Der Ritus der Liebe

Herzensvögel In Murathan Mungans Erzählungsband "Palast des Ostens" geht es um Zweikämpfe von Liebe und Gewalt

Eine Prinzessin in einem Kristallpalast. Auf einem Berg in siebentausend Grüntönen. Wenn sie die Laute spielt, setzen sich die Nachtigallen auf ihr Instrument. Weil sie den schönen Tänzer der Nomaden nicht heiraten kann, schleicht sich ihr Liebling verkleidet in den Palast. Jeden Abend wenn er der Prinzessin vortanzt, feiern sie Hochzeit. Mit Blicken. Es genügt ihnen, sich sehen zu können: Liebe, ohne sich zu berühren.

Nach einem "Nick Hornby der Türkei" klingt die Geschichte vom Tänzer Muradhan und der Zypressenprinzessin Selvihan eigentlich nicht. So hat eine Schweizer Rezensentin einmal ihren Schöpfer bezeichnet. Der 1955 geborene Murathan Mungan gilt als Kultautor. Er ist einer der meistgespielten Theaterautoren seines Landes, arbeitet als Drehbuchautor, Songwriter und Lyriker. Die Auflage seiner Bücher geht in die Hunderttausende. Bekannte Interpreten reißen sich um seine Texte und Verse. Am Bosporus ist der preisgekrönte Autor so bekannt wie Orhan Pamuk.

Doch weder Schallplatten kommen in seinem jüngsten Erzählungsband vor, noch alternde Musikfans, sondern Volkstänze und Riten. Dass Mungan für sein erstes Buch, das in Deutschland erscheint, Märchen und Sagen unter dem schwer orientalisch anmutenden Titel Palast des Ostens zusammengestellt hat, steht aber nicht im Widerspruch zu seinem Popstatus. Denn das popkulturelle meint bei dem promovierten Literaturwissenschaftler nicht nur die Orientierung an der (angelsächsischen) Musikkultur, sondern auch an der volkstümlichen Form. Wie kaum ein anderer Autor schöpft Mungan aus dem reichen Legendenschatz seiner Kulturen.

Der Rückgriff auf populäre Mythen der vortürkischen Zeit ist in dem Land zwischen Orient und Okzident nicht selbstverständlich und auch heute noch ein Politikum. Mungan ist zwar in Istanbul geboren, aber in Mardin aufgewachsen. Die Stadt im Osten der Türkei verbindet das Land mit Syrien und dem Irak. Hier spricht man auch kurdisch, arabisch und aramäisch. Es hat etwas mit diesen kulturellen Einflüssen zu tun, dass Mungan mit seinem 1980 veröffentlichten Gedichtband Geschichten über die Osmanen einen literarischen Faden zu dem lange Zeit verpönten, kulturellen Erbe der Zeit vor Atatürks Kulturrevolution knüpfte. Der Vielvölkerstaat des Osmanischen Reiches avanciert in der Türkei seit einigen Jahren zu einer Projektionsfläche für neue, multikulturelle Bedürfnisse jenseits der kemalistischen Monokultur.

Wenn Mungan in diese Zeit zurückgeht, dann nicht aus Nostalgie. Das Reich der Sultane, so lässt er den Erzähler in der 1989 erstmals publizierten Geschichte Der Großwesir und sein Bote resümieren, ist "auf Tod und Geheimnis" gebaut. Jeder neue Sultan muss seine Brüder ermorden, um seine Ansprüche auf den Thron zu sichern. Mungan nutzt die Kulisse des plötzlichen Tods von Mehmet dem Eroberer, dem Bezwinger Konstantinopels, für eine eindringliche Skizze der Pathologie der Macht. Der Großwesir versucht, den Tod vor dem Heer geheim zu halten. Er befürchtet einen Aufstand der Janitscharen, der aus der "Knabenlese" entstandenen Elitetruppe des Sultans. Fernab von der Kapitale, mitten im Feld, spürt er das Machtvakuum, in dem "alle um dieses rote Zelt wie argwöhnische Hyänen kreisen". Der Bürokrat sehnt sich nach der "Sicherheit des Palastes". Deshalb entschließt er sich, mit dem Leichnam des Sultans nach Istanbul zurückzukehren, um die zwei rivalisierenden Kronprinzen auf den verwaisten Thron zu rufen. Doch das rettet ihn nicht vor der entfesselten Soldateska, die die Macht an sich zu reißen versucht.

Murathan Mungan ist einer der wenigen Intellektuellen in der Türkei, der offen schwul lebt. Es ist deshalb gewiss kein Zufall, dass sich die Kritik an dem "Imperium der Männer" und der Gewalt der Tradition wie ein roter Faden durch seine Geschichten zieht. Als in seiner Version der türkischen Sage Dumrul und Azrail der islamische Todesengel Azrail auf die Erde kommt, um den Brückenbauer Dumrul vorzeitig aus dem Leben abzurufen, trifft er auf einen Mann, der "ohne Liebe" ist, getrieben von Allmachtsfantasien: "Er betete seine eigene Stärke an. Er denkt, dank ihr liege ihm die Welt zu Füßen". In der Geschichte Ökkes¸ und Cengâver müssen zwei 15-jährige Freunde in einem Dorf einen blutigen Zweikampf absolvieren, um in den Kreis der Männer aufgenommen zu werden. In Binali und Temir kämpfen ein junger Hirte und ein flüchtiger Bandit in einer Höhle. Einerseits ist der Gesetzeslose auf seinen jugendlichen Retter angewiesen, aber dass der auf seine Pistole pisst, schreit nach Rache. Die seltsamen Paare in diesen Geschichten zelebrieren immer einen Zweikampf von Liebe und Gewalt. Jäh geht einer dieser Aggregatzustände in den anderen über. Es macht den Reiz dieser Prosa aus, dass Mungan zeitgenössische Diskurse von Macht, Geschlecht und Körper in das Gewand der traditionellen Erzählformen kleidet und die alten Geschichten so variiert und uminterpretiert, dass sie auf das Heute zielen. Der kammerspielartige Aufbau, das stilisiert Lyrische und die sinnbildhafte Metaphorik dieser Prosa steigert diese Wirkung noch. Wer sich nicht in türkischen Sagen auskennt, liest diese Geschichten wie existenzielle Parabeln.

"Einen Dolchstoß in den Rücken der Freundschaft ... Die ihn erfunden haben, was wollten sie bewahren"? Mit diesen Worten verzweifelt der junge Ökkes¸ an dem Sinn eines atavistischen Rituals. Mungan lässt es offen, ob es dem Jungen gelingt, die barbarische Mutprobe mit Cengâver, der eigentlich sein "Herzensvogel" ist, in einen "Ritus des Herzens"umzufunktionieren. Ausgerechnet dem Todesengel Azrail scheint dann der Ausweg aus dem Kreislauf von Macht und Gewalt zu gelingen. In der Originalfassung muss der mächtige Brückenbauer sterben. Nicht so bei Mungan. Je länger Azrail den Todgeweihten bei der Suche nach einem Freiwilligen begleitet, der für ihn stirbt, um so stärker erliegt er einer irdischen Schwerkraft: "Liebe ist, jemandem, von dem ihr wisst, dass er euch vielleicht nie wird lieben können ... mit großer Opferbereitschaft, mit einer mörderischen Hoffnung zu lieben". Am Ende wird Azrail selbst zum Mensch, lernt das Leben schätzen, lässt Dumrul leben. Glaubt man dem Volksmund im Westen, ist die Liebe eine Himmelsmacht. Aber sie macht sterblich. Davon künden diese funkelnden Juwelen der Erzählkunst aus dem Osten.

Murathan Mungan: Palast des Ostens. Aus dem Türkischen von Birgit Linde und Alex Bischof. Mit einem Nachwort von Börte Sagaster. Unionsverlag, Zürich 2006, 256 S., 19,90 EUR


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