Unter dem Teppich kehrt Josef Haslinger am liebsten. Wenn es um die Dunkelräume und Schmutzecken der Demokratie geht, ist der österreichische Schriftsteller zur Stelle. In seinem letzten Roman Opernball von 1995, der Geschichte eines Anschlags auf das Wiener Gesellschaftsereignis, hat er den grellen Scheinwerfer einer Mediensatire auf die anonyme Gewalt gerichtet, die Medien und Politik in seinem Heimatland durchzieht. Auch in Punkto Meinungsfreude kommt Josef Haslinger gleich hinter dem moralischen Dauerbrenner Peter Schneider. Die Zahl seiner öffentlichen Interventionen ist Legion. Ende August diesen Jahres hat der Österreicher, der als Professor am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig lehrt, in einem Aufsatz für die Frankfurter Allgemeine Zeitung eine Ursache für den Rechtsextremismus in Deutschland gefunden. Er fand sie in der rituellen Selbstberuhigung, mit der die Deutschen, vor allem ihre Politiker, ihr weltoffenes Land loben und die Sehnsucht nach der homogenen Nation verleugnen, die für den Österreicher Haslinger immer noch das Betriebssystem unter der polyglotten Benutzeroberfläche ist.
Der geheimnisvolle Nazi, der in Haslingers neuestem Roman seit 32 Jahren im Keller eines Hauses auf Long Island sitzt, ist nicht nur sowieso kein echter, weil er erfunden ist, sondern vor allem ein Symbol. Längst ist nicht alles erinnert, gar »bewältigt«. Im Keller liegt immer noch eine nicht entsorgte Geschichtsleiche. Wie berechtigt die Grundaussage ist, die hinter Das Vaterspiel steckt, hat das Tauziehen um die Entschädigung der Zwangsarbeiter im nationalsozialistischen Terrorregime gezeigt. Ständig tauchten neue Fakten, Namen, Dokumente auf. Wo man alles einigermaßen bekannt wähnte, rückte ein unbeackertes Feld von systematischem Mord und Kollaboration erst richtig ins Bewusstsein. Doch der Mann im Keller symbolisiert nur die eine Seite des Gedächtnisverlustes, auf den Haslinger hinaus will, der Immunschwäche eines nur an der Oberfläche aufgeweckten Zeitbewusstseins. Die andere Seite zeigt Helmut Kramer, SPÖ-Verkehrsminister der Republik Österreich. Haslinger lässt einen aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden Sozialisten, dessen Vater im KZ Dachau saß, Karriere machen und schließlich über unsaubere Finanz affären stolpern.
Weil Haslinger nun das eine mit dem anderen unbedingt zusammenhängen lassen will, stolpert er mit seinem Roman in eine Glaubwürdigkeitslücke. Die besteht in einem Telefonanruf, den Ratz, der missratene Sohn des Ministers, aus heiterem Himmel von seiner alten Studienfreundin Mimi aus New York bekommt. Der hat er in Unitagen mal das Zimmer renoviert und eine verklemmte Liebesnacht geschenkt. Seitdem aber nie mehr gesehen. Er solle sofort kommen. Kann man sich eine glaubwürdigere Reaktion vorstellen, als dass dieser phlegmatische Versager, der seinem Vater auf der Tasche liegt, Tag und Nacht mit einem Joint vor dem PC liegt, nach Pornos und einer Idee sucht, sein »Vatervernichtungsspiel« für den Computer zu vermarkten, alles stehen und liegen lässt und nach New York fliegt? Nur auf das vage Ansinnen, einen Keller umzubauen? Und das selbst dann ohne Skrupel macht, als er erfährt, dass darin ein alter Nazi versteckt gehalten werden soll?
Während der Arbeiten im Keller findet Ratz die Akten einer Aussage des 1925 im litauischen Klaipeda geborenen Juden Jonas Shtrom vor der deutschen »Zentralstelle der Länder für die Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen« in Ludwigsburg. Akribisch schildert er, wie er als einziger seiner Familie das Ghetto im litauischen Kowno überlebte und in die USA fliehen konnte und dort zufällig den Mörder wiedererkennt, der seinen Vater kurz vor der Flucht getötet hat. Lucas, erfährt der wie vor den Kopf geschlagene Ratz, ist nicht Lucas, sondern Algis Munkaitis, der als litauischer Partisan mit den Nazis gegen die Russen kollaborierte und 1941 mehrere tausend Juden eigenhändig erschoss, als die Deutschen Litauen besetzten. Ausgerechnet Ratz, der letzte Spross des degenerierten Blinddarms der antifaschistischen sozialdemokratischen Bewegung, sieht sich mit dem Erbe der mörderischen Politik dieses Jahrhunderts konfrontiert. Doch bevor er irgendwelche Konsequenzen ziehen kann, muss er zurück. Seine Hoffnung auf Reichtum und Erfolg haben sich zwar erfüllt. Nach einer Zufallsbekanntschaft mit einem Internetunternehmer in einem Cafe in Manhattan wird sein Father Game from Vienna, the city of Sigmund Freud ein Kassenknüller. Aber sein Vater hat sich umgebracht. Die Realität hat den virtuellen Vatermörder eingeholt.
Geschichtsvergessenheit rächt sich, heißt die Botschaft dieses Romans, man kann der Geschichte nicht entgehen. Seine täuschend realistischen Fiktionen und seine öffentlichen Einwürfe machen den Schriftsteller und Intellektuellen Josef Haslinger zu einem Virtuosen der Zeitgenossenschaft. Er arbeitet mit eingängigen, alltagsnahen Bildern. Die Geschichte von Ratz' Vater, der seine erste Frau bei den sozialistischen Studenten während einer Antifa-Demonstration kennenlernt, erst in einer kleinen Gemeindewohnung in Wien-Meidling wohnt, sich schließlich eine weiße Designervilla baut und seine Frau wegen einer jungen Geliebten verlässt, ist eine veritable Milieustudie. Der reale Machtverlust der die Sozialisten in Österreich ereilte, während Haslinger noch an seinem Roman schrieb, wirkt wie die folgerichtige Verlängerung dieser erfundenen Lebensgeschichte.
Auch dass Ratz in der Neuen Welt, im Reich der blendenden Oberfläche auf die düstere Unterseite der Geschichte der Alten Wekt stößt und seinen Vaterkomplex vermarkten kann, ist als Motiv nicht ohne Reiz. Reizlos ist jedoch, dass man Haslingers geschichts päda gogische Motive sofort entschlüsseln kann. Zwar hält der thrillererprobte Schreiber den Leser mit Geheimnissen am Text: der mysteriöse Anruf, die direkt zu Beginn des Romans unvermittelt dazwischengeschalteten Protokolle Shtroms, das langsam erwachende Interesse an dieser schrecklich typischen Familie. Alles keine geringe Leistung, bleibt doch das Personal dieses hölzern erzählten Roman-Sandwichs bis auf den labilen Ratz so blass wie Schießbudenfiguren. Doch man ahnt früh, dass zwischen Ratz' und Shtroms Geschichte mehr als ein kriminalistischer Zusammenhang hergestellt werden soll.
Haslinger gelingt es mit seinem beiden Helden einigermaßen, abstrakte Geschichte so individuell darzustellen, dass man anfängt, ihre allgemeine Dimension zu begreifen. Doch dieser Vorteil ist schnell aufgezehrt. Denn bei ihm ärgert man sich über den abstrus konstruierten Umweg, mit der er seine zwei Geschichten verknüpft, die jede für sich einen eigenen Roman hätten abgeben können. Das Problem der litauischen Kollaboration mit den Nazis wird so zu einem Abfallprodukt der Ratz-Geschichte. Und die Nachbildung der Erinnerung eines (fiktiven) Holocaust-Überlebenden wird nicht deshalb ein Problem, weil sie das Undarstellbare ästhetisiert. Sondern sie gerät an die Grenze des Obszönen, weil sie für den historischen Nachhilfeunterricht instrumentalisiert wird. Doch die litauischen Juden wurden nicht ermordet, damit geschichtsbewusstlose Nachgeborene mit der Nase auf ihre Verantwortung gestoßen werden.
Der unfreiwillige Erfolg dieses aufgedunsenen Romans dürfte darin liegen, dass er die Hilflosigkeit vor dem Problem zeigt, wie man die Geschichtsvergessenheit einer ambivalenten, orientierungslosen Generation aufbrechen könnte. So grob gewirkt wie Haslingers Bindfäden der Geschichte sein in zweijähriger Arbeit mühsam recherchiertes Material zusammenzuhalten versuchen, läuft er zudem Gefahr, dass den Leser das Grauen, das daraus spricht, kalt lässt. Womit es dann eher unter dem Teppich gelandet wäre.
Josef Haslinger: Das Vaterspiel. Roman, S. Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2000, 576 S., 46.-DM
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