Nichts ist zufällig. Alles hat einen Grund. Kein Autor wählt die Kulisse für einen Roman ohne Bedacht. Warum also lässt ein junger deutscher Schriftsteller, der bislang vor allem am Niederrhein zu Hause war, ein Verwirrspiel der Sinne nicht in Düsseldorf oder New York seinen verhängnisvollen Lauf nehmen? Warum ausgerechnet in Istanbul? Auch in Christoph Peters zweitem Roman Ein Tuch aus Nacht meint man noch Spurenelemente eines überlebten Klischees vom Orient durchzuschmecken, die frappierend an Hugo von Hofmannsthal erinnern, der in seinem euphorischen Vorwort zu den Geschichten von Tausendundeiner Nacht schrieb: "Es ist über dieser Wirrnis von Menschlichem, Tierischem und Dämonischem immer das strahlende Sonnenzelt ausgespannt oder der heilige Sternenhimmel."
Zwar ist das Istanbul, in das Peters eine Gruppe Kunststudenten mit ihrem Professor zu einer Studienreise einfliegt, nicht der luxuriöse, farbenreiche, wie nach einem Schleiertanz sich peu à peu schwelgerisch entfaltende Orient, in dem sich der Orientalismus des 19.Jahrhunderts eine andere Zivilisation als das exotisches Andere konstruierte. In seinem Buch werden wir in ein regnerisches Istanbul im November dieser Jahre entführt. Die Handlung spielt nicht im Harem, unter Eunuchen und Sultanen, sondern zumeist in einer Orient Lounge, der Bar eines durchschnittlichen Touristenhotels, in schmierigen Kneipen oder düsteren Zirkuszelten. Der betörende Orient von einst ist, so empfindet es die Gruppe beim Gang durchs Museum, ein "Dschungel untergegangener Formen". Nur noch "aus der Ferne glich Istanbul der sagenhaften Metropole, die wir hatten besuchen wollen. Minarette, Kuppeln, Türme schimmerten wie mit Gold übergossen." Aus der Nähe besehen wimmelt es in der unwirtlichen Stadt von toten Hunden, verfallenen Häusern und bettelnden Straßenkindern. Hier herrschen nicht Sultane, sondern die Russenmafia, kaukasische Bärenhalter und verdächtige Portiers. Alle kommunizieren unsichtbar miteinander. Als ihre Helfershelfer agiert die Polizei. Und die ganze Stadt liegt unter einer ewigen Glocke aus Lärm.
Orient im Schmuddellook
Das ist kein ganz falsches Bild der Wirklichkeit. Doch so wie der 1966 geborene Autor, der in Karlsruhe Malerei studierte, das durchaus desillusionierende Istanbul von heute zu einem Pandämonium des Zerfalls und des Verbrechens verdichtet - ein Juwelier im Basar will der Hauptperson, dem 28-jährigen Steinbildhauer Albin, mit gegeltem Haar und schwarzen Augen gar wie ein verschlagener "Bilderbuchganove" erscheinen -, könnte man von einem negativen Orientalismus sprechen. Kleidete man früher den Orient in das Gewand des erotisierenden Brokat, muss er heute im abturnenden Schmuddellook kümmern. Über allem leuchtet aber auch hier das Sternenzelt - etwa wenn die oft betrunkene Gruppe mit der Fähre den Bosporus überquert.
Latent kriminell, im Stadium fortschreitender Dezivilisierung - so missmutig einen diese Instrumentalisierung des "Orients" als Negativkulisse macht, so sehr frappiert dieser Autor aber durch dessen positive Anverwandlung. Ost und West, Orient und Okzident, Vor- und Postmoderne, so viel sollte man schon vorab sagen, sind sich trotz des drohenden clash of civilizations womöglich doch näher als man glaubt. Und zwar nicht nur wegen des lebendigen Phantasmas Bin Ladin. Aber eins nach dem anderen: Die Geschichte erzählt davon, wie Albin, der verkrachte Steinbildhauer und Alkoholiker, glaubt, einem Mord auf die Spur gekommen zu sein. Während seine Freundin, die ihn zu der Reise überredet hat, um ihre gefährdete Beziehung zu retten, in ihrem Zimmer im Hotel unter der Dusche steht, sieht er im gegenüberliegenden Hotel einen Edelsteinhändler namens Miller, mit dem er am Abend zuvor noch in der Bar Whiskey getrunken hat, von einem Schuss getroffen auf die Glasscheibe seines Frühstückstisches sinken. Albin rennt in das Hotel. Doch der undurchsichtige Portier dort behauptet steif und fest bis zum Schluss des Buches, dass es keinen Gast namens Miller im Hotel gäbe. Zurück im Zimmer, glaubt Albin auch seine Freundin nicht.
Christoph Peters hat Erfahrung mit, oder soll man sagen Lust an mysteriösen Fällen, die im Nebel des Unaufgeklärten verbleiben. Schon in seinem ersten Roman Stadt Land Fluß von 1999 (Freitag 13/99) bleibt am Ende in der Schwebe, ob der Kunsthistoriker Thomas Walkenbach nicht selbst für den Tod seiner Freundin Hanna, der Zahnarzthelferin, verantwortlich ist. Und auch Peters zweiter Roman ist wieder eine postmoderne Übung in Desorientierung. In Stadt Land Fluß ließ ganz brav ein Ich-Erzähler namens Walkenbach die Geschichte einer gefährdeten Liebe Revue passieren. In Das Tuch aus Nacht steuert Peters die Istanbul-Reise aus zwei differierenden, höchst fragilen Perspektiven. Zum einen erzählt Albin die Geschichte aus der Ich-Perspektive im Moment des Geschehens. So erlebt man den vermeintlichen Mord und die sukzessive Trennung Livias und Albins hautnah mit. Die Reise als Beziehungstherapie schlägt fehl, Livia verliebt sich in den mitreisenden Fotografen Jan und betrügt Albin. Doch wirklich dran am Geschehen ist der Leser doch nicht. Von Albin erfährt man nämlich, dass er eine "krankhafte Phantasie" hat und allen Leuten ständig Lügengeschichten erzählt. In seinem inneren Monolog des Trinkers überlagern sich auch zunehmend Traum, Wahn und Realität. Gegen Albins Wahrnehmung steht eine Perspektive ex post. Im zweiten Strang erzählt der Kunststudent Olaf die Geschichte. Er erzählt sie im nach hinein und auch nur so, wie er sie von Albins Freundin Livia erzählt bekommen hat. Da aber der Mord zu einem Zeitpunkt passiert ist, als der Rest der Gruppe, Olaf inklusive noch nicht in Istanbul war, schränkt Olaf seinen Bericht gleich mit den Worten ein, dass er für diesen Zeitpunkt "auf ihre Einschätzung angewiesen" war. Eigene Anschauung oder Informanten - die Wahrheit stammt immer aus zweiter Hand!
Schon mit diesen zwei suspekten Erzählstimmen ist also alles auf Ungewissheit angelegt. Und Satz um Satz unterminiert Peters die Glaubwürdigkeit aller Fakten weiter. Gelegentlich streut er Hinweise aus der neueren Hirnwissenschaft ein, wie den "gefluteten Hirnzellen", die "keine Informationen mehr festhalten" können oder medienkritische Partikel wie "vermittelte Realitäten". Schnell wird klar: Peters treibt das Interesse an der Unschärfe. Nicht umsonst sind zwei Fotografen im Spiel, die über den Bildhauer, den Protagonisten der untergehenden klassischen Kunst triumphieren. Nicht umsonst überlagern sich immer wieder die Bilder aller Protagonisten wie im Gegenlicht. Als Albin auf einem Russenmarkt wildfremde Leute mit dem Namen Miller ködert, scheinen die den Mann plötzlich zu kennen. Doch der erneut befragte Portier flüstert ihm im Hotel suggestiv zu: "Vielleicht haben sie einen Dschinn gesehen". Am Ende weiß der Lesende selbst nicht mehr, was passiert ist und was nicht. Alle Wahrnehmung ist Einbildung, Trug, Doppelbelichtung!
Schon diese, jede lineare Gewissheit ad absurdum führende Verknüpfung von zwei gegenläufigen Erzählfäden lässt sich als literarische Anverwandlung orientalischer Knüpfkunst bezeichnen. Doch was ihm in der Struktur gelingt, schafft er auch bei den Motiven. So oft, wie Albin die Stadt als einen Teppich bezeichnet, der sich immer weiter ausdehnt, kann man schließen, dass Peters das endlose Wuchern der Motive scheinbar ohne strenge Richtung der islamischen Kunst zum Vorbild seiner literarischen Textur hat. Peters hat einen Teppich aus falschen Zeichen gewoben, aus dem es keinen Ausweg gibt. Jede verdächtige Bewegung eines Passanten, jeder unmotivierte Wimpernschlag eines Polizisten wird plötzlich zu einem verborgenen Signal. Die Geschichte wie die Stadt weiten sich zu einem unentrinnbaren Labyrinth von falschen Spuren. Selbst Livia und der Professor, die sich zunächst nicht weiter um Albins Räuberpistole geschert hatten, geraten nach dem plötzlichen Verschwinden Albins in diesen Sog.
Traum, Wahn, Realität
Und doch hat dessen Tod womöglich viel weniger mit dem ominösen Mord zu tun, als alle annehmen. Sondern viel mehr mit den Nachwirkungen einer anderen Zeit. Die Erinnerungen an eine unaufgearbeitete deutsche Kindheit zwischen autoritärem Vater und duldender Mutter, die Albin während seiner Wahnreise immer wieder durchfiebern, schlängeln sich selbst für Liebhaber postmodernen Patchworks seltsam quer durch dieses glänzend geschriebene Werk, quasi wie ein verirrter Wollfaden durch einen Seidenschal. Aufklärung darf man aber in beiden Fällen nicht von einem Autor erwarten, der seinem Protagonisten eine postmoderne Bekenntnisformel in den Mund legt. Als die Gruppe den fiktiven Stadtteil Düsunülen Yer besucht, beschleicht Albin das irritierende Gefühl: "Alle Straßen scheinen um ein Zentrum zu kreisen, doch das Zentrum bleibt verborgen."
Die seltsame Mittellosigkeit ist nicht nur Albin aufgestoßen. "Ich hätte gern mit jemandem über den Bauplan von Düsünülen Yer geredet, über die Mischung aus geordneten und chaotischen Strukturen, in denen es mir nicht gelungen war zu orientieren. Ich überlegte mir, ob es möglich wäre, ähnliche Kompositionen für Bilder zu entwickeln: Formen, in denen sich Komposition und Improvisation die Waage hielten" lässt Peters auch Olaf nach der Rückkehr aus dem Istanbuler Quartier aufzeichnen. In dem Satz muss man eine programmatische Selbstbeschreibung des Autors lesen. Man kann daran zweifeln, ob ein solches Prinzip überhaupt möglich ist. Kann man sich Improvisation vornehmen? Ist das Nichts der Pause, das der Musiker John Cage zum Ton erklärt hat, wirklich ein Nichts oder nicht auch ein Kunstprodukt? Egal. In Christoph Peters Roman offenbart sich ein singulärer Wille zur raffinierten Konstruktion, derweit über den seiner KollegInnen der jüngeren deutschen Gegenwartsliteratur ragt - ein weiteres Beispiel für viel versprechende Wege aus der Sackgasse allzu naiven Erzählens. Der ambitionierte Schreiber könnte ihn womöglich noch erfolgreicher beschreiten, wenn er nicht zu viel auf einmal wollte. "Schwer mit den Schätzen des Orients beladen, ziehet ein Schiff am Horizont dahin". Das Lied, mit dem Rekruten der deutschen Bundeswehr noch bis vor kurzem lernten, im Gleichschritt ins simulierte Gefecht zu ziehen, ließe sich auf Christoph Peters münzen. Schwer mit den Schätzen der Postmoderne beladen ziehet er am Horizont von Istanbul dahin. Sein Tuch aus Nacht ist von allem durchwirkt, was sie zu bieten hat: manchmal etwas zu aufgesetztes Kunstprodukt der Zeichen, unterschwellig läuft eine (auch nicht mehr ganz taufrische) Reflexion über die Neurophysiologie mit, von fern winkt Hegel mit der These vom Ende der Kunst und am Rand klopft der klassische Entwicklungsroman an die Türen des Fiktionsreichs der Postmoderne. Doch auch ihr Teppich ist nicht grenzenlos.
Christoph Peters: Ein Tuch aus Nacht. Roman. Goldmann/Random House 2003, 318 S., 21,90 EUR
'; $jahr = '2004
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