Gibt es ein wahres Leben im falschen? Eine bleischwere Frage lag über dem Land. Aber ganz so grundsätzlich, wie sie in den Jubiläums-Essays breitgetreten wurde, wurde sie dann doch wieder nicht gestellt, als - Zufall oder Notwendigkeit? - ausgerechnet im Adorno-Jahr das totgesagte falsche plötzlich zu neuem Leben erwachte. Die Ostalgiewelle, die über das notdürftig vereinte Land spült, ist ein später Reflex; halb Widerstand, halb Reue. Den wiedergetauften Zonenkindern dämmerte die Frage, ob sie sich in dem gelobten Land, in das sie geistig längst vor dem Mauerfall geflohen waren, womöglich nicht doch in ein ganz falsches Leben gestürzt hatten. Und so massiv, wie der DDR-Alltag plötzlich in den Medien von denselben Leuten besungen wurde, die dort vorher immer nur einen einzigen Grauschleier gesichtet hatten, sollte wohl die Verdammnis kompensiert werden, mit der er vorher geächtet worden war. Aber natürlich quälte einen bei diesen bunten DDR-Shows immer auch die Frage, ob das denn wirklich alles so fröhlich war in der Zone, wie es jetzt plötzlich über den Bildschirm flimmern darf?
Dem Vorbild ganz so unähnlich scheinen die medialen Rekonstruktionen, mit denen man derzeit malträtiert wird, nicht gewesen zu sein. Wie gut, dass Christa Wolf den Aufruf der Moskauer Zeitung Iswestija an die Schriftsteller der Welt vom 27. September 1960 befolgt hat, einen Tag im Leben zu beschreiben. Denn wer auf der Suche nach authentischen Zeugnissen einer abgewickelten Zeit das schließlich auf 41 Septembertage von 1960 bis 2000 angewachsene Arbeitsjournal Ein Tag im Jahr zur Hand nimmt, trifft im Jahre 1979 ein Ensemble, wie es Frank Castorfs Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz kaum besser auf die Bühne gebracht hätte: "Tische mit glänzenden Sprelakartplatten in Hufeisenform aufgestellt, giftgrüne Platzdeckchen, die keine Funktion haben, über sie verteilt, an der Wand ein strahlender jugendlicher Honecker vor himmelblauem Bildhintergrund". An diesem 27. September liest Wolf in einer Schule im mecklenburgischen Crivitz.
Ostalgie, das kann man diesen Alltagsprotokollen entnehmen, ist ihre Sache aber nicht. Nicht so sehr, weil sie dem Warenparadies DDR, das gerade mit Tränen in den Augen wieder entdeckt wird, die Erfahrung des Mangels entgegenhielte. Im Gegenteil: Diese Frau ist mehr als einmal im Kaufrausch. Alle Nase lang flitzt die vielbeschäftigte Autorin "schnell noch mal in die Kaufhalle", später in den Supermarkt, um frische Milch oder eine Bluse für die Kinder zu erstehen. Die jüngst wieder zu Beliebtheit gekommenen DDR-Markennamen wie das berüchtigte Nudossi spielen aber gar keine Rolle. Nein: Mit einem Grundton psychischer Bedrückung liefert Wolf vielmehr ein denkwürdiges Gegenbild zur keimfreien Gute-Laune-DDR der Medien. Schon am Montag, den 27. September 1993 notiert sie: "ich verwahre mich ... gegen jede Erscheinungsform von DDR-Nostalgie". Wer nach einem Gegengift dazu sucht, lese dieses Buch!
Ironischer Slapstick à la Goodbye Lenin oder Sonnenallee war nämlich auch die Lesung in Crivitz nicht. Eher markiert sie eine sehr ernste Schlüsselszene. Denn nach der Lesung in der Schule des Orts kommt es zu einer privaten Diskussion, die den Entschluss der Autorin verständlicher macht, ihrem Heimatstaat nicht den Rücken zu kehren. Auf der einen Seite war es dieses "unvergleichliche Publikum", das so genau fragte und wirklich an einem Dialog interessiert war. Diese Menschen glaubte sie nicht im Stich lassen zu dürfen. Gleichzeitig bemerkt sie in dem Raum, "eine deutliche Spannung zwischen der Tendenz, sich an konservativen Normen festzuhalten und einem Drang nach Neuem." Hier meinte sie etwas zu spüren, worauf sie nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Schon 1965, im Jahr des berüchtigten 11. Plenums der SED, auf dem die Partei auf breiter Front gegen die Künstler im Land vorging und sich auch Wolf nach einem kritischen Auftritt ideologischer Vorwürfe erwehren musste, der "Freiheit der Kunst" anzuhängen, hatte sie gefühlt: "Aber ein Vorhang hinter mir ist gefallen. Ein Zurück in das Land vor diesem Vorhang, ein harmloses Land, gibt es nicht mehr". 14 Jahre später deuten sich die verschlüsselten Vorboten einer Epochenwende an, die aber noch zehn Jahre braucht, um sich zu entfalten. Hat es sich also doch gelohnt, im falschen Leben auszuharren?
Schwer zu sagen. Denn die friedliche Revolution von 1989, in der die ernüchterte Sozialistin Christa Wolf noch einmal gesellschaftliche Energien entwickelt, nimmt eine Richtung, die ihr nicht gefallen konnte. Auch mit dem neuen Deutschland ist sie wenig einverstanden. Es stört sie, dass es "flott nach rechts" abdriftet und alles, was auch nur entfernt an DDR erinnert, in rasender Geschwindigkeit abwickelt. Die Aversionen gegen den immer schrilleren Alltag mit seinen unfreundlichen jungen Frauen und den Sexblättern kann man vielleicht noch mit den Idiosynkrasien eines anderen Lebensalters erklären. Trotz dieser Enttäuschungen über das Scheitern einer "besseren DDR" wird man Christa Wolf nach diesem Buch aber kaum weiter das abschätzige Etikett "Staatsdichterin" umhängen können. Dazu hatte sie sich vom Institut "Staat" längst zu weit entfernt.
Mit diesem Buch ist ein Vorhang gefallen vor dem politischen Seelenhaushalt einer Autorin, dessen Umrisse man immer erahnte aber hier nun explizit studieren kann. Wolfs Verhältnis zu dem System, das die sozialistische Utopie noch am ehesten zu garantieren schien, bleibt zwar merkwürdig zwiespältig. Noch im ernüchternden Jahr 1965 schreibt sie auch von der Hoffnung, "dass das hier erhalten bleibt". Aber spätestens nach der aussichtslosen Ernüchterung im Prager Frühling 1968 hätte sie deutlichere Konsequenzen ziehen können als den langsamen Rückzug aus allen öffentlichen Institutionen. Wenn es einen plausiblen Urgrund gab, das über die Jahre immer absurdere Sozialismus-Theater (1980: "Alles ist Schwindel") mitzumachen, dann war es das, was ihr der aus dem Westen übergesiedelte Schauspieler Friedel Schlotterbeck bei einem privaten Abendessen am Abend des 27. September 1962 in Groß-Glienicke sagte. Als die beiden Ehepaare da zusammen sitzen und überlegen, ob es nicht vielleicht doch besser wäre, den ganzen Krempel hinzuschmeißen, entgegnet Schlotterbeck, dass dann diese ganze Nazi-Scheiße doch gesiegt hätte. Der Sozialismus war die verpflichtende Antwort auf den nationalsozialistischen Sündenfall.
Doch wie lange braucht ein Mensch, um aus der Deformierung seines Ideals die Konsequenzen zu ziehen? Auch wenn Wolf sich dazu nicht aufraffen kann - Ein Tag im Jahr ist das Dokument einer jahrzehntelangen Desillusionierung, die sich immer mehr von den staatlichen Institutionen entfernt und schließlich in eine grundlegende Zivilisationsskepsis mündet. Auf der einen Seite fragt sie sich immer wieder pflichtbewusst: "Habe ich zu früh aufgegeben?" Auf der anderen Seite spürt sie die wiederkehrende Unlust, nach Westreisen in ihr Land zurückzukehren. Wenn sie sich in diesem Zwiespalt immer wieder selbst mit der Frage quält, ob sie nicht doch weggehen soll, möchte man ihr mehr als einmal zurufen: Nun geh doch endlich! Aber bei ihren gelegentlichen Besuchen im Westen merkt sie: "Auch dies ist halt nicht meine Welt". Im Land des Konsumrauschs und der Lieblosigkeit wäre sie dem Ideal von Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit auch nicht näher gekommen. Von heute aus gesehen nehmen sich Christa Wolfs Beobachtungen und Selbstbeobachtungen plötzlich wie das bemerkenswerte Beispiel für das Einüben einer sehr zeitgenössischen Tugend aus: "Ohne Alternative leben".
Natürlich sind diese Notate vieles mehr. Alle Christa-Wolf-Fans, Germanisten und DDR-Forscher wird diese biographische, poetologische und sozialgeschichtliche Fundgrube noch Jahre in Atem halten. Für Alltagsforscher sind die Protokolle ein Beispiel für die Verfestigung von Weltbewusstsein am Küchentisch, wo das Ehepaar Nachrichten hört und Zeitung liest. Zwischen Mortadella und Endzeitgefühl schrumpft eine überlebensgroße Ikone auf den Mitmenschen in Augenhöhe. Man registriert nicht nur erleichtert, dass Christa Wolf auch nicht gerne Fenster putzt. Hier entsteht eine Perspektive von unten, quer zur Großgeschichte. Und ähnlich wie bei Rainald Goetz´ ein Jahr umfassendem Alltagsprotokoll Abfall für alle(1999) erzielt Wolf mit ihrem Zeitschnitt durch 40 Jahre den egalisierenden Effekt, dass vom Gipfeltreffen bis zum Kindergeburtstag alles gleiche Wertigkeit erhält. Eine Art literarischer Sozialismus unter dem Motto: Alltag für alle!
In diesem Alltag lässt sich dennoch ein exemplarischer Weg nachverfolgen: Die Spanne des Lebens von der Autorin in der Produktion bei den Waggonbauern von Halle bis zur Rentnerin, die vom Fenster ihrer Pankower Wohnung versonnen auf die Geranien schaut, ist ein Krebsgang. Ein, sagen wir zurückhaltend, moderner Mensch, blickt in diesem Protokoll mitunter in eine Furcht erregende Beschaulichkeit, wenn er Gerd und Christa Wolf bei dem abendlichem TV-Konsum, bei Sauerampfersuppe, Pilzsuche und Pflaumenkuchenbacken über die Schulter schaut. Ein Hauch von alternativer Ökologie auf Gesundheitssandalen weht durch das Buch. Die Liebe am einfachen Leben, am liebsten in der Natur, beginnt das Leben in kulturellen Bezügen zu ersetzen: "Ich merke, dass der Kulturbetrieb mich überhaupt nichts mehr angeht" schreibt sie 1996. Dieser zunehmende Hang zur Introspektion, der Rückzug vom sozialen auf den biologischen Körper steigert sich mitunter bis zur Esoterik, wenn die immer wieder gelähmte, schmerz- und angstgepeinigte Wolf auf der Badematte durch Bewegungstraining ein "warmes Strömen", ein "Gefühl des Befreundetseins und Einverständnisses mit mir selbst" zu erzeugen glaubt.
Trotz sanfter Esoterik und einer etwas altbackenen Scham ist dieses Buch ein Beleg für jene individuelle Tugend, die Christa Wolf zunehmend an die Stelle der kollektiven Tugend setzte: Die "Aufrichtigkeit im Schreiben". "Was ist das - Dieses Zu-sich-selber-Kommen des Menschen?" Dieses Becher-Zitat hatte sie 1968 Nachdenken über Christa T vorangestellt, dem Buch, das ihre Wendung zur "subjektiven Authentizität" markiert. In Ein Tag im Jahr kann man diesen Prozess der Selbstfindung bei dessen Autorin nachlesen. Ihr Leben zwischen "Zwiespalt und Pflicht" bietet eine ähnlich negative Dialektik, wie sie Heiner Müller in Krieg ohne Schlacht gefasst hat. Wolfs mutiges Dokument einer künstlerischen Existenz im Zeitalter der Extreme ist eines der interessantesten Selbstbeschreibungen politischen Bewusstseins, das seit 1989 in Deutschland geschrieben wurde. Anhänger der bürgerlichen Kultur werden diesen Rückzug von der eingreifenden Ästhetik auf die individuelle Moral befriedigt verbuchen. Doch Wolfs Staats- und Machtskepsis, ihr Horror vor dem "Monster" Industriegesellschaft könnte dem Land von "Einigkeit und Recht und Freiheit", das nur noch Mainstream duldet, aber kaum mehr Abweichler von den neuen Staatsreligionen, noch im Magen liegen.
Aushalten im Falschen. Das Joch von unabgegoltener Schuld und uneingelöstem Ideal tragen: "trauernd, entsagend". Nichts wäre falscher, als dieses Buch als Epos des masochistischen Duldens und eines Lebens im "Tarngang" künftigen Generationen ans Herz zu legen - ein Ausdruck, mit dem Wolf 1990 nach einem Gespräch mit dem todgeweihten Max Frisch den merkwürdigen Doppelcharakter ihres und des Lebens vieler ihrer Landsleute resümiert. "Alles ist verkehrt" notiert sie, wieder einmal bodenlos enttäuscht über die gesellschaftlichen Verhältnisse, in ihrem herbstlichen Tagesbericht. Und vielleicht hat sie, die ewig Zögernde, auch nicht immer alles rechtzeitig richtig gemacht. War deshalb alles falsch? Man konnte in der DDR vielleicht nicht immer die Wahrheit sagen, wie ihr Max Frisch einmal vorhielt. Aber auch in dem Prinzip Zweifel lag eine Wahrheit.
Christa Wolf: Ein Tag im Jahr. Luchterhand, München 2003, 655 S. mit 20 Collagen von Martin Hoffmann, 25,- EUR
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