Als in Deutschland nach 1989 die Aufforderung grassierte, man solle sich seine Biografien erzählen, hatte keiner an Wolfgang Hilbig gedacht. Die Formel hatte immer einen therapeutisch-bemühten Beiklang. Sie nährte die Hoffnung, man könne sich über den Umweg subjektiver Geschichten einander annähern und verstehen lernen, wo man mit objektiven Maßstäben nicht übereinzukommen schien. Myriaden von biographischen Erzählstunden haben dieses Verständnis kaum wachsen lassen. Lieber hält man sich inzwischen die Ohren zu. Und nach der Geschichte, die Wolfgang Hilbig in seinem neuen Buch erzählt, kann man die Hoffnung wahrscheinlich noch ein Stück mehr begraben. Denn sein Roman Das Provisorium ist so rabenschwarz subjektiv, ist ein
Die Anrufung des toten Gottes
NEGATIVE IDENTITÄT In seinem neuen Roman "Das Provisorium" klopft Wolfgang Hilbig noch einmal mit kalter Wut die Unvereinbarkeiten von Ost und West fest
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tiv, ist ein so gallebitteres Stück Lebensgeschichte, dass man ihn kaum konsumieren kann. Hilbig erzählt nicht nur einfach noch eine Geschichte. Er fragt nach der Essenz dessen, was verhandelt und ver glichen werden soll.Vielleicht ist Hilbigs Buch deshalb so radikal realistisch. Nahe an der eigenen Biographie erzählt der 1941 im sächsischen Meuselwitz geborene Schriftsteller eine Episode aus dem Leben des Schriftstellers C., der Mitte der 80er Jahre ein Ausreisevisum aus der DDR für die Bundesrepublik erhielt. Damit setzt Hilbig die Entfremdung zwischen Ost und West weit vor 1989 an. C. lebt in Hanau und Nürnberg, wo er nach einer Lesung Hedda kennenlernt. Er liebt sie, sie liebt ihn, doch er liebt auch seine Freundin Mona, die in Leipzig auf ihn wartet. Und er kann nicht schreiben, sondern nur noch trinken. Wenn sich C. mit jeder Menge "Neid auf die Glücklichen und Lebenstüchtigen", die alles haben und er nichts, durch den Westen bewegt und über sein verpfuschtes Leben in der DDR klagt, wo er in einem Provinzkaff sitzengeblieben ist, könnte man meinen, den typischen Jammerossi vor sich zu haben. Doch vom nörgelnden Zoni unterscheiden C. die schonungslose Selbstentblößung und die Umrisse einer existentiellen Obdachlosigkeit, die über den üblichen Systemfrust Ost-West hinausgehen. Die sprachliche Kraft, die Wut und die Genauigkeit, mit der Hilbig seinen negativen Helden die eigene Abwärtsspirale beobachten und berichten lässt, machen diese Prosa einer Heimsuchung so einzigartig.Denn das Vakuum, die Kinderangst und das panische Gefühl von Bindungsunfähigkeit, die C. immer wieder überfallen, rühren von tiefer her als nur aus dem temporären Systemwechsel, bei dem in der "Inflation von Anhaltspunkten" im Westen die Orientierung schwindet. Seit seiner Kindheit, so resümiert C, trug er eine geistige Mauer vor sich her. Die Ausreise des Mannes mit dem Widerwillen gegen das von Staat und Gesellschaft "vorgebackene" Leben ist die Flucht in ein Provisorium, in dem er jeder Festlegung aus dem Weg gehen kann. Ohne Ziel, oft von einem Tag auf den anderen, fährt er zwischen den beiden Staaten hin und her. Wie ein streunender Hund durchquert er die Republiken, immer nur eine Tasche bei sich, in der er unerkannt Alkohol transportieren kann. Das einzige, was ihn hält, sind die Bahnhöfe. Wieder und wieder kehrt er in jeder Stadt zu diesen zwischenstabilen Passageorten zurück, trinkt stundenlang an den kleinen Kiosken.Der Weg aus dem System, dem er keine Zukunft mehr gibt, in das Land, wo er wieder zum schwerelosen Schreiben der Anfangszeit finden will, gleicht einem Abstieg in die Unterwelt. Meist liegt C. mit einer Flasche Schnaps in abgedunkelten Hotelzimmern und fürchtet sich vor öffentlichen Lesungen. Geschichte nimmt er kaum wahr. Die Ereignisse um 1989 bleiben ihm fern. So besessen, wie er Bücher kauft, sucht C. nach der Frau. Doch wenn er sie, wie Hedda, findet, muss er sie schnell verlassen. Am Ende flüchtet sich der von Impotenz und nachlassendem Begehren Getriebene immer häufiger vor den klaffenden Spalt, der sich hinter der Glasscheibe einer Peep-Show im Sekundentakt öffnet. Auf dem Antwerpener Bahnhof erscheint ihm der liebe Gott einmal als lasziv lockende Frau. Als er im westdeutschen Sanatorium Haar eine Entziehungskur macht, weiss er, dass er nach der kräftezehrenden Ausnüchterung doch wieder zu dem Hund werden wird, der den toten Gott anheult.Leben wird in diesem Roman gegen Geschichte abgerechnet, Leiblichkeit ist eine historische Kategorie. Dieser Höllengesang schwitzt aus allen Poren: Alkohol, Kohlenstaub, kalter Schweiss, qualmende Kippen, sein klammes, verklebtes Genital. Wo er sich eben noch mit der Geste eines David Bowie wähnte, sieht C. in einer Schaufensterscheibe plötzlich sein ergrauendes Haar und ein aufgedunsenes Gesicht wie schimmelndes Mauerwerk. Nur gelegentlich transzendieren die Wahnvorstellungen und Gesichter, die dem Säufer erscheinen, ins fiktive. Sein aus zahlreichen Rückblenden festverfugter Realismus ist die Waffe gegen ein System, das ihn zu Verstellung zwang, in dem er nur in einem "Verhau von Lügen" überleben konnte, gegen das "Jahrhundert der Lüge". Und Hilbigs Roman ist eine rhetorische Übung, eine Mischung aus Expression und Distanz. Die Drastik und die kalte Wut, in der C. sein Schicksal in der dritten Person beschreibt, soll dessen Vergessen übertönen, das ihm bereits vor Augen steht. Wie ein erratischer Block werden dieses singuläre Schicksal und die Unvereinbarkeit der Mentalitäten noch einmal in die Landschaft gestellt, über die die Zeit hinweggeht - unangreifbar gegen jede Relativierung.Wie es sich für ein Leben in der Übergangszone gehört, steht Hilbigs Buch eigensinnig dazwischen - zwischen Ostalgie und Westeuphorie. Die DDR bleibt für ihn ein Unterdrückungsstaat, eine von Schwachsinn triefende "Mistgrube" und selbstisolationistische "Kuhblöke". Nie wird er ihr verzeihen, dass sie ihm seine Lebenszeit gestohlen hat. Dass sie ihn nicht Schriftsteller hat werden lassen wollen. Dass sie ihn zu der Unterwerfung genötigt hat, sich in die Strafgefangenschaft der Arbeit zu begeben. Zu der "kritischen Solidarität", die seine Schriftstellerkollegen im Westen diesem Land entgegenbringen konnten, hat er sich nie durchringen können. Natürlich bezieht Hilbigs Roman seine Kraft aus einem antipodischen Prinzip, davon, wie er zwei Extreme gegenüberstellt. Trotzdem stört C.s halbierte Wahrnehmung. Der Osten ist nur trostlose Idylle. Doch wo er seiner sächsischen Heimat wenigstens noch eine verzweifelte Sympathie abgewinnen kann: den Weg über die Dörfer zurück in die Kleinstadt der Mutter, die verschwitzten Menschen morgens in der Straßenbahn in Leipzig, den Graugußstaub der Heizfabrik, in der er arbeiten muss, bleibt der Westen nur eine uniforme Oberfläche von "Shopping und Fun" und Schicklgrubers Autobahnen. "Widerstandslos" zappeln die Menschen im Banne der bunten Bilder in einem "Ozean von Dummheit". An solchen hermetischen Klischees läuft sich der drangvolle Gestus dieser obszönen Klage leer.Noch problematischer, dass es bei Hilbig umstandslos von Diktatur zu Diktatur geht - von der des Proletariats zu der des Konsums. Am Ende des Buches fallen die neun magischen Strahlen, die die Sonne schon am Beginn des Romans durch das gläserne Kuppeldach am Hinterausgang der Kathedrale des strahlenden Schmutzes, des Leipziger Hauptbahnhofs wirft, auf die neuen Insignien der "Diktatur des Schachers". Auf dem Glasdach strahlen jetzt die drei Buchstaben AEG. Hilbigs C. ist der Heimatlose des 20. Jahrhunderts, eine von allem metaphysischem Ballast befreite oder soll man sagen beraubte? Figur. Neben dem Alkohol die einzig konstante Größe in seinem Provisorium sind zwei Buchkartons, die "das einzig wirklich notwendige Wissen des 20.Jahrhunderts" enthalten - Literatur zu "Holocaust". Doch das ewig unaufgearbeitete Vermächtnis des 20. Jahrhunderts - in einer alkoholgeschwängerten Nacht schabt er sich mit einem der Bücher das Erbrochene vom Hemd. - erfüllt C. nicht, wenn er die numerierten Markenartikel, in denen sich die gebräunten Konsum idioten in den Fußgängerzonen in Frankfurt, Nürnberg und München tummeln, zu Häftlingsnummern eines Wohlstandsgulags stilisiert.Hilbigs Roman ist eine aggressive Absage an die Literatur des Literaturbetriebs und seine Literaturkritik. Auch wenn er dem verhassten Betrieb zuviel Zustimmungsbereitschaft unterstellt und den Dichter als Einsamen, Unruhigen und Freien mit einer Aura romantischer Verzweiflung umgibt, die schwer kompatibel ist mit einer Zeit, wo Literatur ein Kommunikationsangebot unter vielen ist. Wo heute Literatur und Partytalk ununterscheidbar werden, ruft Hilbig noch einmal ihre Herkunft aus Schmerz, Mangel und Arbeit auf. C. hat das Schreiben im "Gewimmel der Produktivkräfte" gelernt. In vergilbten Schülerschreibheften auf einem kleinen Tisch mit einer Wachstuchdecke neben dem Heizkessel, den dieser Hephaistos des Sozialismus befeuern musste. "Es ist vorbei" - der Satz vom Anfang des Buches durchzieht das Buch wie ein roter Faden. Ein Roman, festgefügt wie ein Stahlguss, von antiker Einfachheit. Es ist der Gesang des Verlierers, der Schmutz gegen aufgetünchten Glanz, Selbstzweifel gegen aufgesetzte Selbstgewissheit, Scheitern gegen Gelingen setzt.Natürlich möchte man C. schon mal zurufen, dass nicht nur bei ihm im Leben nicht alles nach Wunsch lief. Aber sagen Sie mal einer allegorischen Leidensfigur, dass es andere auch schwer hatten. Als Tantalos bezeichnet sich C. einmal. Dieser Sohn des Zeus und der Pluto, der Tochter des Kronos, wurde in den Hades verbannt, weil er Geheimnisse der Götter verraten hatte. Von dem Wasser in dem See, in dem er steht und das ihm plötzlich wegtrocknet, wenn er sich nach ihm beugt, um seinen Durst zu stillen, hat C. genug. Doch vom Glauben über die Sexualität bis zur Literatur erleidet er prototypisch das Schicksal der verwehrten Erfüllung.Hilbigs Roman ist ein grandioses Beispiel für die Ichfindungs-Experimente, die das 20. Jahrhundert durchziehen. Identität gibt es bei ihm nur negativ, in dem Versuch, der Leere und dem Nichts zu entkommen. Identität ist diese Suche. Hilbig hat die Erbitterung seines alter ego zwar in ein hoffnungsloses Extrem getrieben. Sie sagt aber doch etwas über die Grenzen dessen aus, was überhaupt besprochen oder aufgearbeitet werden kann. Aber er hat gezeigt, wie rückhaltlos und ohne Selbstbeschönigung man erzählen kann.Hilbig hat die Hölle der Leere beschrieben. In die "Halle des Schweigens" hat er Wörter geschaufelt. Die ernüchternde Bilanz eines Lebens, das seine Zeit verfehlte, staubig und grau vor den zu Illusionen gewordenen Hoffnungen steht, überwindet er durch Literatur. Ein Sieg. Ohne Gewinn. Denn das Versäumte hat er damit nicht rückgängig gemacht, eine Identität nicht gefunden.Wolfgang Hilbig: Das Provisorium. Roman. S.Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2000, 320 S., 39,80 DM
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