieber treten sie als stilbewusste Lebemänner auf. Dann gibt es noch den Weiße-Kragen-Nazi Waldemar Pfister, Lebensborn-Gynäkologe, über dessen Schreibtisch eine riesige Vulva aus Kautschuk schwebt und den braungebrannten Kameramann Aurel Holsten auf einer Lusthütte bei Berchtesgaden. Was diese Typen verbindet, ist, dass Ihnen das NS-System schnuppe ist. Am meisten interessiert sie der Sex. "Zu Leben heißt bumsen" ist ihre Devise.

Solche Romane sind auch in Deutschland nicht verboten. Sie sollten es selbst dann nicht werden, wenn ihre Protagonisten in einem nicht ganz ungefährlichen Nebengeschäft eine Pornofilmfirma namens Sachsenwald GmbH betreiben, mit deren Produkten sie allerlei kriminelle Machenschaften in Nordafrika befördern und sich als kollektiver Triebableiter einer NS-treuen Hure namens Lotte bedienen, die sich auf ihren Hintern den Slogan "Sieg Geil" hat tätowieren lassen.Die frivole Personnage ist nicht der Skandal an diesem Buch. Das eigentliche Gespenst, das der Spiegel in seiner denkwürdigen Vorabverurteilung entdeckt zu haben meinte, existiert tatsächlich. Es versteckt sich aber hinter einem Gerippe namens Rollenprosa. Bei Sätzen wie: "den Unterschied zwischen den Rassen hört man an der musikalischen Gestaltbildung" ist der Autor noch gedeckt. Er lässt eben Nazis wie Nazis sprechen. Doch siehe: Auf Seite 456 wird der literaturkritische Rasterfahnder fündig: "Achtzigtausend Häuser hatte der Führer abreißen wollen, um sein neues Berlin zu bauen - diese Arbeit hatten inzwischen die Alliierten begonnen. Nicht ganz nach Speers Plänen, aber immerhin." Hier spricht kein ekliger Nazi mehr, hier spricht der Erzähler, der den Luftkrieg der Alliierten mit den Bauplänen von Hitlers Reichsbaumeister vergleicht. Vielleicht ist das Kunkel ja nur so rausgerutscht? Daran mag man aber nicht mehr glauben, wenn er wenig später die Russen, die Berlin erobern als vergewaltigende Untermenschen und "Notzucht-Brigaden" mit den "Proteinpistolen im Anschlag" darstellt. Bei Thor Kunkel und Jörg Friedrich dürfen sich Täter wieder wie Opfer fühlen.

Auf der einen Seite ist Kunkels Roman das typische Produkt der umbrechenden Erinnerungskultur. Die Nazi-Diktatur fungiert hier nur noch als Kulisse für eine sexgeile Wissenschaftlerelite. In ihr taucht selbst der Reichsführer SS und "Oberste Hygieniker" Himmler nur am Rande als der Begatter einer eigens für ihn angefertigten Gummipuppe auf. Natürlich ist so eine Szenerie eine Geringschätzung der Rolle, die die Wissenschaft im ganz konkreten Nationalsozialismus gespielt hat. Doch Kunkels Profanisierung der Nazibarbarei ist nur die andere Seite der Ästhetisierung des Holocaust. Mit der generativen Entfernung zu dem Zivilisationsbruch wird der zum Terrain von Wissenschaft und Kunst. Mit wechselndem Erfolg, wie man am Berliner Holocaust-Mahnmal sehen kann. So wie sich Kunkel im Steinbruch Holocaust die passenden Kulissen für sein krudes Gemisch aus Trash, Thriller und Esoterik benutzt, ist das nur der extreme Ausdruck des Erinnerungs-Dilemmas.

Natürlich hat der 1963 geborene Autor dafür eine Erklärung. Thor Kunkel hat nämlich eine Vision. Er will, so rechtfertigte sich der Autor im Frühjahr in einem Interview, die Welt vor einer großen Bedrohung warnen. Diese Bedrohung heißt Biotechnologie. Folgt man der Perspektive von Kunkels Geschichte, war nicht der Nationalsozialismus der eigentliche Betriebsunfall der Geschichte. Sondern der aus der Flasche Kapitalismus entwichene Geist namens Wissenschaft. Das NS-System war nur eine vorübergehende Durchgangsstation, ein "Wirtskörper" für diesen szientistischen Totalitarismus, der nach 1945 keineswegs beendet ist. Karl Fußmann weiß: "Der Geist zieht weiter". Das ist an sich schon eine Geschichtsklitterung ersten Ranges. Doch selbst wenn man Kunkels Intentionen ernst nimmt: Gerade, wem die kritische Botschaft so wichtig ist, der wird sie nicht leichtfertig mit der Bagatellisierung des Nazismus diskreditieren.

In Endstufe geht Kunkel im Übrigen weit über die Genkritik hinaus. Das Buch ist stringent entwickelt und packend erzählt. Ersichtlicht liebäugelt er mit dem Kultbuch a la Oscar Wilde, Curzio Malaparte oder Pitigrilli. Das Programm der Desillusionierung, in dem sich Karl Fußmanns vom brillanten Wissenschaftler zum opiumsüchtigen Bordellero wandelt, gleicht dem des Sensationsjournalisten Tito Arnaudi in Pitigrillis verruchtem Roman Kokain von 1920. Doch abgesehen davon, dass Kunkel mit seinem abgeschmackten Vokabular vom "Fotzenbelichter" bis zum "Barbier-von-Sie-will-ja" nicht annähernd dessen Niveau erreicht. Gegen Ende von Endstufe kann auch die raffinierte, fast dichte Maske aus Rollenprosa und fiktiven Aufzeichnungen den Vorsatz nicht übertünchen, die USA zum legitimen Erbes des NS-Systems zu küren. Dieses "vierte Reich" der jüdisch-kommunistischen Plutokratie ist die "erste nicht-menschliche Zivilisation", die mit Technik und Vergnügungssucht die Welt beherrscht. Die verführerischen Anklänge an die Dekadenzästhetik sind nur die konsumfördernde Verpackung für eine explosive Mogelpackung. "Ich bin vierzig Jahre, ich weiß, was ich schreibe", hat Kunkel in dem Gespräch gesagt. Nehmen wir ihn also beim Wort: Schriller kann man die Nazi-Eugenik nicht reinwaschen. Welcher humane Impuls Kunkel am Beginn dieses Romanvorhabens Pate gestanden haben mag. Spätestens hier verwandelt sich sein voluminöses Traktat in eine Steilvorlage für neurechte Ideologen.

Was in Michel Houellebecqs Elementarteilchen der Nachlass des fiktiven Wissenschaftlers Michel Djerzinski ist, der die "Bedingungen zur Möglichkeit der Liebe" wiederherstellen möchte, sind bei Kunkel Lottes Vermächtnis, die den Zusammenbruch überlebt hat, in den USA zur Tingeltangel-Queen mit NS-Appeal aufgestiegen ist und schließlich als tote Göttin einer rechten Sekte aufgebahrt wird. Ihr unterlegt Kunkel die Vision einer Zukunft, in der der "Eros als geistige Macht gilt" und das "Geld als Statthalter der toten Materie" überwunden ist. Ähnlich wie sein französischer Kollege reanimiert Kunkel die antiwestlichen, antizivilisatorischen und antimaterialistischen Ideologeme der Zwischenkriegszeit. Da kann Rot-Grün noch so viel nachwachsende Rohstoffe fördern. Gegen diese Gespenster scheint einfach kein German Kraut gewachsen.

Thor Kunkel: Endstufe. Roman. Eichborn-Berlin Verlag, Frankfurt am Main 2004, 586 S., 24, 90 E


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